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Walter Mossmann

Gespräche mit Jurko

(Freiburg/Lviv 1997)

Die Gespräche mit Jurko zogen sich – mit längeren Sendepausen – über vier, fünf Jahre hin. Jurko hat währenddessen nach griechisch-katholischem Ritus geheiratet, sein Zweitstudium Philosophie betrieben und große und komplizierte Texte von Joseph Roth, Heidegger und Musil für Verlage in Kiew und Lemberg übersetzt. Ich habe in derselben Zeit immerhin gelernt, für den Haus- und Straßengebrauch einfache Sätze in Ukrainisch zu bilden: teper ja je tut – jetzt bin hier, teper i tut, hier und jetzt, und: wse bude duzhe dobre – alles wird gut, sehr gut.

Die letzten vier, fünf Jahre – eine rutschige, hastige Zeit voller Überraschungen. Vor allem die Schauplätze unserer Gespräche, die Lemberger Kneipen, haben sich derweil enorm gewandelt. Zuerst trafen wir uns noch in der düster verhangenen Bar des Hotels SPUTNIK, wo wir Kaffee-Ersatz, Tee oder Horilka aus den unverwüstlichen, dicken sowjetischen Allzweck–Gläsern tranken und träge und genialisch in jener halblauten halbasiatischen Stimmung vor uns dahindümpelten – gekostet hat so ein Vormittag fast nichts, paar Coupons, Spielgeld für einen Deutschmarkbaron. Oder wir schauten in irgendeiner Keller-Kaschemme den Alkoholexzessen der heillosen Trinker und Trinkerinnen aus der Vorstadt zu. Oder wir konsumierten tschechisches Bier im vormals Staats- und KGB-Hotel, wo einem der Kellner ungerührt und präzis für vierzig Dollar Kaviar und für zwanzig Dollar eine Frau anbot. Später dann das erste “private” georgische Restaurant (der einheimische Rotwein “Ukrainischer Samt” ist in solchen Etablissements leider nicht mehr zu haben, nur noch teure Importware aus Bulgarien oder scheußliche Abfallgesöffe, angeblich aus Italien). Oder die Szenenkneipe am Pulverturm – laute Musik aus Amerika, dunkler süßklebriger Cognac von der Krim und erregte Debatten über Poesie, Theater, Musik, Vernissagen, Visa und Sponsoren, vor allem Sponsoren. Dann die erste Pizzeria eines Polen mit dem Namen Castellari, dann die ersten Straßencafés, dann der erste echte Capuccino – es ging alles ziemlich schnell, es ging voran, die Preise machten rasante Fortschritte und die meisten meiner Freunde wurden täglich ärmer.

* * *

Unsere ersten Gespräche gingen notgedrungen vom Nullpunkt aus.

– Was weißt du überhaupt von der Ukraine? Was bringst du mit in deinem deutschen Kopf?

– Wenig. Eingefrorene Bilder – Steppe – der Dnjepr-Fluß – die goldenen Kuppeln von Kiew – bunte, grelle Folklore-Ensembles – ein deutscher Landser, lachend im Sonnenblumenfeld, vielleicht mein Vater – der Sarkophag von Tschernobyl – ja, und Galizien... der Rebbe singt, die deutschen Vernichtungslager, verkohlte Leichen...

– Ist dir aufgefallen, daß in der gesamten Holocaust–Literatur das Wort “Der Ukrainer” als eine Art Berufsbezeichnung gebraucht wird? “Der Ukrainer” ist dort immer und ausnahmslos ein williger Helfer der Nazis, nicht so intelligent wie die deutschen SS-Leute, aber bestialisch, wenn es ans Morden geht. Auf den historischen Hintergrund will ich gar nicht eingehen, der ist furchtbar kompliziert – manchmal waren es tatsächlich ukrainische Nationalisten, Faschisten, manchmal bunt zusammengewürfelte Truppen aus dem Osten, Ukrainer, Weißrussen, Balten, Rumänen, Kroaten, Slowaken – auch Volksdeutsche dabei – aber darum geht es mir nicht im Augenblick. Ich meine diese furchtbar reduzierte Bedeutung einer nationalen Zugehörigkeit. Wenn ich mich im Westen vorstelle: Mein Name ist Jurko, Nationalität: Ukrainer, könnte ich genauso gut sagen: Gestatten Jurko, Nationalität: Henkershelfer.

