previous article
next article
to main page

Jurko Prochasko

Die Ukraine: Rand oder Land?

Wer sich schon einmal auf den Weg gemacht hat, vom Osten in den Westen, vom Norden in den Süden, oder umgekehrt, der kennt sicherlich das komische, weil allen Gesetzen der Logik widersprechende Phänomen, dem wir in jedem "weiten Land" begegnen: je weiter wir uns fortbewegen, umso mehr scheinen sich die Grenzen von Raum und Zeit aufzulösen und ineinander überzugehen. Mag sein, daß sich der Reisende zunächst etwas verloren und klein vorkommt ahgesichts einer scheinbar unendlichen Weite. Weiß der Mensch doch gern über alles Bescheid, erst recht wo er steht, und wie er steht. Läßt er sich aber nicht abschrecken von der Weiterreise ins Unbekannte oder ins neu zu Entdeckende dank seiner Neugier und seinem Wissensdrang und nicht zuletzt seiner angeborenen Genußfreudigkeit, so wird er keine Antwort mehr finden auf die Frage: "Wieviel Erde braucht der Mensch?" Schon bald, es sei ihm vergönnt, wird er es wahrlich genießen, seinen Blick in die Ferne schweifen zu lassen bis zum Horizont. So manch Glücklicher soll sogar schon bis über den Horizont hinaus gesehen haben,als er seine Gedanken in die Ferne schweifen ließ.

Der wahre Reisende liebt nun einmal ausgedehnte Touren. Er läßt sich nicht gerne einengen. Man könnte meinen, daß es manchem lieber wäre, nie am Ziel anzukommen und stattdessen immer weiter den Blick über den Horizont hinaus zu richten auf der Suche nach anderen neuen Zielen. Verständlich, wenn man bedenkt, daß für den wahren Reisenden, ungeachtet aller Strapazen, Reisen an sich ja ein Vergnügen darstellt. Solang er unterwegs ist, wird er seine Freiheit genießen, sich ungebunden fühlen. Wenn er sich dann dem Ziel nähert, gerät sein Denken wieder in die geordneten Bahnen von Raum und Zeit. Die Reise ist zu Ende und damit auch das Vergnügen. Da der Mensch, wenn er vernünftig ist, Bescheid weiß über seine Grenzen und seine Endlichkeit, wird es ihm wohl keine größeren Schwierigkeiten bereiten, mit dieser Tatsache fertig zu werden.

Etwas anders verhält sich die Sache, wenn der Reisende unterwegs plötzlich feststellen muß, daß der Boden, auf dem er sich bewegt, gar nicht so fest ist,wie er glaubte. Daß es sich im Gegenteil bereits um ein Randstück handelt. Vorbei ist es nun mit dem frisch fröhlichen Voranschreiten. Sich frei und ungebunden wähnend, dachte man doch, das Ziel sei noch fern. Die Ukraine als Grenzerfahrung? Grenzerfahrung also - im wahrsten Sinne des Wortes? Die Welt ist nun mal groß, und die Geschichte ist lang und bunt. Sehr wahrscheinlich gibt es Ländernamen, deren Herkunft und Geschichte unklar, strittig und dunkel sind. Das hindert die Leute, die dort leben, offensichtlich keineswegs daran,an einen gemeinsamen Sinn des Namens zu glauben (sei es eine überlieferte Legende, ein Mythos oder eine wohl belegte wissenschaftliche Erklärung), sich damit zu identifizieren, ohne den Namen immer wieder hinterfragen zu müssen.

Ich wüßte aber keinen Namen sonst, der so furchtbar gerne unentschieden und provokant geblieben wäre, wie der der Ukraine, und zwar bis zum heutigen Tag. In der Tat weist die Richtung der Antwort auf die Herausforderung des Namens zur Grenze zwischen kompromißlos Gut und Böse. Es gibt aber keine schöne überlieferte Legende über die Entstehung des Namens Ukraine, so etwas wie die ambivalente warm-kriegerische Wölfin, die alma mater. Wenn keine Legende vorliegt, bedeutet der Streit um den Namen leider den Kampf um die Wahrheit. Die Wahrheit kann man manipulieren, verstecken, beschönigen oder versuchen herauszufinden. Wer das letztere wagt, ist ein Grenzgänger. Nicht daß es an Erklärungen des Wortes Ukraine mangelte - ganz im Gegenteil, wir haben es mit einem Problem des Überflusses zu tun, nicht des Mangels. Ich werde mich aber beschränken und in aller gebotenen Kürze die drei wichtigsten Erklärungsmuster benennen.

