Redaktiongruppe:

Taras Woznjak (Herausgeber)
Myroslaw Marynowytsch
Andrij Pawlyschyn
Sofia Onufriw
Walter Mossmann
Ihor Balynskyj
Alla Tatarenko
Jurij Babik
Andrij Kyrtschyw
Taras Batenko
Anton Borkows'kyj
Jaryna Boren'ko

Unabhängige Kulturzeitschrift «Ï»
22-1 / 2001
10 JAHRE «PROJEKT UKRAINE»

Dieses Heft erschien in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung(Berlin)

INHALT
 
ukr (PDF 1,7 Mb)
  • Oksana Pakhlyows’ka  Die Ukraine und Europa im Jahre 2001: das Jahrzehnt der verpassten Gelegenheiten
  • Antonina Kolodij  Die Entstehung einer Zivilgesellschaft in der Ukraine
  • Annie Doubenton  Die Zivilgesellschaft in der Ukraine: auf der Wache der Demokratie (aus französischer Sicht)
  • Wiktor Wowk  Die Ukraine im Kontext der modernen Tendenzen und Szenarien der Weltentwicklung
  • Taras Batenko  Das Phänomen Politische Opposition – dem ukrainischen Präsidenten ein Rätsel
  • Jaryna Boren’ko  Misslungene Imitation oder: die europäische Makroidee im polnisch-ukrainischen Mikroraum
  • Oleh Turij  Traditionelle Kirchen in der unabhängigen Ukraine: das Problem der Identität
  • Wolodymyr Witkows’kyj  Die Ukraine im dritten Jahrtausend – in der «dritten Welt»?
  • Zbigniew Brzezinski  Die Allianz erweitern, Europa vergrößern
  • Arkadij Moshes  Das Slawische Dreieck: Die Ukraine und Weissrussland als Objekte russischen Außenpolitik der 90-er Jahre
  • Jaryna Boren’ko. Der «europäische Traum» und die ukrainische Stadt: ein zehn Jahre alter politischer Kitsch
  • Myroslaw Marynowytsch. Die Rolle der Kirche beim Aufbau einer postkommunistischen Gesellschaft in der Ukraine
  • Andrij Pantschyschyn  Gedichte.Ende der 80er Jahre
  • Izdryk  Der Auftrags-Essay oder: Die Dekade der Dekadenz
  • Taras Woznjak  Die gestohlene Ukraine. Die Bildung der ukrainischen politischen Nation
  • Myroslaw Popowytsch  Der ukrainische Weg in das vereinte Europa
  • Jurij Buzduhan  Tektonische Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft
  • Andrij Kyrtschiw  Der außenpolitische Bestandteil der ukrainischen nationalen Sicherheitpolitik
  • Kostjantyn Bondarenko  Machthaber oder: wer hat die Macht in der Ukraine? – (Die ukrainischen Oligarchen und eine Liste der Parteien, die von ihnen unterstützt werden)
  • Bohdan Osadtschuk  Die Krise der Macht und die Opposition in der Ukraine
  • Victoria Ljubaschenko  Der Protestantismus in der Ukraine: die Bildung der Stereotypen geht weiter
  • Mark Najdorf  Der Raum «U»
  • Anton Borkows’kyj  Ukraine: 10 Jahre des Mythos
  • Ein Interview mit Timothy Garton Ash  Jeder hat sein eigenes Europa
  • Joran Persson  Die Ukraine aus europäischer Sicht
  • Syergej Tschernyschow  Thesen zur Zivilgesellschaft
  • Kateryna Botanova  Ukrainische Kulturdiplomatie: Hinter den Gesichtern keine Gesichter
  • Andrij Okara  «Hilfsmission». Die ukrainische Diaspora als systembildender Faktor der russischen Staatlichkeit
  • Petro Husak  Ethik und Politik: Gegensatz oder Gleichklang?
  • Igor Klekh  Schwester Ukraine, Andenken oder Vokabulator
  • Wjatscheslaw Glasytschew  Die Uhr blieb stehen in Konotop
  • Kost’ Bondarenko  Das Projekt Ukraine
  • Roman Matsiuk  Phantasmagorie einer zehnjährigen Hektik
  • Andrij Okara  Zum Schutz der russischen Sprache
  • Wolodymyr Tsybul’ko  Reflexionen zum Jubiläum und nicht nur dazu
  • Jaroslaw Neweljuk  Meditationen
  • Oleksandr Noha  Kunst in der Ukraine 1992-2001: die Epoche der Freiheitsabhängigkeit