– Geht’s mir vielleicht besser? Was soll ich denn dazu sagen, wenn mich in Brody ein ehemaliger SS-Mann schier abküsst, nur weil ich aus dem Nachfolgestaat des Dritten Reiches komme? Jedes nationale Klischee ist furchtbar reduziert.

– Das ist nicht dasselbe. Du kommst nach Lemberg nicht nur in der Nachfolge der Nazis. Dir wird nicht nur Auschwitz zur Last gelegt. Dir werden auch Schiller und Goethe und Heine und Mozart und Beethoven zugute gehalten. Du bringst eine weltbekannte kulturelle Aura mit, einen historischen Hintergrund. Gerade in Galizien wissen wir viel über Deutschland, das macht dich im vornherein interessant, du brauchst überhaupt nichts vorzuweisen. Aber wenn ich bei euch in Freiburg aufkreuze, falle ich zuerst unter die Kategorie “Russe, postsowjetischer” , dann: ach so, kein Russe, ein Ukrainer, aha, Separatist, Nationalist – Henkershelfer. Mir wird keine kulturelle Aura zugutegehalten, weil ihr noch nie irgendetwas von uns zur Kenntnis genommen habt, keinen Schewtschenko, keine Lessja Ukrainka, keinen Iwan Franko, keinen Wassyl Stus, keine Verse, keine Musik, gar nichts. Ich gehöre zu einem “geschichtslosen Volk”, wie Friedrich Engels unsereinen zu benennen pflegte. Übrig bleibt nur das schreckliche Stereotyp ohne irgendein Gegengewicht. Deshalb wiegt es so schwer.

* * *

– Reden wir über deine Kränkung.

– Die ukrainische Kränkung.

– Das ukrainische Lamento. Ich kann es bald nicht mehr hören, weil es so selbstbezogen kultiviert wird, und weil damit Politik gemacht wird. Die Kehrseite der ukrainischen Kränkung ist die Indifferenz, wenn es um andere geht. Ich hab das ständig erlebt, vor allem bei den alten Leuten. Ich frage zum Beispiel nach Deborah Vogel, einer Freundin von Bruno Schulz. Die Rede kommt auf das Ghetto und auf das damalige KZ, das Janowskyj-Lager, wo bis heute übrigens noch keine Gedenkstätte eingerichtet worden ist, die Rede kommt auf den Mord an zweihunderttausend Lemberger Juden, und ich blicke in indifferente, unbewegte Gesichter. Kein Kommentar. Bis schließlich jemand mit einem JA ABER! herausplatzt, mit diesem verdammten JA ABER! Und plötzlich belebt und ausdrucksvoll, mit den Anzeichen äußerster Erregung zeigt er mir einen Keller, wo damals “DIE Bolschewisten” “DIE Ukrainer” gefoltert und ermordet hätten, schuldlose Menschen natürlich, Frauen und Kinder.

– Ja, aber...

– Siehst du?

– Na und? Ich darf sagen, was ich will, dies ist ein freies Land, neuerdings... Du beklagst die selektive Wahrnehmung der alten Leute, aber du machst dasselbe. Vielleicht sitzt dir noch euer Historikerstreit in den Knochen. Vielleicht hast du Angst, das Erinnern an die ukrainischen Opfer könnte zu einem Aufrechnen Leiche gegen Leiche führen, und zwar so, dass Geschichte zu einem Plus-minus-Null-Brei verdampft, keine Verbrechen, keine Schuld, kein falsches Bewußtsein, nur noch Schicksal und Verhängnis...

– Eine durchaus berechtigte Angst!

– Ja, aber wohin führt euch diese Angst? Das Gegenstück zum ukrainischen JA ABER ist das deutsche AUF DEN SPUREN VON. Seit der Wende ziehen die Touristen aus Wien oder Frankfurt oder Berlin durch Galizien, mit gesenktem Kopf, auf den Spuren des galizischen Judentums. Sie fantasieren sich in ein romantisches jiddisches Shtetl, sie befingern die alten Steine und lassen sich jedes alte Gemäuer als ehemalige Synagoge verkaufen, sie versinken vollkommen und genüsslich in einer träumerischen Wiedergutmachung. Sie heben den Blick nicht nach links, nicht nach rechts, nicht zur Gegenwart, nicht zu uns. Und wenn dann später in ihren Reportagen von einem Ukrainer die Rede ist, dann gewiss vom immergleichen antisemitischen Holzkopf, der ihnen zufällig über den Weg gelaufen kam. Für uns ist das natürlich kränkend, aber euch macht das blind, seelenblind. Ihr lehnt jede ernsthafte Beschäftigung mit unserer Geschichte ab. Ich meine gar nicht die große Geschichte der Staatsaffairen, ich meine die kleine Geschichte, die zigtausendfache ukrainische Familiengeschichte. In fast jeder der überfüllten kleinen Wohnungen in dieser Stadt wirst du ein Erinnerungsfoto finden vom Großvater, vom Onkel, von der Tante, Schwester, Bruder – “Opfer der Repression” hieß das, erschossen, erfroren, zugrundegegangen im Lager. Tausende, denen du hier auf dem PROSPEKT DER FREIHEIT begegnen kannst, sind in der Verbannung geboren, in Sibirien oder Kasachstan, aber du wehrst das alles ab, weil du ein Linker bist. Du willst nichts wissen von den Verbrechen der Linken.

