| Iris KempeDirekte Nachbarschaft (Kurzfassung) Probleme der direkten Nachbarschaft 
          
         Die politischen Asymmetrien zwischen der EU einschliesslich der assozierten 
          mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Russland, die Ukraine, 
          Weissrussland, und Moldova ergeben sich aus dem unterschiedlichen Grad 
          der politischen Modernisierung: Bei Russland, der Ukraine, Weissrussland 
          und Moldova handelt es sich weder um abgeschlossene Nationalstaaten, 
          noch um konsolidierte Rechtsstaaten mit modernen Verwaltungen und demokratischen 
          Teilhaberechten und es fehlt an leistungsfähigen sozialen Sicherungssystemen. 
          Territoriale Ansprüche sowie ungeklärte Grenz- und Minderheitenfragen 
          sind eine weitere Folgeerscheinung der aus dem Verlauf der politischen 
          Modernisierung hervorgehenden Asymmetrien. Wechselseitige Minderheiten 
          existieren zwischen fast allen mittel- und osteuropäischen Staaten 
          und den östlichen Nachbarstaaten der künftigen EU: zwischen 
          Rumänien und Moldova, Rumänien und der Ukraine, der Slowakei 
          und der Ukraine sowie zwischen Polen und der Ukraine und nicht zuletzt 
          zwischen den baltischen Staaten und der Russischen Föderation. 
          Während die Ukraine mit allen EU-assoziierten Nachbarstaaten Grundlagenverträge 
          abgeschlossen hat, gestaltet sich das Verhätnis zwischen den baltischen 
          Staaten und der Russischen Föderation weitaus problematischer: 
          Die strittigen Grenzfragen zwischen Estland und der Russischen Föderation 
          sind noch nicht umfassend gelöst. Die derzeitige estnische und 
          lettische Gesetzgebung hat die Frage der mehr als ein Drittel ausmachenden 
          russischen Bevölkerung nicht gelöst, von denen ein grosser 
          Teil nicht über Staatsbürgerrechte verfügt. Im Falle 
          der EU-Mitgliedschaft stellt die russische Bevolekerung in allen drei 
          baltischen Staaten ein Konfliktpotential dar: Die russischen Minderheiten 
          können zu Auseinandersetzungen zwischen der künftigen EU und 
          der Russischen Föderation führen bzw. zu diesem Zweck instrumentalisiert 
          werden. Mit dem Beitritt Polens und Litauens in die EU wird das Gebiet 
          Kaliningrad eine russische Exklave innerhalb der EU. Somit entstehen 
          weitere Folgeprobleme der nicht abgeschlossenen Nationalstaatsbildung 
          Russlands: Die sich seit 1991 abzeichnenden Probleme der wirtschaftlichen 
          und infrasrukturellen Isolierung Kaliningrads wurden zunehmen. Ausserdem 
          können die mit dem Gebiet verbundenen Interessen zum Spielball 
          für Auseinandersetzungen zwischen der EU und der Russischen Föderation 
          werden. Eine Ursache für Instabilität kann die russische Militaerpräsenz 
          werden. Ein Bedrohungspotential ist weniger die Gefahr einer bewaffneten 
          Auseinandersetzung, als vielmehr die Instrumentalisierung für die 
          russische Aussenpolitik. Ein weiteres Merkmal der unzureichenden politischen 
          Modernisierung der früheren Sowjetunion ist das Fehlen rechtsstaatlicher 
          Traditionen und hinreichend differenzierten und legitimierten Verwaltungen. 
          Der Aufbau leistungsfähiger, nach rationalen Kriterien arbeitenden 
          und im Rahmen der Möglichkeiten dezentralen Verwaltungen ist eine 
          Aufgabe der Transformation. In der Praxis zeigt sich aber eine Fortsetzung 
          der Probleme: Der staatliche Sektor ist wegen der geringen Löhne 
          wenig attraktiv, Beamte sind aufgrund des schwachen Rechtsstaats zum 
          Teil gezwungen, nach persönlichem Ermessen zu entscheiden und haben 
          zudem wenig Interesse an der Rechtsbindung ihrer Verwaltungstätigkeit. 
          Somit fehlt die Grundlage für leistungsfähige Zoll- und Grenzverwaltungen, 
          für den Aufbau von Informationsnetzwerken im Umwelt- und Kriminalitätsbereich 
          sowie für die Schaffung effektiver Migrationsverwaltungen. Nach 
          westlichen Massstaben politischer Modernisierung ist der Demokratisierungsgrad 
          der Russischen Föderation, der Ukraine, Weissrusslands sowie Moldovas 
          niedrig. Der Einfluss der Parlamente bleibt gering, die Machtverteilung 
          im politischen System entspricht nur im minimalen Umfang den Vorgaben 
          der Verfassungen. Vielmehr differenzieren sich die postsowjetischen 
          politischen Systeme entlang der Konfliktlinien innerhalb der zentralstaatlichen 
          Exekutive, zwischen Zentrum und Regionen sowie aufgrund des politischen 
          Einflusses exportorientierter Wirtschaftssektoren. Für die postsowjetischen 
          Staaten bedeutet gerade diese Pluralisierung die Chance zur Demokratisierung. 
