Walter Mossmann
EINE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART
Die Begegnung kam ganz zufällig zustande.
Man könnte auch sagen: wir wurden gelegentlich zusammengewürfelt.
Genau genommen sind wir nur deshalb miteinander ins Gespräch
gekommen, weil es da zufällig eine Gelegenheit gab, nämlich
die Städtepartnerschaft zwischen Lemberg und Freiburg, die noch
aus der sowjetischen Epoche herüberragte. Als Städtepartner
sind wir uns also begegnet, dann haben wir uns im Lauf der 90er Jahre
in ein recht interessantes Gespräch vertieft, nach und nach auch
andere Gesprächspartner aus unse-rer direkten Nachbarschaft Frankreich
und Polen hinzugezo-gen, schließlich wurde die ganze Veranstaltung
mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung als GESPRÄCH ÜBER
GRENZEN auf Projektebene gehoben, und als vorläufige Höhepunkte
fanden zwei Tagungen statt, in Freiburg 1997, in Lwiw 1998. Die Er-gebnisse,
d.h. die für den Druck bearbeiteten Redemanuskripte und Materialien,
legen wir nun in den Nummern 11 und 12 der lwiwer Kulturzeitschrift
"Ji" vor.
Die meisten Teilnehmer des GESPRÄCHS ÜBER GRENZEN befanden
sich zunächst in derselben Lage wie (ver-mutlich) die meisten Leser
dieser Hefte: Nichts genaues weiß man nicht. Für uns, die
Westler, hatte sich jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang die ungeheure
Weite einer gar nicht sehr einladenden terra incognita ausgebreitet,
jener scheinbar monolithische Ost-Block mit dem frostklirrenden Zentrum
Moskau, das nirgends so real existierte wie in der Tagesschau. Den Ostlern
hingegen erschien unser Oberrheintal als eine Re-gion des märchenhaften
Überflusses ("Quel beau jardin!") und der grenzenlosen
Harmonie, sie duftete nach allem, was ihnen mangelte, so wie den Westdeutschen
nach dem Krieg das ameri-kanische Goldorangenland geduftet hatte.
Und dann Galizien.
Alle diese Namen, die man schon irgendwann gehört oder gelesen
hatte, ohne sie genau verorten zu können. Das Traklsche GRODEK
zum Beispiel - gab es das wirklich? In der Tat: eine Kleinstadt, ukrainisch
"Horodok", eine halbe Stunde westlich von Lemberg (eine "Grodeker
Straße" führt dort hin-aus), wo vom 24. bis zum 29.
August 1914 eine fürchterliche Schlacht zwischen Russen und Österreichern
getobt haben muß (in beiden Armeen ukrainische Soldaten). Georg
Trakl, der damals 28jährige Dichter aus Salzburg, der erschrockene
Sanitäter, der Kokainschnupfer, schrieb das berühmte Poem
wenige Monate vor seinem Tod im Krakauer Lazarett. Für das deutsch-ukrainisch-polnische
Programm SPIEGELUNGEN - TEXTE UND NEUE MUSIK (mit dem frei-burger ensemble
recherche) hat der lwiwer Lyriker Timofij Hawryliw 1996 die ukrainische
Nachdichtung verfaßt (11, p:61/99).
Knapp 30 Jahre später die deutschen Ghettos und die deutschen
Vernichtungslager in Galizien. Nein, die heutige westukrainische Region
Halytschyna hat nur noch wenig gemein mit dem polnischen Galizien der
Vorkriegszeit, wo einmal das galizische Judentum zuhause war. Thomas
Held hat im Rahmen der GESPRÄCHE über die Lemberger Ereignisse
der Jahre 1941 bis 44 referiert. (Sein Text "VOM POGROM ZUM MASSENMORD"
erschien in dem ebenfalls der freiburger Kulturpolitik geschuldeten
Band LEMBERG-LWOW-LVIV, Böhlau Verlag 1995). Daran anknüpfend
untersucht der Kiewer Soziologe Leonid Finberg die Situ-ation in der
heutigen Ukraine: "UKRAINIAN-JEWISH RELA-TIONS: MYTHOLOGIE SUBSTITUTING
FOR REALITY" (11, p:92), und konstatiert dort u.a., daß ein
enormer Nachhol-bedarf an Forschung und öffentlicher Diskussion
über den Antisemitismus und die Geschichte des ukrainisch-jüdischen
Zusammenlebens besteht.