– Mein lieber Jurko, das geht zu weit. Du machst es dir zu einfach. Was weißt du schon von der Linken im Westen.

– Mag sein. Ich kannte die Linke im Osten, das hat mir gereicht.

– Der Freiburger SDS z.B., also mein Verein damals, hat als erste Organisation 1968 gegen den Einmarsch in Prag demonstriert. Alle meine Freunde und Bekannten aus der DDR waren Dissidenten, die dort im Knast saßen oder rausgeflogen sind aus der Arbeiter- und Bauern-Republik. Und das Innenministerium in Ost-Berlin hat mir noch 1986 die Einreise nach Dresden verwehrt, weil die Herren wussten, ich würde dort ebenso wenig die Klappe halten wie zuhause. Nein, mein Lieber, den Schuh zieh ich mir nicht an.

– Ich habe gehört, bei euch hätte es damals so eine chinesische neostalinistische Kritik an der DDR gegeben, ich meine diese ML-Parteien...

– Die hat es gegeben. Aber ich war nicht dabei. Ich hab meine Witze gemacht über die autoritären Spießbürger, die sich als wiederauferstandenes Gespenst des Kommunismus verkleideten, und sie haben mich als “bourgeoisen Verbrecher” geoutet, weil ich mich lieber in den Bürgerinitiativen herumtrieb als in ihren maoistischen Kaderparteien. Siehst du, Jurko, die Sache ist doch ein bisschen komplizierter, als du denkst.

– Du hast also eine reine Weste...

– Ich hab noch nicht nachgefragt bei der Gauck–Behörde.

– Gut, wir sprechen euch also frei von der Kollaboration mit der marxistisch–leninistischen Macht. Aber mir scheint, ihr habt ein Auge zugedrückt. Ihr wolltet es nicht wirklich wissen. Ihr habt gar nicht versucht, euch kundig zu machen über die Verhältnisse bei uns.

– Wie sollte ich? Ich hatte doch gar keine Möglichkeit zu reisen, jedenfalls nicht frei.

– In Chile bist du auch nie gewesen, und in Argentinien oder Brasilien auch nicht. Und trotzdem hast du geschrieben und geredet und protestiert. Du hast dich kundig gemacht über die allerkleinsten Zustände und Ereignisse in irgendeiner Vorstadt von Santiago oder Buenos Aires oder über die Fortschritte der Bauerngewerkschaft in Bolivien. An den begrenzten Reisemöglichkeiten in die Sowjetunion kann es also nicht gelegen haben. Ich behaupte, du hast unerfreuliche Wahrheiten unseres Lebens nicht wissen wollen, weil du Angst hattest, irgendwelche Grundwahrheiten könnten dir dann vielleicht entgleiten.

– Du kannst dir nicht vorstellen, welche Figuren bei uns im Westen mit “Wahrheiten” aus dem Osten hausieren gingen und zu welchem Zweck. Manchmal sah es so aus, als wäre die ganze Sowjetmacht nur zu dem Zweck installiert worden, damit sie als Kontrastbild des Bösen die Macht des Guten im Westen legitimieren kann. Verstehst du, wenn die polnische Regierung z.B. streikende Arbeiter mit sooo langen Holzknüppeln zusammenschlagen ließ, dann traten bei uns im Fernsehen die Machthaber auf, denen die Empörung nur so aus den gespitzten Mündern troff, und dieselben Machthaber ließen uns zur selben Zeit bei den Demonstrationen gegen Atomkraftwerke oder gegen die Startbahn West zusammenschlagen, mit ebenso langen und harten Knüppeln... Es gab einen Satz, der war sehr bezeichnend für die alte Bundesrepublik: “Geh doch nach drüben!” Der Ton war meistens ziemlich höhnisch, verbiestert, vernichtend. Und dieser Satz fiel regelmäßig, wenn irgendwo Kritik oder Unruhe und Aufbegehren aufkam. Alle, die nicht einverstanden waren, kritisierten, widersprachen, Alternativen suchten, abweichende Ideen entwickelten, alle diese verdammten Störer seien doch offenbar heimliche Kommunisten und sollten also “nach drüben” gehn, in die DDR. Möglicherweise hat dieser dumme Satz mehr Reklame für den Kommunismus gemacht als alle dicken marxistisch-leninistischen Schwarten zusammen.