Taras Woznjak: Vorwort zu Journal 22 «10 JAHRE PROJEKT UKRAINE»

Zehn Jahre sind seit der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung vergangen. Dennoch beschleicht uns ein Gefühl von Beunruhigung, das manchmal an Verzweiflung grenzt. Handelt es sich tatsächlich um eine Unabhängigkeit? Wenn ja, werden wir sie wieder verlieren, oder ist es vielleicht schon passiert? Und überhaupt, ist das wirklich unsere «Ukraina», dieser langersehnte Traum? Denn die in der Ukraine aufgebaute Gesellschaft sieht nicht aus wie ein Reich der Gerechtigkeit, wo jeder seinen Platz gefunden hat, von dem er geschwärmt und auf das er in jenem jahrhundertealten Kampf für die Unabhängigkeit gewartet hatte.

Es geht wohl eher um die Verwirklichung des «Projektes Ukraine», d.h. eines Projektes, benannt «Ukraina», zu dem wir alle in Wirklichkeit kaum einen Bezug haben. Aber von wem wird dieses Projekt dann realisiert? Und zu welchem Zweck? Offenkundig wird es von den daran interessierten Leuten realisiert, die es entworfen haben und die es nun in ihrem Interesse erfolgreich realisieren.

Wer also könnte solch einen ambitionierten Plan realisieren? Kaum anzunehmen, dass es das ukrainische Volk machen könnte, denn es ist trotz der zehnjährigen ukrainischen Unabhängigkeit vorwiegend sowjetisch geblieben. Ganz offensichtlich war 1991 die sowjetische Partei-Nomenklatur (als Unterabteilung der gesamtsowjetischen Nomenklatur) am besten auf die Unabhängigkeitserklärung (sic!) vorbereitet. Diese Nomenklatur hat die Unabhängigkeit (für sich) vorbereitet und (wiederum – für sich) erklärt. Das Wort Unabhängigkeitserklärung erscheint mir in diesem Kontext sehr symptomatisch. Die Unabhängigkeit wurde nicht erobert im Kampf gegen Kolonialherren (obwohl man in den letzten 10 Jahren alles daran setzt, diese Tatsache vergessen zu machen), und sie wurde auch nicht der Nomenklatur sozusagen entrissen. Die Freiheit wurde von oben geschenkt.

Nachdem die UdSSR den Kalten Krieg verloren hatte, überraschte sie den Westen mit ihrem plötzlichen Zusammenbruch. Die führenden Akteure dieses Zusammnebruches waren nicht jene romantischen Dissidenten, sondern die kommunistische Nomenklatur. Denn es existierte keine andere Kraft (ich muss diese Tatsache aus einem Abstand von 10 Jahren einräumen, auch wenn mein Patriotismus darunter leidet), die diese Maschine hätte stürzen können. Ausgerechnet die Bolschewiken-Kommunisten haben das neoimperialistische Russlandsprojekt zum Zusammnenbruch gebracht, obwohl ihre Anhänger heute mit den bekannten Sprüchen auftreten, irgend ein «Anderer» – die NATO, die Bandera-Leute, die Juden, die Demokraten – hätten ihr Paradies auf Erden – die UdSSR - zerstört . Und anscheinend glauben sie selber daran.  

