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Anna Veronika Wendland

Russophilie: Auch ein ukrainisches Projekt?

© Anna Veronika Wendland, 2000

Anmerkungen zu einer gescheiterten Option

Im Verlauf der ukrainischen Geschichte kamen, wie es Ivan Lysjak-Rudnyc'kyj in einem seiner historischen Essays einmal formuliert hat, drei große Existenzfragen zum Tragen: die Frage des Verhältnisses zu den Nachbarn im Süden, den turko-tatarischen Ethnien und zum Osmanischen Reich; zu jenen im Westen, den Polen; zum Moskauer Staat und dem Russischen Reich im Nordosten. Alle drei Faktoren haben die Geschichte und Genese der ukrainischen Nation nachhaltig geprägt. Zunächst war es die prekäre Lage an der Steppengrenze, die die Vorgänge auf dem Territorium der Ukraine seit der Spätantike beeinflußte. Das jahrhundertelange Wechselspiel von Konfrontation und Kooexistenz zwischen seßhaften und nomadischen Kulturen wirkte gleichermaßen als Risiko- wie als Chancen- und Ressourcen-Generator: Weder die Handelsmacht im mittelalterlichen Kiev, die zwischen Orient und Okzident vermittelte, noch Sič und Hetmanat als frühneuzeitliche ukrainische Herrschaftsbildungen wären ohne sie denkbar gewesen. Die ungeschützte Lage an der Steppengrenze führte zu ungeheuren Menschenverlusten - andererseits gehört die größte Katastrophe der mittelalterlichen Ostslaven, die mongolische Invasion des 13. Jahrhunderts, zu den wichtigen Voraussetzungen für die Ethnogenese der Ukrainer in der südwestlichen Rus'. Die quer durch die heutige Ukraine verlaufende turkotatarische "Front" im Nordschwarzmeerraum entfiel nach den erfolgreich geführten Türkenkriegen des Russischen Reiches im 18. Jahrhundert. Gleiches gilt für die polnische "Front" der ukrainischen Geschichte, die endgültig mit der Nachkriegsordnung zusammenbrach: Die Einschreibung ukrainischer Gebiete in den polnischen Herrschaftsbereich war über Jahrhunderte Ursache ungeheurer Unterdrückungen und blutiger Konfrontationen, sorgte aber auch für die Einbeziehung ukrainischer Akteure in die Welt okzidentaler Politik-, Kultur- und Wertesysteme. Erst diese sorgte in Verbindung mit dem ostslavisch-byzantinisch-orientalischen Erbe der Ukrainer für das Spezifikum der ukrainischen Kultur: Vitalität und Beharrungskraft wie Zerissenheit und Fragilität. Widersprüchliche Diagnosen sind die Folge: Während die einen die verblüffende Erfolgsgeschichte des ukrainischen Nationsbildungsprozesses trotz mehrfachen fast totalen Elitenverlustes betonen und die ukrainische Heterogenität als pluralistische Chance interpretieren, verweisen die anderen auf die Tatsache, daß das ukrainische Nationalbewußtsein bis heute minority faith geblieben ist ist und die ukrainische Kultur sich ohne gezielte Affirmative Action wohl nie von den Folgen von zwei Jahrhunderten Russifizierung erholen wird.