Erschwert wird diese Diskussion allerdings zur Zeit noch durch die
ukrainische Rechtfertigungs-Sucht und die deutsche Beschuldigungs-Wut.
Schnell, hart und unge-recht fallen die Urteile der Westler. Ich nehme
mich dabei nicht aus. Nach einem Interview mit dem Karpathenbauern Josyp
Onufriw aus Kortschen im Jahr 1992 war ich fest davon überzeugt,
in diesem bekennenden Nationalisten und UPA-Sympathisanten einen antisemitischen
Kollaborateur kennen gelernt zu haben, bis sich nach seinem Tod herausstellte,
daß er in Israel als "Gerechter" geehrt wird, weil er
in der Nazizeit mehrere jüdische Familien versteckt und ihnen zur
Flucht verholfen hat. Mit Widersprüchlichkeiten dieser Art befaßt
sich der Text "GESPRÄCHE MIT JURKO" (11, p:10), der Anfang
1997 als eine Art Prolog zu GESPRÄCH ÜBER GRENZEN geschrieben
worden ist.
Zwei Essays Lemberger Autoren sind dazu geeig-net, ein westliches
Lesepublikum an die polnisch-ukrainische Grenze heranzuführen:
Oles Pohranytschnyj (sein Name heißt übersetzt: Der Grenzer)
erinnert mit seinem Text "KONZERT FÜR EINEN GRENZER MIT DER
GRENZE" (11, p:117) an jene erst kürzlich beendete Epoche,
in der die ukrai-nische Westgrenze gleichzeitig auch die Grenze der
Sowjet-union war, ein bis an die Zähne bewaffneter Zaun, eine "Ent-eignungszone",
eine "sterile Dichtung", ein "Schutzwall", von den
Kindern erlebt als "das Ende der Welt". Eine Grenze, die wir
im Westen gar nicht mehr wahrgenommen haben, weil uns die Berliner Mauer
die Sicht nach Osten versperrte. Jurko Prochasko untersucht in "UKRAINE:
RAND ODER LAND" (11, p:4) die wechselhafte Bedeutung des Wortes
UKRAINA und jene absichtsvolle Pseudo-Ethymologie, die das Land Ukraine
zu jedermanns "Grenzland" machen wollte. An dieser Stelle
möchte ich darauf hinweisen, daß Jurko diesen Text in deutscher
Sprache verfaßt hat.
Die Grenze an San und Bug existiert noch nicht sehr lange. Über
ihre Genesis zwei Texte aus Przemysl bzw. Warschau, einmal von Stanislaw
Stepien und Anna Rogows-ka "FÜNFZIG JAHRE POLNISCH-UKRAINISCHE
GRENZE" (11, p:20), sowie von Tadeusz Olszanski "ZUR ENTSTEHUNG
DER POLNISCH-UKRAINISCHEN GRENZE" (12, p:20). Zwei nüchterne
Bestandsaufnahmen ohne die üblichen Ressenti-ments und Klagen über
die "verlorenen polnischen Ostgebiete". Das ist beileibe nicht
selbstverständlich, denn auf verletzte nati-onale Gefühle
und revanchistische Begehrlichkeiten spekuliert nicht nur in Deutschland
eine Politik, die vom rechten Rand weit in die sogenannte Mitte ausgreift.
Mit seinen "STUDIEN ZUR ENTSTEHUNG DER POLNISCH-UKRAINISCHEN
KONFLIKTE" (11, p:56) hat der lwiwer Historiker Andrij Pawlyschyn
etwas gewagt, was offen-bar erst neuerdings gewagt werden kann. Er hat
nämlich ver-sucht, eine nicht-apologetische neuere Geschichte der
gegensei-tigen völkischen Verteufelungen, der Kämpfe, der
Kriege und der Vertreibungen zu skizzieren. Gegenläufig parallel
dazu ord-net Stanislaw Stepien in seinem Aufsatz "DAS GEMEINSAME
KULTURERBE" (12, p:148) allerlei historisches Material vom frühen
Mittelalter bis in die Nachkriegszeit, das für Zusammen-arbeit
im beiderseitigen Interesse spricht. Und schließlich ent-wirft
Andrij Pawlyschyn "PERSPEKTIVEN FÜR EINE VER-STÄNDIGUNG
AN DER GRENZE" (12, p:138) und gibt damit einige wichtige Stichworte
für eine weiterführende Diskussion.