– Das erklärt einiges, liefert aber keinen ausreichenden Grund für euer Desinteresse an unserer Wirklichkeit.

– Nein, es war nur eine Erklärung, keine Begründung.

* * *

– Du lachst immer so merkwürdig, wenn ich erzähle, was “wir Linken” alles so getrieben haben.

– Es kommt mir vor wie ein naiver Etikettenschwindel.

– Du glaubst mir nicht?

– Doch, ich glaub deine Geschichten. Aber das sind in meiner Sprache keine “linke” Geschichten. Du kennst doch das berühmte Gedicht von Ernst Jandl über LECHTS und RINKS und das VELWECHSERN. Weißt du, bei uns hat “links” eine völlig andere Bedeutung. “Links” ist ein Synonym für “konservativ”, und wir assoziieren dazu: Stagnation, Unterdrückung, öffentliche Lüge, Sklavensprache, Korruption, Karrierismus, Terror, Massenmord...

– Geht es auch paar Nummern kleiner?

– Wenn ich einen Deutschen frage, was er mit dem Jahr 1933 verbindet, dann ist die Antwort klar: Beginn der Nazi-Diktatur, Machtübernahme, Beginn einer Epoche, die mit dem Weltkrieg und dem Holocaust endet. Einem Deutschen fällt zu 1933 natürlich kein anderes Ereignis ein. Wenn du in der Ukraine fragst, hörst du eine ganz andere Antwort: 1933, das war das Jahr des Großen Hungers. Millionen Menschen sind in der Sowjetukraine verhungert, in ihren Dörfern, auf den Straßen, während der Flucht in die großen Städte. Partei-Kommandos holten das letzte Schwein und den letzten Sack Korn aus den Höfen und ließen die Menschen einfach verrecken. Dann die Massen-Deportationen nach Sibirien in die mörderischen Lager, die “Säuberung” der Partei, die Prozesse, der Mord an der ukrainischen Intelligenz. 1933 begann unsere Katastrophe, 1933 bezeichnet das Ende aller Illusionen. Manche nennen den Großen Hunger ein Genozid, andere sagen, mit der Zwangskollektivierung hat die Partei bewusst in Kauf genommen, dass Millionen Menschen in der Ukraine verhungern werden. Die Linke im Westen hat damals geschwiegen oder das Ausmaß der Katastrophe bagatellisiert, viele haben sogar die Propaganda-Lügen aus Moskau nachgeplappert. Es war unbegreiflich, völlig unbegreiflich.

– Ich habe oft versucht, es zu begreifen. Mir scheint, diese Intellektuellen waren gefangen in einer Entweder-Oder-Geschichte. Sie dachten, sie müssten sich für die Sowjetunion entscheiden, um nicht mitschuldig zu werden am Faschismus. Ein Dilemma.

– Zur Hölle mit diesen teuflischen Entweder-Oder-Geschichten! Wenn wir denen nicht entkommen, werden wir niemals tun, was wir tun wollen.

– Aber was passiert heute, 60 Jahre später? 1993 war der Große Hunger von 1933 das beherrschende Thema in der Ukraine, Theater, Musikfestivals, Filme, Bücher, Reden, vor allem große Reden. Der Hunger von damals wurde düster und auftrumpfend abgefeiert. Denn die neuen Machthaber reklamieren die Hungertoten von damals als Blutzeugen für den heutigen Nationalstaat. Aber sind denn diese Menschen tatsächlich für einen künftigen ukrainischen Nationalstaat verhungert? Ich denke, das ist ein ekelhafter, wenn auch üblicher, Missbrauch. Immer werden die Opfer der großen Verbrechen der vergangenen Macht für den Aufbau der neuen Macht instrumentalisiert.