Womit wir die dritte "Front" der ukrainischen Geschichte, die russische, angesprochen haben. Nur sie ist auch heute noch "offen" und birgt Konfliktstoff. Die Frage ist allerdings: War die Front wirklich immer eine Front? Oder haben die russische und die ukrainische Geschichtserzählung das ambivalente und vielgestaltige russisch-ukrainische Verhältnis erst relativ spät zur Frontlage umdefiniert? Beide Seiten präsentieren eine Menge scheinbar felsenfester Gewißheiten. Die meisten Russen können sich auch im zehnten Jahr der ukrainischen Unabhängigkeit mit dieser offenbar nicht abfinden. Wohl kaum ein Diskurs, sieht man einmal vom antitschetschenischen ab, eint die zerrissene und desorientierte russische Gesellschaft so sehr wie der antiukrainische. Ob Neoliberaler oder Hurrapatriot, ob Oligarchie oder deklassierte Intelligencija: Beim Ukraine-bashing sind sie allemal dabei. Als jüngster Beleg mag ein Artikelchen des Kommersant-Vlast' dienen (Zamočeny v Ingule, K-V Nr. 32, 15. August 2000, 50-51), der die absolutistische Unifizierungs- und Nivellierungspolitik Katharinas II. im Schwarzmeerraum, die in der Liquidierung der Zaporoger Sič 1775 mündete, kurzerhand zu "eine[r] der ersten antiterroristischen Operationen in Rußland" umdefiniert - ein Beleg übrigens, daß der antiukrainische und der antitschetschenische Diskurs unter Umständen auch ineinander übergehen. Ob ukrainische Kosaken oder tschetschenische Kämpfer - beide macht der russische Staat durch die Jahrhunderte erfolgreich auf dem Abtritt kalt [zamočit v sortire].

Die ukrainisch-nationale Seite hingegen duldet kein moskowitisches Quentchen in der eigenen Erfolgsstory und ist bereit, dafür auch etliche Gegebenheiten der eigenen Historie zu ignorieren oder umzuinterpretieren. Dazu gehört die Tatsache, daß russische und ukrainische Kultur spätestens seit der Eingliederung eines großen Teils der ukrainischen Territorien ins Russische Reich in engstem Austausch standen und die jeweiligen Akteure dies in der Regel auch als großen Gewinn verstanden. Daß ukrainische Eliten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein wichtiges Personalreservoir für das sich modernisierende Rußland darstellten, ist ein Aspekt dieser Gegenseitigkeits-Geschichte, die eben nicht nur nach dem Schema "Russifizierung und Widerstand" zu lesen ist. Auch das Selbstverständnis der proto-nationalen ukrainischen Aktivisten im Russischen Reich ab dem Beginn des 19. Jh. illustriert die ukrainisch-russischen Ambivalenzen. Die Männer und Frauen, die mit Forschungen zur ukrainischen Geschichte, mit dem Sammeln des volkskulturellen Erbes und mit der Schaffung der ukrainischen Literatursprache den Grundstein für die spätere ukrainische Massenbewegung legten, verbanden Überzeugungen, die heutzutage oft leichtfertig als "lokalpatriotisch" abgewertet werden. In einem Zeitalter, in der vor allem dynastisch und transnational konzipierte Reichs-Ideen die Politik bestimmten und die Bauernmassen, 95 Prozent der ukrainischen Nation, sich vorwiegend als "tutejši", "Nicht-Städter", "Bauern", "Rusyny", "rus'ki" verstanden - sowie die wesentliche Voraussetzung für eine nationale Kommunikation, die Lese- und Schreibkundigkeit, nicht erfüllten - lag der Gedanke an einen ukrainischen Nationalstaat nach dem Vorbild Frankreichs so fern, daß ihn ernsthaft niemand aufbrachte. Das proto-ukrainische Selbstbewußtsein war vielmehr flexibel und integrierte die verschiedensten, oft sogar einander ausschließende Elemente, was unter Umständen widersprüchliche Koalitionen nach sich zog. Affirmation des sozialen Status Quo und Dynastietreue gingen vor allem in der ersten Generation der ukrainischen "Wiedergeburt" einher mit nostalgischer Rückbesinnung auf "alte Rechte und Freiheiten", die auf dem Territorium des Hetmanats ja noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bestanden hatten, was die Hetman-Ukraine innerhalb Rußlands zum privilegierten Territorium erhoben hatte. Das zuletzt genannte Element konnte Konfliktpotential bergen, ersteres lag vollkommen auf der Linie des Zarenstaates.