1. Die erste Erklärung, wenn man die Metapher der Identifikation nimmt, ist diejenige, welche eine positive Selbstidentifizierung unternimmt. Komischerweise ist sie auch vom wissenschaftlich-linguistischen Standpunkt herbetrachtet die einzig richtige. Sie besagt einfach, daß der Name UKRAINA von der allgemeinslawischen Wurzel "KRA" (schneiden) abstammt und ein abgesondertes, in sich separates, seiner Grenzen bewußtes Land meint, das sein Anderssein begreift und so auch zum Ausdruck bringt. Ich war viel zu faul, im deutschen ethymologischen Wörterbuch nachzuschauen, wie das deutsche Wort "LAND" entstanden ist. Aber selbst wenn meine Annahme wissenschaftlich nichthaltbar wäre, so trifft der Vergleich zumindest sinngemäß genau den Kern dessen, was ich sagen will. Land kommt vom Lehen, Lehn. Also etwas, was ein Herrscher seinem Untertanen für besondere Verdienste diesem zu eigen gibt, als Eigentum. Daher auch so viele KRAINA in der ganzen slawischen Welt. Also etwas Abgeschnittenes, Bestimmtes (weil von oben bestimmt), Selbständiges, was klare Grenzen hat und auch jederzeit bereit ist, diese Grenzen zu verteidigen, was man auf gar keinen Fall mit etwas anderem verwechseln darf, und womit man sich schließlich fest identifizieren kann, jedenfalls solange die Grenzen nicht allzu labil, sondern dauerhaft genug sind. Die Bevölkerung versteht sich demnach als ein Land (als KRAJINA), in ihrer Gemeinschaft und ihrem Andersseingegenüber den Fremden. Das wäre der erste Schritt.

Wenn wir auf die Karte der Ukraine im 12.-13.Jahrhundert schauen, bemerken wir, daß es mehrere Ukrainen gibt, und sie sind nicht unbedingt Grenz- oder Randgebiete. Es gibt allerdings auch einige Ukrainen, die tatsächlich an der Grenze liegen, die echten Randgebiete der Rus', nicht nur der Kiewer, weil es auch mehrere Rus' gab. Dies liegt aber lediglich daran, daß all diese Ukrainen zu einer Zeit entstanden, als es in der Mitte, im Kernland, nichts mehr zu verschenken gab. Wenn schon "Randgebiet", dann das der Rus'.

Was aber verwirrt, ist die Tatsache, daß der Name UKRAINA schon sehr früh, nämlich 1187, zum ersten Mal in einer Chronik, in der IPATIJ-CHRONIK, scheinbar spontan belegt ist, und zwar in bezug nicht nur auf die Rus' oder die entsprechenden Länder, sondern auf etwas viel Größeres. Wenn man den hohen Stil der Chronisten bedenkt und ihre äußerste Sorgfalt und Vorsicht im Umgang mit der Sprache, so läßt das vermuten, daß der Name Ukraine schon viel früher als Volksname zur Bezeichnung der eigenen Leute und der eigenen Territorien sich auf die ganze eigentliche Ukraine ausgedehnt und übertragen hat. An dieser Stelle in der Chronik weint und stöhnt nämlich etwas viel Größeres als nur die Rus', und zwar DIE GANZE UKRAINE, nach dem getöteten Fürsten. (Dies scheint übrigens überhaupt der Anfang der langen Geschichte des Weinens und Stöhnens in der Ukraine zu sein.) Schon hier taucht diese besondere Intimität auf (weil es sich schließlich um Gefühle handelt), dieses Heimische, Eigene des Namens Ukraine, die Bereitschaft, den offiziellen, ja imperialen NamenRus' zu opfern. Die Ukraine als Weite.