– Ja, sie werden instrumentalisiert. Das wird mich nicht dran hindern, auf meine Art darüber zu sprechen. Immerhin ist das noch ziemlich neu, dass man in diesem Land über solche Ereignisse öffentlich reden darf. Mehr als ein halbes Jahrhundert erzwungenes Schweigen... Und bei Euch? Hat die Westlinke an die Ereignisse von 1933 in der Ukraine erinnert? Gab es Bücher, Veranstaltungen, Diskussionen? Oder begnügen sich die tapferen Antistalinisten immer noch mit der Machno–Legende? Ach Ja, wenn der romantische Anarchist damals gewonnen hätte! Eine Wunschprojektion, ein albernes Märchen, wie die Heldenlegenden aus der Dritten Welt. Peter Arschinow hat die Geschichte von Nestor Machno damals nicht erzählt, um Wahrheiten zu verbreiten, sondern um ein Bild zu prägen, das dem Kampf der Anarchisten nützt und die Träume beflügelt.

– Und das sowjetische Gegenbild? Das Bild vom raubenden, saufenden, vergewaltigenden und mordenden Warlord Machno, wozu wurde das wohl hergestellt? Offenbar doch auch nicht, um der Wahrheitsfindung zu dienen, sondern um die Träume abzuschrecken.

* * *

– Erinnerst du dich? Als wir uns zum ersten Mal trafen, kam eine alte Schnapsnase an unseren Tisch und sagte: “Tschernobyl ist der Inbegriff der russisch-bolschewistischen Politik und ihrer Kreuzzüge gegen das ukrainische Volk.” Derartigen Unsinn habe ich seither ständig gehört.

– Trotzdem, da ist was dran.

– Wie bitte? Was soll an diesem Schwachsinn dran sein?

– Streich das Wort “russisch” und die Sache mit den Kreuzzügen. Dann bleibt: “Das größenwahnsinnige Industrieprojekt Tschernobyl ist der Inbegriff der bolschewistischen Politik”. Und an dieser Aussage ist was dran. Mir scheint, das ganze Unternehmen Stalinismus war nichts anderes als ein gigantisches Industrialisierungsprojekt in einem unterentwickelten Land. Die Entwicklungspolitik der Bolschewiki sah vor, dass dieses Land in kürzester Zeit die reichen Länder einholen und überholen sollte. Daraus folgt alles andere. Denn diese Art von Entwicklungspolitik forderte unermessliche Opfer, das war allen klar. Deshalb brauchte es eine Religion, die in der Lage war, ausreichend Opferbereitschaft zu mobilisieren, und eine alleinseligmachende Kirche mit einem globalen Anspruch: die kommunistische Partei und die Komintern. Diesen Zusammenhang haben sowjetukrainische Autoren wie Chwylowyj oder Mykola Kulisch schon Ende der 20er Jahre ziemlich genau beschrieben, aber das kennt ihr ja wieder mal nicht. Weiter: Industrialisierung im großen Stil erfordert ganz notwendig eine radikale Standardisierung, und dafür sorgte eine totale, gleichgeschaltete Bürokratie und die Allgemeingültigkeit der Normen. Wildwuchs, wie z.B. die emanzipatorischen Tendenzen in der Ukraine oder in Georgien, musste zurechtgestutzt werden, das waren zentrifugale Kräfte, also Störungen, also weg damit. Und schließlich konnte ein derartiger Entwicklungsprozeß nur stattfinden unter Führung einer absoluten zentralistischen Macht. Das heißt dann eben Diktatur. Und die höheren Weihen holt sich die atheistische Diktatur aus dem traditionellen russisch-christlichen Messianismus. So hat also Stalin sowohl den Zaren als auch den Patriarchen der orthodoxen Kirche beerbt und deren Erbe mit ungeheurer Energie modernisiert.

– Und was war dann kommunistisch an der ganzen Sache?

– Eigentlich nichts. Die bolschewistische Ideologie, bzw. diese neue Religion aus altem Stoff stand eben gerade zur Verfügung. Schau dir doch heute irgendeine fundamentalistische Entwicklungsdiktatur in der sogenannten Dritten Welt an – die Religion ist beliebig, wenn man sie nur der Industrialisierung nutzbar machen kann.

– Und seit wann ist dir das alles so sonnenklar?

– Seit wir diesen wunderbar milden, mit Honig behandelten und eigentlich nur für den Export bestimmten Horilka trinken und immerzu auf das neue FORD-Plakat an der Mauer gegenüber starren und wissen, die dort drüben, auf der anderen Seite vom großen Wasser, hatten dasselbe Ziel im Auge, nur, sie hatten etwas günstigere Bedingungen, und mehr Zeit, und sie konnten den Leuten Spielräume lassen.