Daneben konnten im proto-ukrainischen Gedankengut romantisch-sozialrevolutionäre und liberale Vorstellungen eine Rolle spielen, die sich wiederum mit antipolnischen und antikatholischen Ressentiments paarten. Die Orientierung auf soziale Frage und die Volkssprache als Medium der Bildungsrevolution auf dem Dorfe band die "Ukrainophilen" in den allgemeinen russischen Reformdiskurs um Volksbildung und Bauernbefreiung ein - der Antipolonismus war spätestens seit dem polnischen Aufstand von 1863 reaktionäre Staatslinie und, nebenbei gesagt, erstes Anzeichen einer "Nationalisierung" der russischen Innenpolitik. Daß der Antipolonismus auch an der Wiege des Antiukrainismus stand, wurde vielen antipolnischen Ukrainern erst klar, als die ukrainische Kulturbewegung schon zerschlagen und gelähmt war. Im Gegenteil ließen sich etliche Ukrainer (beispielsweise Pantelejmon Kuliš) zeitweise sogar für die antipolnische Politik des Zarenregimes bereitwillig einspannen - auch ein Kapitel ukrainischer Russophilie.

Grundsätzlich aber endete 1863 ein Zeitalter des russisch-ukrainischen Einverständnisses und der gegenseitigen Inspiration. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte eine romantisch-ukrainophile Grundstimmung unter den gebildeten Schichten Rußlands die Phantasie der ukrainischen Altertümer-Forscher beflügelt und eine Welle der Sympathie für das "russische Italien" ausgelöst. Die Ukraine galt damals als "echte" Rus', wo die Erinnerung an alte slavische Traditionen und kosakisches Rittertum angeblich noch unverfälscht erhalten war. Auf dieser Sympathiewelle feierte ein Ukrainer namens Gogol' seine ersten literarischen Erfolge. Nun aber fielen weiterreichende, moderne Konzeptionen einer ukrainischen Entwicklung innerhalb des Russischen Reiches, die eng mit dem russischen Reformdiskurs verkoppelt waren und auf das zweischneidige Schwert des Antipolonismus verzichteten, der staatlichen Repression zum Opfer. Wer die progressiven Elemente der proto-nationalen "Wiedergeburt" mit Forderungen nach sozialer Reform und föderaler Ordnung in Rußland kombinierte, wurde als Staatsfeind klassifiziert, der nicht nur die Vorstellung von der "iskonno russkaja zemlja" Ukraine, sondern auch die Grundfesten des Imperiums antastete: "Nemedlenno vyslat' iz kraja Dragomanova i Čubinskogo, kak neispravimych i položitel'no opasnych v krae agitatorov" (Ukaz von Ems 1876, Punkt 11). "Russophile" Konzepte - d.h. Konzepte, die in einer wie auch immer verfaßten politisch-kulturellen Einheit mit Rußland die Zukunftsoption der Ukraine erblickten - konnten unter den russischen Ukrainern seit dem letzten Drittel des 19. Jh. nicht mehr mit liberalen Inhalten gefüllt werden, sondern atmeten den Geist der Reaktion.

Auch in Galizien, das gemeinhin als Hochburg des antirussischen ukrainischen Nationalgedankens gilt und heute in der gesamten Ukraine und auch in Rußland als solche rezipiert wird, gab es lange Zeit eine russophile Option - so paradox dies erscheinen mag. Die historisch belegbare Existenz einer starken russophilen Bewegung in Galizien ist nach meinen Beobachtungen äußerst erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis der Galizier eliminiert worden. Anders ist nicht erklärbar, warum kaum ein heutiger Durchschnitts-Lemberger weiß, welche Funktion das heute als Offizierskasino benutzte (und bis in die 1920er Jahre von den Russophilen dominierte) Narodnyj Dim für die galizisch-ukrainische Gesellschaft hatte - während sicherlich jeder ungefähr weiß, was das Verdienst der "Prosvita" ausmachte. Daß die galizischen Russophilen hinsichtlich politischer und institutioneller Macht, Sozialprestige und Finanzkraft bis in die 1880er Jahre die Szene dominierten und daß auch kurz vor dem 1. Weltkrieg noch gut ein Drittel der ukrainischen Wähler in Ostgalizien für russophile Parteien stimmte, ist heute außerhalb von Spezialistenkreisen fast vergessen.