          Für die EU führt das postsowjetische Staatsversagen zu erheblichen 
          Problemen: Bei der Gestaltung der Nachbarschaftsbeziehungen sind die 
          Entscheidungsträger an institutionelle Kanäle gebunden. Somit 
          kann die EU die tatsächlich relevanten Entscheidungsträger 
          nur bedingt erreichen. Der Ausgangspunkt für die Nachbarschaftsbeziehungen 
          der künftigen EU ist das sozioökonomische Gefalle zu ihren 
          östlichen Anrainern: In Russland leben halb so viele Menschen wie 
          innerhalb der EU, das Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt in Russland 
          nur ein Drittel des Bruttosozialproduktes der EU. Auch nach gut einem 
          Jahrzehnt der Reformversuche leidet der ehemals sowjetische Wirtschaftsraum 
          am Zerfall des RGW und der Sowjetunion. Anhaltende Produktionseinbrüche 
          gehen einher mit unzulänglicher wirtschaftlicher Transformation 
          und Modernisierung. Angesichts der nur schwach entwickelten Zivilgesellschaft 
          fehlen ausserdem gesellschaftliche Akteure für privates Unternehmertum 
          und Eigentum. Besonders kompliziert für die direkte Nachbarschaft 
          zur EU ist die wechselseitige Verknüpfung der Wirtschaftskrise 
          mit Umweltproblemen und sozialen Fragen. So können Armutsflüchtlinge 
          und illegale Handelsströme aus der Russischen Föderation, 
          der Ukraine, Weissrussland und Moldova zur Folgeerscheinung der sozioökonomischen 
          Asymmetrien werden. Die derzeit intensive wirtschaftliche Verflechtung 
          zwischen der EU, den Assoziierungsstaaten und der Russischen Föderation 
          ist Ausdruck der sozioökonomischen Asymmetrie: Die russischen Exporte 
          beschränken sich fast ausschliesslich auf Energie- und Rohstofflieferungen. 
          Die EU exportiert dagegen überwiegend Industrieprodukte, Technologieerzeugnisse 
          und Lebensmittel nach Russland. Trotz der insgesamt sehr ungleichgewichtigen 
          und somit zu problematisierenden Wirtschaftsbeziehungen bewirken die 
          Handelsverflechtungen bei den einflussreichen russischen Interessengruppen 
          das Bestreben, die Beziehungen zur EU nachhaltig zu intensivieren. Hinsichtlich 
          der direkten Nachbarschaft kann die grenzüberschreitende Wirtschaftskooperation 
          wichtige Impulse setzen. Dies zeigt sich im Nutzen der Euroregionen 
          für Grenzstädte entlang der heutigen EU-Ostgrenze sowie in 
          den Bestrebungen der grenznahen russischen Gebiete Pskov und Leningrad, 
          ihre Strukturschwäche durch die Einrichtung von Wirtschaftssonderzonen 
          und Meistbegünstigungsklauseln zu verbessern. Voraussetzung für 
          die Intensivierung von Handelsbeziehungen über die künftigen 
          EU-Grenzen hinweg ist aber der Ausbau transeuropäischer Verkehrs- 
          und Kommunikationsnetze. Ein Schlüsselproblem stellt die Errichtung 
          leistungsfähiger und sicherer Zoll- und Personenkontrollen dar. 
          Die Sicherung der künftigen EU-Aussengrenzen muss sowohl den Erfordernissen 
          des grenzüberschreitenden Handels gerecht werden, als auch die 
          innere Sicherheit der EU garantieren. Obwohl die vier östlichen 
          Nachbarstaaten der künftigen EU die Bedeutung der Lösung von 
          Grenzproblemen erkannt haben, stehen der Umsetzung von Lösungen 
          die fehlenden administrativen Kompetenzen entgegen. Das Verhältnis 
          Russlands zum Westen ist eines der Themen, die russische Analytiker 
          und Entscheidungsträger seit dem 18. Jahrhundert mit erstaunlicher 
          Beständigkeit diskutieren: Westlich ausgerichtete Positionen betonen 
          das ökonomische, soziale und kulturelle Interesse Russlands am 
          Anschluss an die westeuropäische Modernisierung. Dementsprechend 
          orientierten sich so untermauerte Positionen auf die aussenpolitische 
          Integration in transeuropäische und transatlantische Strukturen. 