* * *

– Jurko, ich begreife nicht eure Zauberwörter “Nation” und “privat”. Mir schmecken sie gar nicht besonders, aber wer sie hier in den Mund nimmt, kriegt sofort leuchtende Augen.

– Das ändert sich zwar schon wieder, aber wir können ruhig darüber sprechen.

– Dies ist ein freies Land, neuerdings...

– Eben. Und früher war es unfrei, und deshalb die Zauberwörter.

– Eine “freie” Nation kann ihre Staatsbürger fürchterlich unfrei machen, es gibt darüber gewisse Erfahrungen in Deutschland.

– “Nation” war in den siebziger und achtziger Jahren ein Kampfbegriff der Opposition gegen die Diktatur der Partei, gegen die Standardisierung, gegen die Machtzentrale in Moskau. Für die alten nationalistischen Politiker hat es vielleicht etwas anderes bedeutet als für mich. Für mich hieß “Ukraine” ganz einfach “wir”. Wir, die Leute, die hier leben, und die nicht ferngesteuert und fremdbestimmt leben wollen. Ukrainisch sprechen hieß für mich – natürlich war das mächtig idealisiert! – mich selber ausdrücken, meine wirklichen Wünsche und Ideen, nicht immer nur das sagen, was erwartet wird.

– Und warum dann “wir” und nicht “ich”?

– Das “ich” erschien uns zu gewagt, so waren wir erzogen.

– Das “ich” erschien euch zu gewagt, aber das Bild von der Ukraine als einem selbständigen Nationalstaat war doch sogar strengstens verboten?

– Ja, das war verboten, aber es gab ein Einverständnis, überall saß das Einverständnis in den Augenwinkeln der anderen Leute, da war man nicht allein. Und wenn dann Lieder von Schewtschenko gesungen wurden, war klar, Ukraine bedeutet: Das ausgebeutete Land, die unterdrückten Bewohner, die leibeigenen Bauern, die Mädchen namens Katherina, denen die Kosaken des Zaren Kinder machen, und die dann missachtet am Wegrand liegen bleiben oder sich ertränken im Dorfteich. Oder schau, in den Gedichten von Wassyl Stus (er starb erst 1985 im Straflager für politische Rückfalltäter Kutschino 36-1), bei ihm ist die Ukraine Synonym für Orte der verlorenen Kindheit, des Glücks, des Vertrauens, wo man frei ausschreiten könnte und frei reden, verlorene Orte, gemarterte Seelen...

– Und wen hat dieses Bild von Ukraine ausgeschlossen? Wer fällt da heraus?

– Vielleicht die Unterdrücker. Natürlich, die Herren der Verbote. Aber noch nicht die Fremden, die Anderen. Das kommt erst, wenn Macht im Spiel ist. Aber wie ist das bei dir, hast du auch solche Farben für das Bild Deutschland, wie ich sie habe für das Bild Ukraine?

– Nein. Deutschland ist mir immer als Machtfigur begegnet. Entweder als Gegner oder als Komplize, als Versuchung für meine eigenen Machtfantasien. Nein, ich habe kein derart weiches Bild von Deutschland, für mich war es immer aggressiv, gewalttätig, marschbereit. Aber in der Ukraine habe ich neuerdings doch auch jede Menge nationalistischen Knobelbecher getroffen, Neo-Nazis aller Couleurs, Schwarzhemden, paramilitärische Männerbünde, grausige Rhetorik...

– Ja. Jetzt gibt es den Nationalstaat. Jetzt gibt es eine Macht, die auf die Gefühle der Menschen spekuliert, die ihre eigenen Interessen hochrechnet zu angeblich allgemeinen. Jetzt wird eingegrenzt und ausgegrenzt, jetzt wird Staat aufgerichtet und Hass ausgerichtet, jetzt geht das frühere Spiel nicht mehr. Stus war vielleicht der letzte, der noch von der traurigen schönen Leidensfigur Ukraine sprechen durfte.

–Und hast du das früher nicht gemerkt, ich meine die gewalttätige, ausgrenzende Seite der Idee?

– Und du, der freischwebende Internationalist, hast du die Gefahr nie bemerkt in all diesen NATIONALEN Befreiungsfronten, die ihr unterstützt und beliefert und bejubelt habt? Warum seid ihr denn so kritisch im Osten und so kritiklos in der Dritten Welt?