Was ist die Ursache dieser Gedächtnislücke? Diese Frage läßt sich relativ einfach beantworten. Die galizisch-ukrainische Geschichte ist vor allem als Erfolgsgeschichte der narodovci, also der schließlich siegreichen populistischen Ukrainophilen, geschrieben worden. Die moskvofily - fast nie rusofily - genannten Gegner gelten hingegen als russischerseits inspirierte, mit "Rubeln" finanzierte und solchermaßen künstlich am Leben gehaltene fünfte Kolonne "Moskaus" in den Mauern der heimlichen ukrainischen Hauptstadt Lemberg. Die Lesart russischer Interpreten ähnelt diesem Modell, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Aus dieser Perspektive gilt die Existenz einer russophilen Bewegung gerade in Galizien stets als Beweis für die Behauptung, daß die ukrainische Nationalidee von Österreichern, Deutschen und Polen zwecks Zerschlagung der ostslavischen Einheit konzipiert und alimentiert worden sei. Beide Sichtweisen sind polemisch und tragen wenig dazu bei, den Anteil russophiler Konzepte am Prozeß der ukrainischen Nationsbildung in Galizien zu veranschlagen.

Russophile Programme und Politik in Ostgalizien waren eine konservative ukrainische Antwort auf die politische und ökonomische Dominanz des polnischen Adels in Galizien. Sie waren - wenn man von den Radikalrussophilen absieht, die sich aber erst nach der Jahrhundertwende konstituierten - weniger von der maximalistischen Zielvorstellung eines Aufgehens der Ukrainer in der (groß-) russischen Nation bestimmt, sondern verbanden politischen Konservatismus, starke Bindung an kirchliche Strukturen, biloyalistische Konzepte (denenzufolge die Ukrainer in Österreich und Rußland ihren jeweiligen Dynastien treu dienen sollten) mit einer kulturellen Affinität zum russischen Nachbarn. Vor allem unter dem Eindruck des Scheiterns der ruthenischen Forderungen von 1848 und darauffolgender antiruthenischer Repressionen (Latinisierungsprojekt gegen die Kyrillica 1859, Repressionen gegen die Ritus-Reformbewegung Anfang der 1860er Jahre) fanden ursprünglich verfeindete Traditionsstränge der ruthenischen Bewegung zusammen: Gewendete proto-populistische Aktivisten der ruthenischen "Wiedergeburt" trafen auf konservative Kirchenfunktionäre; romantische Slavophilie und volksaufklärerischer Aktivismus verband sich mit klerikalem Konservatismus.