Bei ihrem Abgang vom sinkenden Schiff kam die Nomenklatur den Wünschen des ukrainischen Volkes entgegen entgegen und erklärte die Unabhängigkeit. Aber, was bedeutet diese Unabhängigkeit? Einigen von uns hat sie Jahre der Verbannung, einer zerstörten Jugend und Blut gekostet, einigen wenigen ehrwürdigen Personen, die aber vom Staat Ukraine nicht gewürdigt werden, geschweige denn dass sie eine Rente bekämen – im Projekt Ukraine sind nur Pensionen für ehemalige Funktionäre von NKWD und SCHMERSCH vorgesehen. Viele haben diese Unabhängigkeit gar nicht richtig wahrgenommen, weil man immer noch auf ein Ideal wartete – auf den kommunistische Futtertrog, nur mit dem Unterschied, dass jeder mehr und gleichmäßiger bekommen sollte. Wir haben die Unabhängigkeit nicht als Recht auf eigene Wahl und eigene Freiheit gesehen.

Die erklärte Unabhängigkeit hat die meisten von uns nichts gekostet. Deshalb ist sie auch «wertlos», sie hat keinen erkennbaren Wert. Und ein Ding, das kein Wert hat (auch keinen Gebrauchswert), ist nutzlos. Wir nützen unsere Unabhängigkeit nicht in unserem Interesse. Aber wenn ich «wir» sage, meine ich nicht die wirklich Kreativen und Promotoren, sondern die Besitzer des «Projektes Ukraine». Damit sind jene Leute gemeint, die nun in der Tat die Unabhängigkeit ausgenützt haben, die eine politische Nation des «Projektes Ukraine» aufgebaut haben, die auf ganz besondere Weise als Patrioten auftreten – ich meine die  Nomenklatur der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Der real existierende ukrainische Staat ist für diese Nomenklatur ein großes Glück – für sie ein Jahrzehnt des Aufschwungs und Selbstrealisierung, obwohl die Nomenklatur noch nicht richtig daran glaubt und immer wieder auf die Moskauer Pechvögel zurückschaut, die verzweifelt so tun, als ob sie nicht Welt-Außenseiter seien. Selbstverständlich musste die Nomenklatur einen größeren Teil vom Kuchen an Kriminelle und Händler abgeben (d.h. an die «eigenen Leute») und einen winzigen Teil an ein paar Dutzend Nationalisten (an die «anderen»).

Deshalb wurde für manche Leute im ukrainischen Staat das zehnjährige Jubiläum der ukrainischen Unabhängigkeit zu einem Fest der Selbst-Inszenierung . Das fand seinen angemessenen Ausdruck in den grotesken Paraden der Überreste von Sowjetarmee, Miliz und einigen «allzeit bereiten» Pionieren – unter dem ironischen Blick des kriminellen Establishments . Der überwiegende Teil der ukrainischen Bevölkerung hat mit diesem politischen Projekt nichts zu tun, allenfalls als «Material», als «Wahlvolk», das keine Wahl hat bei den Wahlen.

In meiner Heimat, im Herzen von Galizien, verlöschen immer öfter alte Menschen. Sie erlöschen nicht unbedingt, weil sie krank und alt sind, sondern aus Verzweiflung. Ältere politische Häftlinge, die Sibirien und Kasachstan überlebt haben, sterben jetzt. Sie waren so überglücklich, dass sie bis zum diesem Moment ausgehalten hatten… Und heute verlöschen sie. Und sie erlöschen mit dem Gefühl, dass man sie um etwas Wichtige gebracht hat.

Und dennoch existiert die Ukraine. Nicht so, wie sie sein sollte. Aber wie sollte sie aussehen? Jeder von uns, durch «Sowok» geprägt, hat seine eigene Vorstellung von der «Ukraine». Ich denke, die meisten werden mir zustimmen, dass die heutige immer noch sowjetisch geprägte Ukraine sehr weit von dem entfernt ist, was wir einmal angestrebt haben. Und ich kann keineswegs den Festsellungen von «Analytikern» und «Imagemakern» zusteimmen, die uns einreden wollen, dass wir heute genau die Unabhängigkeit haben, die wir wollten und für die andere ihr Leben geopfert haben. Wir müssen wieder bei Null anfangen. Wir dürfen nicht das zehnjährige Kind verrraten.

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