* * *

– Es geht voran, das heißt, die Privatisierung geht voran. Es gibt wirklich guten Capuccino, aber er ist zu teuer. Häuser werden privatisiert, und die Bewohner fliegen raus, weil sie nicht mehr bezahlen können. Betriebe werden privatisiert, und die halbe Belegschaft fliegt raus. Die Privatisierung schreitet voran, und die Verarmung auch. Die meisten Leute, die ich hier kenne, sind seit vier, fünf Jahren nur abgestiegen, eine Stufe nach der anderen. Aber für euch, besonders für die Jungen, war “Privatisierung” auch so ein Zauberwort.

– Ja, es war auch ein Zauberwort. Und es hat so etwas ähnliches bedeutet wie bei euch Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Mündigkeit, Autonomie... Ein schönes Wort. Früher war es auch schon ein schönes Wort. Früher hat es die Nische bezeichnet, das Versteck, den Ort, wo du unbeobachtet und unkontrolliert vor dich hinbasteln konntest. Verstehst du, das Sowjetsystem hat versucht, den privaten Raum abzuschaffen und den öffentlichen Raum zu entwickeln, und es hat genau das Gegenteil erreicht. Öffentlichkeit – das war die Lüge, die Heuchelei, die Propaganda, die Öffentlichkeit war vollkommen eindimensional formiert und erstarrt. Deshalb hat sich das wirkliche Leben in diesen winzigen Wohnungen abgespielt, und besonders während der Periode der Ökonomischen Stagnation hat sich alle Initiative in diesen privaten Räumen gestaut. Dann kam die Wende und endlich die Chance, auch außerhalb der Nische Initiative zu entwickeln, auf eigenes Risiko, in eigener Verantwortung, es waren fantastische Aussichten.

– Aber für die meisten sind es Aussichten geblieben. Die unzähligen privaten Händler an der Straße arbeiten heute auch nur als Handlanger, herumkommandiert von den Chefs recht fragwürdiger Handelsketten, was hat sich für die geändert? Von wegen Initiative, Verantwortung, Selbstbestimmung!

– Es ist nichts draus geworden, das stimmt. Mal abgesehen von den Neureichen und der Mafia, aber die verstricken sich ja wieder in ganz andere Abhängigkeit.

– Und du?

– Wir hängen am Valuta-Tropf, und da tröpfelt es ziemlich spärlich. Vom Gehalt eines Lehrers oder eines wissenschaftlichen Angestellten kannst du heutzutage in der Ukraine nicht mehr leben, wenn denn das Einkommen am Monatsende überhaupt beim Empfänger ankommt. Und das findet zur Zeit immer seltener statt. Also kümmern wir uns um Valuta und machen den Westmenschen schöne Augen. Und wenn die etwas gut und wichtig finden, dann sagen wir ja und gewiss doch, damit sie irgendein Projekt finanzieren. Wenn z.B. ein Abgesandter aus Brüssel kommt und erklärt, ökologische und feministische Projekte hätten allergrößte Priorität, dann sind wir alle Ökologen und Feministen. Voilà, es geht zu wie in den alten Zeiten.

– Sagen wir mal – Opportunismus?

Sagen wir mal – Not. Praktische Intelligenz.