Russophilie kam lange Zeit allerdings eher als diffuse Rus'-ophilie daher, die die an den Wertesystemen der österreichisch-deutschen und polnischen Hochkultur geschulten ruthenischen Wortführer als Gegenentwurf zur polnischen Adelskultur verstanden. "Eliten" und "Kulturnation" sind die Schlüsselbegriffe dieser Konzeption - die sozialen Interessen der galizischen Bauern waren zunächst nur von untergeordneter Bedeutung. Leitbild war die Slavia orthodoxa, eine Rus'-Kulturnation, die sich auf das gemeinsame Erbe des Kiever Reiches berufen konnte. Die damals gebräuchliche Bezeichnung Galiziens als Halycka(ja) Rus‘ verwies damalige Akteure ganz selbstverständlich auf diesen größeren Zusammenhang. Eine Revozierung der glorreichen Zeiten Galiziens als Bestandteil des Kiever Reiches gehörte ebenso dazu wie der konservative Rückbezug auf das historische Erbe der ukrainischen Führungsschichten (Kirche, Fürsten, Adel) - hier leisteten russophile Historiker Pionierarbeit, auf die später auch die Populisten und vor allem die ukrainische "Staatsschule" wieder zurückgriffen. Erstmals wurden hier wieder die historischen Verbindungen Galiziens zu Gebieten betont, die schon seit Menschengedenken hinter der "russischen" Grenze lagen. Als Projektionsfläche für die "konservativen Utopien" (Andrzej Walicki) vieler Ruthenen fungierte ein idealisiertes Rußland, das vermeintlich nicht von den in Galizien seit Mitte des 19. Jahrhunderts spürbaren Modernisierungskrisen, frühkapitalistischen Verwerfungen und sozialen Konflikten heimgesucht wurde. Neben diesen ideologischen Bezugspunkten gab es ganz konkrete Erkennungszeichen. Die oft als überflüssig belächelten Sprach- und Orthographiediskussionen, die zwischen Russophilen und Populisten tobten, waren in Wirklichkeit hochcodierte Identitätsdiskurse, in denen die Russophilen für die Tradition, die Populisten für den Traditionsbruch standen. Die Etymologija der Russophilen enthielt Informationen über die Sprachgeschichte, unterstrich ostslavische Gemeinsamkeiten und stellte die Verbindung zur überlieferten Kirchen- und Barockliteratur her. Die Fonetyka der Populisten erleichterte den Schülern das Lernen und kappte nebenbei alle Beziehungen der ukrainischen zur russischen Orthographie, ein symbolischer Akt, über den sich die Erfinder durchaus im Klaren waren. Österreichischer Staat und polnisch-galizische Kronlandverwaltung gaben letzterer Option in den 1890er Jahren ihren Segen - eine der schwersten Niederlagen für die Russophilen, die so den Einfluß auf die Schule und die kommenden Generationen verloren.

Die Ursache ihrer Niederlage allerdings lag tiefer - nämlich in der Weigerung, die gesprochene Sprache der Ukrainer organisch zur Schrift- und Spezialistensprache weiterzuentwickeln. Stattdessen optierten sie für eine auf den Kirchentexten basierende Hochsprache der Gebildeten, später auch für die Übernahme des Russischen als "schon fertiger" Literatursprache für alle Ostslaven. Hier ähnelte die galizische Diskussion der Sprachkontroverse, die auch die Ukrainer im Russischen Reich lange führten: Natürlich wollten ukrainische Intellektuelle der großartigen Kulturwelt, die sich in der großrussischen Sprache ausdrückte, auch weiterhin angehören und zweifelten nicht daran, daß die Kenntnis dieser Sprache für den Diskurs der Gebildeten unerläßlich sei. Die Volkssprache sollte vor allem für Bildungszwecke eingesetzt werden - ihren Aufschwung zur vollwertigen Literatursprache verschob man, je nach Position, auf die nähere oder fernere Zukunft. Unter den Russophilen Galiziens endete diese Diskussion in einer uneindeutigen Sprachpolik zwischen synthetischer Literatursprache (jazyčie) und Russifizierung der eigenen Publikationen, was im Endeffekt zur Abwanderung vor allem der bäuerlichen Anhängerschaft führte.