          Dem stehen slavophile Positionen gegenüber, die einen eigenen Modernisierungsweg 
          Russlands fordern. Ihr Ziel ist nicht die Überwindung der Ruckständigkeit 
          zu Europa, sondern die Rückkehr zu den altrussischen gesellschaftlichen 
          Organisationsprinzipien wie der kollektiven Organisation der Bauerngemeinde 
          und der genossenschaftlichen Gewerbeorganisation. Mit der geopolitischen 
          Lage Russlands zwischen Europa und Asien begründen sie eine isolationistische 
          Position gegenüber Europa. Die Trennung zwischen Westeuropa, Osteuropa 
          (Russland) und Mitteleuropa war auch Anlass für eine seit den 80er 
          Jahren von mitteleuropäischen Intellektuellen geführten Debatte 
          über die Trennung Europas in drei Regionen. Sie diente den mittel- 
          und osteuropäischen Staaten zur Emanzipation von der früheren 
          Sowjetunion. Über geistesgeschichtliche Grundsatzdebatten hinaus 
          gilt es, Unterschiede in der sowjetischen und westeuropäischen 
          Modernisierung beim Aufbau von Nachbarschaftsbeziehungen zu berücksichtigen: 
          Die westeuropäische Einigung zeigt eine Vielzahl historisch verwurzelter 
          struktureller Gemeinsamkeiten: die europäische Familien- und, Beschäftigungsstruktur, 
          Unternehmertum, gesellschaftliche Mobilität und soziale Sicherung 
          sowie die europäische Städtentwicklung. Dagegen war die sowjetische 
          Industrialisierung und Urbanisierung der Versuch, sozioökonomische 
          Modernisierung ohne gesellschaftliche und politische Pluralisierung 
          durchzuführen. Dementsprechend ist die momentane politische, wirtschaftliche 
          und gesellschaftliche Situation Russlands, der Ukraine, Moldovas und 
          Weissrusslands nicht mit der der jetzigen und auch nicht mit der der 
          künftigen EU-Mitgliedstaaten gleichzusetzen. Es muss zumindest 
          kritisch diskutiert werden, ob die postsowjetischen Staaten eine an 
          westlichen Massstaben ausgerichtete Modernisierung einschlagen oder 
          ob die sowjetische Industrialisierung, Urbanisierung und ansatzweise 
          auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 eingetretene gesellschaftliche 
          Differenzierung prägend ist. Unter diesen Prämissen gilt es 
          nach den Ausgangsbedingungen, dem Verlauf sowie den zu erwartenden Konsolidierungsformen 
          der postsowjetischen Staaten zu fragen. Aus dieser -wissenschaftlich 
          jedoch noch nicht befriedigend vorgenommenen- Bestimmung der Transformationsprozesse 
          ergeben sich wichtige Schlussfolgerung für die EU zur Unterstützung 
          der inneren Modernisierung. 
         Fazit und Ausblick. 
         Da sich die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Sicherheitsrisiken 
          Gesamteuropas auf den Grenzraum der erweiterten EU konzentrieren, ist 
          die Gestaltung der direkten Nachbarschaft zwischen der künftigen 
          EU und der Russischen Föderation, der Ukraine, Weissrussland und 
          Moldova eine Schlüsselfrage beim Aufbau einer gesamteuropäischen 
          Sicherheitsordnung. Der sich bereits heute akut abzeichnende Handlungsbedarf 
          erfordert zunächst eine detaillierte Analyse der künftig zu 
          erwartenden Nachbarschaftsprobleme. Die Nachbarschaftsprobleme gehen 
          auf die politischen und sozioökonomischen Asymmetrien sowie kulturelle 
          Prägemuster zuruck. Aufgrund der stärkerer von Akteuren und 
          weniger durch Institutionen bestimmten Entwicklung in den postsowjetischen 
          Staaten muss in die Problemanalyse eine Identifikation der Akteure einbezogen 
          werden. Auf Grundlage differenzierter Problemanalysen kann die EU frühzeitig 
          Lösungsstrategien entwickeln. Die Strategien sollten sich an folgenden 
          Ziele orientieren: Etablierung ständiger Gesprächskanale mit 
          den für die direkte Nachbarschaft relevanten Entscheidungsträgern, 
          Aufbau leistungsfähiger Administrationen für Grenzfragen, 
          Abbau von Handelshemmnissen sowie die Regelung von Minderheitenfragen 
          und Gebietsansprüchen als Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft 
          der assoziierten Staaten. Ziel der Problemanalysen muss es letztendlich 
          sein, politische Empfehlungen auf europäischer Ebene für die 
          Gestaltung der direkten Nachbarschaft zu entwickeln. 
          
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     11 1997 |