* * *

– Die kleine Stadt Brody, nicht weit von hier, wurde in den letzten Jahren zu einer Art Wallfahrtsstätte, denn sie ist einem sehr großen Lesepublikum im Westen bekannt als Geburtsort von Joseph Roth. Früher lag dieser Ort in unerreichbarer Ferne, hinter dem Eisernen Vorhang, aber jetzt kann man frei reisen, also tut man es. Eigentlich gibt es nicht viel zu erleben in Brody, man könnte dort allenfalls nachempfinden, warum Joseph Roth ganz gerne weggegangen ist. Aber wie dem auch sei, die Leute kommen, aus Österreich und aus Deutschland, und selbstverständlich hat dort jemand ein kleines Joseph-Roth-Museum eingerichtet und macht Führungen durch die Stadt. Eine ukrainische Lehrerin liest den Wallfahrern Passagen aus den Romanen von Joseph Roth vor und zeigt auf irgendein Fenster oder ein Haustor oder einen Laden an der Straßenecke und sagt: “Sehen Sie bitte genau hin, dieses Fenster bzw. dieses Tor oder diesen Laden hat Joseph Roth in diesem Buch beschrieben”. Und die Wallfahrer gucken hin und nicken irgendwie innerlich aufgewühlt. Aber das ist noch nicht alles. Denn der Name Brody steht auch für eine fürchterliche Schlacht am Ende des Krieges, in der die deutsche Oberste Heereführung die halbe SS-Division GALIZIEN verheizt hat. Diese Division bestand aus Ukrainern, die damals aus verschiedenen Gründen unbedingt gegen die Rote Armee kämpfen wollten. Es gibt Überlebende, und die haben dann später in der Emigration – “Diaspora” heißt das bei uns – einen Traditionsverband gebildet. Und logisch, heute wollen die alten Männer auch nach Brody reisen und das Schlachtfeld durchschreiten, und logisch, in Brody hat jemand ein Museum eingerichtet, direkt neben dem für Joseph Roth. Und jetzt kannst du dir die Sache etwa so vorstellen: In der Ferne hören wir Motorengeräusch, aha, ein westlicher Bus! Sofort werden die Kinder losgeschickt: Wo kommt der Bus her? Oho, er kommt aus Wien, schnell, Leute, machen wir das Joseph-Roth-Zimmer auf! Aber nein, Fehlalarm, der Bus kommt gar nicht aus Wien, er kommt aus London, die Diaspora naht! Machen wir also das Zimmer der SS-Division GALIZIEN auf und das andere wieder zu. Denn alle Wallfahrer wollen korrekt bedient werden, und die Nachfrage regelt das Angebot. Kapiert?

– Kapiert. Welcome in the club!


Noten zu den Gesprächen mit Jurko

Taras Schewtschenko (1814–1861), Dichter, Maler, Begründer der modernen ukrainischen Literatursprache. Aufgewachsen als Leibeigener in der Ukraine, freigekauft nach St.Petersburg, zehn Jahre Verbannung. Ein gewaltiges, geniales Werk von einfachen Gedichten, die zu Volksliedern wurden, bis zu politischen Attacken gegen die Zarenherrschaft (“KAWKAS”) und großen Vers–Epen. Im Epos “Maria” z.B. verzichtet er ganz selbstverständlich sowohl auf die Unbefleckte Empfängnis als auch auf die Auferstehung – 150 Jahre vor Drewermann.

Lessja Ukrainka (1871–1913), Klassikerin der ukrainischen Moderne, Lyrik, Drama. Sie lebte in der russischen Ukraine, veröffentlichte im damals österreichischen Lemberg.

Iwan Franko (1856–1916) aus Lemberg, Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalist, hinterließ ein geradezu enzyklopädisches Werk in verschiedenen Sprachen, u.a. auch Deutsch.

Wassyl Stus (1938–1985), der bedeutenste Lyriker aus der Generation der “60er”. Straflager in Morwinien (1973–77), dann Kolyma (1977–79), dann Kutschino, Nordural (1980–85). Zur Zeit wird im Verlag PROSWITA in Lwiw sein Gesamtwerk herausgegeben. Deutsche Übersetzung erschienen von Anna–Halja Horbatsch.

Bruno Schulz (1892–1942), einer der bedeutensten polnischen Prosa-Autoren der 30er Jahre (“Die Zimtläden”, “Das Sanatorium zur Todesanzeige”), lebte in Drohobytsch, Ostgalizien. Wurde von einem SS-Mann auf offener Straße erschossen.

Deborah Vogel (1902–1942), Philosophin, Lyrikerin (jiddisch und polnisch). Im Lemberger Janiwskyj-KZ erschossen. In seinem Briefwechsel mit Deborah Vogel hat Bruno Schulz das Material für die “Zimtläden” entwickelt.

Mykola Chwylowyj (1893–1933), Theoretiker und Novellen–Autor. Selbstmord 1933. Jurko bezieht sich im Text auf die Satire “Iwan Iwanowytsch” von 1930.

Mykola Kulisch (1892–1938), Dramatiker der “Charkiwer Avantgarde” (20er Jahre). Ermordet in einem sowjetischen Straflager am Weißen Meer. Jurko bezieht sich im Text auf Kulischs wunderbares Drama “Narodnyj Malachij” von 1928/29. Ende der 30er Jahre ins Deutsche übersetzt von Ossip und Roman Rozdolskyj. (Unveröffentlichtes Manuskript).

Horilka ist ein Getränk, das in Deutschland Schnaps und in Russland Wodka genannt wird.

Freiburg/Lwiw Januar 1997

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N12 / 1998

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1997