Bei der Besetzung der Kompetenzfelder für Sprache und Schule erlitten die Russophilen eine Niederlage. Trotzdem leisteten sie mit Wahlagitation, Volksbildungs- und Selbsthilfearbeit, die in den 1870er Jahren anliefen, nicht anders als ihre populistischen Konkurrenten einen wichtigen Beitrag zur Politisierung und Massenmobilisierung der ukrainischen Bauern. Der von Ivan Naumovyč 1874 gegründete Volksbildungsverein Obščestvo imeny Mychayla Kačkovskoho und die seit 1870 bestehende politische Organisation Russkaja Rada waren hier von zentraler Bedeutung. Noch bevor sich die Populisten mit ihren entsprechenden Vereinigungen, der (schon 1868 gegründeten) Prosvita und der Narodna Rada etablieren konnten, bauten die Russophilen rund um diese Vereine bis in die Provinz reichende Strukturen auf, die die Kommunikation zwischen ruthenischer Elite und Landbevölkerung förderten und so eine wichtige Grundlage für die nationale Mobilisierung bereitstellten. Die Russkaja Rada war lange Zeit die einzige ruthenische Organisation, die den Transfer politisch-nationaler Diskurse auf das Dorf förderte, wobei vorwiegend Dorfpfarrer als "Vertrauensleute" für die Wahlagitation vor Ort fungierten. Auch beim Kampf gegen Wahlmanipulationen und als ruthenische Lobby in Schul-, Sprachen- und Kirchenpolitik spielte die Russkaja Rada eine bedeutende Rolle. Daneben prägten die Russophilen die spezifische galizisch-ukrainische politische Sprache und Festkultur nachhaltig: Ob liturgische Dramaturgie politischer Veranstaltungen, Sakralisierung der nationalen Programmatik durch die Einbeziehung von gottesdienstlichen Handlungen, Pathos der politischen Sprache, Hagiographie rund um verdiente Aktivisten und nationale Vorbilder – all diese Mobilisierungsmittel wurden erstmals von den Russophilen systematisch genutzt. Ein Blick auf die Biographie- und Karrieremuster von russophilen Aktivisten zeigt zudem, daß die Entwicklungsmuster der russophilen Bewegung denen des populistischen Lagers ähnelten (Einflußverlust des Klerus, Professionalisierung der Aktivisten). Viele bedeutende Russophile standen darüberhinaus durch persönliche Bindungen und sach-orientierte Kooperation in engem Austausch mit der populistischen Bewegung. Solche Erkenntnisse relativieren die Vorstellung eines "Kampfes um jedes Dorf" unter der Parole Für den Zaren oder für Ševčenko?, die oft im Nachhinein in die Geschichtsschreibung der ukrainischen Nationalbewegung Eingang fand. Auf der anderen Seite gelang es den Populisten gerade aufgrund dieser Nähe, große Teile der russophilen Klientel zu übernehmen. Dies geschah, sobald sich die Russophilen nicht nur durch schleichende Russifizierung ihrer Publikationen, sondern auch durch schwere Versäumnisse bei der Organisation von Wahlkampagnen und Genossenschaftsstrukturen selbst diskreditierten. Wer als ruthenischer Bauer beide Seiten als "die Unsrigen" rezipierte, der optierte schließlich für die durch die Populisten garantierte größere Professionalität - bei einem geringeren Risiko, Opfer staatlicher Repressionen zu werden.

Solche Repressionen wurden meist mit Verweis auf die Alimentation und Inspiration der russophilen Bewegung durch russische Regierungsstellen gerechtfertigt. Diese fiel, nüchtern betrachtet, jedoch eher mager aus: Sie beschränkte sich auf begrenzte Beihilfen für einige russophile Blätter und in Not geratene Aktivisten, die trotz einer Absichtserklärung zur Erteilung von "Subsidien" im antiukrainischen Ukaz von Ems (1876) erst in den 1880er Jahren in Gang kamen. Auch solche Unterstützung wurde unverzüglich eingestellt, wenn die Staatsraison dies erforderte (Sparpolitik, Pflege des Verhältnisses zu Österreich). Russophile Bauern-Emigranten aus Galizien wurden in den 1890er Jahren unter Anspruchnahme österreichischer Amtshilfe hinter der Grenze abgefangen und zurückgeschickt, da man griechisch-katholische galizische Ukrainer im eigenen Land allenfalls als Unruhefaktor ansah. Bis unmittelbar vor dem Krieg kam es, von einigen Ausnahmen abgesehen, nie zu einer offiziellen russisch-nationalen Galizienpolitik.