Eine neue zusätzliche Bedeutung bekommt der Name UKRAINA im 13. Jahrhundert, wenn die Verteidigung der Grenzen und der eigenen Identität gegen die Mongolen und die Tataren in den Vordergrund rückt. Da bedeutet dann die äußerste Grenzfestung auch das Ende, KRAJ, der Ukraine, des Inlandes mit Mutter, Weib und Kind. Da hören Geborgenheit, Wärme, das Zuhause, wo bekanntlich selbst der Rauch so süß riecht, auf. Jenseits der Ukraine lauert das Unheimliche, Gefahr und Tod. Ich würde ein Lied über diesen Namen singen, gäbe es nicht schon Abertausende von echten Volksliedern seit dieser Zeit bis auf den heutigenTag, die es viel schöner können. Es ist vorbei mit der Staatlichkeit und damit auch mit schriftlichen Erwähnungen der Ukraine. Der Name lebt nun in der gesprochenen und gesungenen Luft. Daß er überdauert, haben wir der Folklore zu verdanken. Die Intimität steigt. Die Ukraine, diese "sie", diese große, warme, schützende Mutter (Mutter-Ukraine!). Die Ukraine, wo man die Geliebte zurückläßt und sich als Krieger, Flüchtling, Rebell, Gefangener, Kosak auf den Weg macht, weg von der Ukraine, in die Gefahr, ins Unbekannte. Das ständige Denken an sie. Die Hoffnung auf Heimkehr oder wenigstens der Wunsch, dort begraben zu werden. Das ist die Ukraine in vielen Jahrhunderten desvergeblichen, trotzigen, verzweifelten und hoffnungsvollen Singens. Die echte Ukraine. - Davon stammt die philosophisch-religiöse Ukraine des Skorowoda ab. Die in den höchsten Regionen schwebende, wo die Paradiesvögel singen. Die mystische Ukraine. - Die traurige, vergewaltigte, von Gott und dem russischen Freier im Stich gelassene, verführte und betrogene, die auf die großeVergeltung und große Zukunft wartende, strafend-gütige Ukraine des Schewtschenko. Die mythische Ukraine. - Die spontanen, allerdings nur scheinbar spontanen Ukrainen, dort, wo es wenigstens ein bißchen nach Freiheit und Selbstbestimmung riecht, so die Sloboshans'ka Ukraina. - Die galizischeUkraine von 1848 und in den Jahren danach, die Ukraine aus Solidarität und dem Gefühl der Gemeinsamkeit mit den Blutsbrüdern im Osten. Die bewußt gewählte patriotische Ukraine. - Die revolutionäre Ukraine von 1917-1918. Die Ukraine der blauen Träume. - Die Sowjetukraine, die gar keine war. - Der gemütlich-nostalgische und klein geschnittene Ukraine-Ersatz in den us-amerikanischen Wohnhäusern der Diaspora... Etc.

2. Die zweite Theorie ist so gut bekannt und so weit verbreitet, daß es genügt, sie mit wenigen Stichworten in Erinnerung zu rufen: UKRAINA = GRENZGEBIET, KRESY WSCHODNIE, oder OKRAINA Rußlands, als RANDGEBIET, bestenfalls GRENZLAND, Rand der Welt, der zivilisierten Welt. Eine historische, kulturelle und sprachliche Randerscheinung. Die tiefste Provinz. Die als Ethymologie getarnte Ideologie. Oder - im Fall des GRENZLANDES - die wohlgemeinte und neugierige, westliche, postmoderne, neu-europäische Faszination der Ränder, da muß etwas dran sein, da liegt vielleicht eineverborgene Chance...

3. Und schließlich die dritte Gruppe von Auslegungen, ein Phänomen der letztenJahre. Die Euphorie der Unabhängigkeit. Manchmal die Unabhängigeit vom gesunden Menschenverstand. Die berufenen Propheten, die nun beweisen, daß schon Adam ein Ukrainer war, und die Ukraine das auserwählte Gelobte Land, das Schlaraffenland der Zukunft. Dazu sage ich lieber nichts, außer vielleicht, daß es viel zu heilig und todernst ist. Ach ja, derartige Bücher werden in bestimmten Kreisen der heutigen Ukraine furchtbar gerne gelesen.

Der Name, dieser Identitätsträger mit viel zu vielen Identifizierungsmöglichkeiten. Die Parteilichkeit der jeweiligen Identifizierungen. Die Ukraine auf der Suche nach eigener Identität.

up


N12 / 1998

11

1997