Auch die angeblich von Rußland aus gesteuerte "Agitation" unter galizischen Bauern, die die österreichischen Behörden am Vorabend des Krieges in Alarmstimmung versetzte, hatte weniger russische als galizische Quellen. Grundsätzlich haben sich russophile Äußerungen innerhalb der Bauernschaft nie an den Maßstäben der Elitendiskussionen um Sprache oder Literatur orientiert. Spätestens ab Mitte der 1860er Jahre sind in Ostgalizien Äußerungen bäuerlicher Unzufriedenheit nachweisbar, die mit rußlandfreundlichen Haltungen einhergingen - nicht zuletzt wohl eine Reaktion auf die antipolnische Politik des Russischen Reiches nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1863. Vor allem in der Nähe der russischen Grenze manifestierte sich sozialer Protest in Gerüchten von einem "besseren Leben" der ukrainischen Landsleute im benachbarten Rußland und diffusen Hoffnungen auf eine russische Invasion, die "Polen und Juden" aus ihren Positionen entfernen sollte. Die behördliche Reaktion auf solche Vorfälle war hart und führte schon in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu einer Welle von Spitzeleinsätzen, Arresten und Gerichtsverfahren.

Kurz vor Kriegsausbruch hatten "russische Excesse", wie es in den Akten genannt wurde, also Unruhen oder Übertrittsversuche zur Orthodoxie, in der Regel identische Ursachen und Verlaufsgeschichten, die weniger mit russischer Propaganda als vielmehr mit den gesellschaftlichen und lebensweltlichen Gegebenheiten vor Ort zu tun hatten. In fast allen Fällen lagen die betroffenen Dorfgesellschaften in peripheren Gebieten - längs der russischen Grenze oder in den Karpaten nahe der ungarischen Grenze -, wo spezifische Grenzland-Lebensweisen nachweisbar sind: Saisonweise Arbeitsmigration und Pilgerfahrt nach Rußland, grenzüberschreitender Schmuggel, Emigration nach Übersee; im Falle der lemkischen Karpatendörfer an der ungarischen Grenze auch gebirglerischer Traditionalismus und Indifferenz gegenüber der ukrainischen Nationalidee, die als städtisch und neumodisch abgelehnt wurde. Hier äußerte sich bäuerliche Unzufriedenheit über polnische Dominanz, Behördenschikanen, mißliebige ukrainophile Gemeindepfarrer oder zu hohe kirchliche Gebühren in russophilem Protest, der in der Regel erst in einer späten Phase von städtischen, der Intelligenz entstammenden Agitatoren und in einigen Fällen auch von in Rußland zu Geistlichen ausgebildeten Galiziern kanalisiert wurde. Solche Vorkommnisse führten in Galizien, das zum Frontland des kommenden Krieges aufgerüstet wurde, zu einer allgemeinen Russophilen-Hysterie, die auch von ukrainisch-nationalen Politikern nach Kräften geschürt wurde. Bei Kriegsausbruch kam es schließlich zur Hetzjagd gegen angebliche oder wirkliche Russophile, wobei bald die Ukrainer insgesamt als "p.u.-Nation" ("politisch unzuverlässig") ins Visier der Behörden gerieten. In den ersten Kriegstagen wurden hunderte angebliche oder tatsächliche Russophile als "Spione" ohne Prozeß hingerichtet oder vom Straßenmob totgeschlagen, tausende in Lager deportiert - ein übrigens kaum aufgearbeitetes dunkles Kapitel in der Geschichte der österreichisch-ukrainischen Beziehungen.

Welche Schlüsse lassen sich aus diesen historischen Befunden ziehen? Vieles spricht dafür, die Russophilie als wichtiges Element der ukrainischen Identitätskontroversen und als Faktor - wider Willen, könnte man sagen - der ukrainischen Nationsbildung ernstzunehmen, anstatt sie pauschal als Verräter-Ideologie zu stigmatisieren. Vor allem sollte man sie in den Rahmen der allgemein-ukrainischen Ideen- und Gesellschaftsgeschichte einordnen: In diesem Lichte besehen erscheint sie als einflußreiche Strömung des ukrainischen Konservatismus, als galizisches Gegenstück zum dynastietreuen und lokalpatriotischen Konservatismus der Malorossy in der russischen Ukraine. Es ist durchaus denkbar, daß die in letzter Zeit zu beobachtende Rückbesinnung auf konservative Schulen der ukrainischen Historiographie die Auseinandersetzung mit der Russophilie als Spielart des ukrainischen Konservatismus erleichtert. Dies wäre ein wichtiger Schritt zur Entpolemisierung der Diskussion um russophile Orientierungen. Anders läßt sich auch die heutige Gemengelage in der Ukraine nicht verstehen. Rußland ist in der ukrainischen Geschichte und Gegenwart präsent, heute oft als Auslöser von Irritationen und Konflikten. Auch die moderne ukrainische Russophilie trägt konservative Grundzüge, ist sie doch auf einen idealisierten sowjetischen Status quo ausgerichtet. Wer solche Auffassungen aus guten Gründen nicht teilt, sollte trotzdem einige Tatsachen der russisch-ukrainischen Geschichte zur Kenntnis nehmen: Der russisch-ukrainische Gegensatz ist kein genetischer, im Wesen der Russen und Ukrainer beschlossener. Die Entwicklung der Ukrainer zu dem, was sie sind, verlief nie geradlinig, so sehr uns dies die Produzenten eindeutiger, eindimensionaler und widerspruchsfreier "Geschichten" auch weismachen wollten. Russophilie war auch ein - zeitweise sehr erfolgreiches - ukrainisches Projekt und gehört somit zur ukrainischen Geschichte. Es scheiterte im Russischen Reich wie in Galizien an massiver staatlicher Einmischung in die Belange der Ukrainer - und an den hausgemachten Versäumnissen der Russophilen.

Ich bin Historikerin, und meine Antwort auf die Überlegungen der Herausgeber dieses Heftes gründet daher auf historischen Erkenntnissen und Erwägungen. Folgen wir der Frage, was die "Projekte" Rußlands, der Ukraine und der Belarus' beinhalten - so wäre zurückzufragen, ob nicht vielleicht gerade die Existenz starker russophiler Elemente in den verschiedenen ukrainischen Gesellschaften und Gesellschaftsentwürfen der Vergangenheit und Gegenwart auf die eingangs skizzierte Situation verweist. Der unverwechselbare Kern des "Projekts Ukraine" ist seine Vielgestaltigkeit und seine prekäre Lage im heutigen "wilden Feld" noch nicht ausdefinierter Interessen zwischen Ost und West. Ukrainische Geschichte war nie nur Geschichte der ukrainischen Patrioten, und das Projekt ukrainische (politische?) Nation wird im Erfolgsfalle vermutlich nicht auf die ukrainischsprachigen Ukrainer beschränkt bleiben. Zwei Grundvoraussetzungen müssen dafür erfüllt werden: Zum ersten ein selbstbewußter und von Minderwertigkeitskomplexen befreiter Rekurs auf die ukrainische Kultur, der es nicht mehr nötig hat, alles Nicht-Ukrainische als Verrat an der Ukraine zu rezipieren. Zum zweiten aber auch die konstruktive Auseinandersetzung mit dem nordöstlichen Nachbarn und eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit russophilen Positionen - leider auch mit antiukrainischen Positionen. Wer sich auf diese Aufgabe einläßt, handelt sich ohne Zweifel eine Menge Unsicherheiten und Zerreißproben ein - erhält aber dafür Chancen, die sich den russischen Nachbarn, den Erben eines traurigen Imperiums, nie bieten werden.