Wenn eine solche künftige Diskussion tatsächlich zu Fortschritten
weiterführen sollte, bräuchte es auch in Zu-kunft die Vermittler
zwischen den beiden Ländern, jene Grenz-gänger, auf die man
hört, so wie man seinerzeit auf Andrej Graf Scheptyckyj gehört
hat, der als Metropolit der ukraini-schen griechisch-katholischen Kirche
fast ein halbes Jahrhun-dert lang (1901-1944) auf dem St.Georgs-Hügel
in Lemberg regierte. Zwei Arbeiten beschäftigen sich mit seiner
Rolle in den komplizierten Verhältnissen jener Epoche. Einmal "DER
METROPOLIT" (11, p:82), ein bewußt ikonografisches Portrait
von Andrij Schkrabjuk, und ein bei aller Bewunderung und Sympathie auch
kritischer Text von Anna Veronika Wendland "DER METROPOLIT. VERSUCH
ÜBER ANDREJ SCHEPTYC-KYJ" (11, p:106).
Für uns Westler war es recht interessant, einmal sozu-sagen auch
von Osten her, nämlich durch die Brille der ukraini-schen Historiker
auf das imperiale Profil der polnischen Großmacht zu schauen (so
kannten wir Polen gar nicht) und bestimmte Muster des traditionellen
ukrainischen Polenbildes mit dem traditionellen deutschen Polenbild
zu vergleichen. Dazu vier literarische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert:
Sowohl Nikolai Gogol in der berühmten, in Hollywood verfilmten
Erzählung "TARAS BULBA" von 1835 (11, p:14) als auch
Taras Schewtschenko in seinem Versepos von 1841 "DIE HAIDAMAKEN"
(11, p:54) legen den polnisch-ukrainischen Konflikt in eine heroische
Vergangenheit und konzentrieren ihn auf den Glaubenskrieg zwischen den
herrschenden römisch-katholi-schen Polen und den revoltierenden
orthodox-ukrainischen Ko-saken, eine Sache auf Leben und Tod, selbst
in der eigenen Familie. Den deutschen Autoren dagegen begegnen die Polen
grundsätzlich als bemitleidenswerte Opfer der Zaren-Despotie, als
romantische Revolutionäre, auf die sich die deutschen Freiheitswünsche
vortrefflich projizieren lassen. In diesem Sinne vollkommen political
correct und nach dem Geschmack seiner freiheitlich gesonnenen und vormärzlich
gestimmten Zeitgenossen das Polenlied des August Graf von Platen von
1831 "VERMÄCHTNIS DES STERBENDEN POLEN AN DIE DEUTSCHEN"
(11, p:37) mit jener unangenehm klirrenden Zeile: "...und (wir,
die Polen) atmen unsern Russenhaß in eure (deutschen) Seelen
aus". Ganz anders dagegen treibt Heinrich Heine dann 1851 in
"ZWEI RITTER" (11, p:72) sein ironisches Spiel mit dem Widerspruch
zwischen der romantisch-heroischen Inszenierung der polnischen Freiheitskämpfer
auf der Pariser Bühne und den banalen Realitäten des Exils,
das allerhand unheroische Überlebenskünste verlangt, besonders
wenn es sich in die Länge zieht.
Zwischen Lemberg und Freiburg liegen 1600 km, aber das macht den Abstand
nicht aus. Den Abstand zwischen diesen beiden ex-habsburgischen europäischen
Grenzregionen hat die neu-este Neuere Geschichte hergestellt, und infolgedessen
bestaunen wir wieder einmal das Mysterium der Ungleichzeitigkeit. Denn
während unsere Partner die total mißglückte UNION (der
sozialistischen Sow-jetrepubliken) fliehen und versuchen, sich selbständig
zu machen, mit einer eigenen nationalen Währung und allem drum
und dran, bauen wir gerade die (europäische) UNION auf, mit einer
gemein-samen Währung und allem drum und dran. Während die
Ukraine das vor 50 bzw. 80 Jahren unvollendet liegengebliebene Projekt
der Nationbildung mit großen Hoffnungen und großen Gefühlen
wieder aufgreift, sind wir froh, das Prinzip Nationalstaat nach all
den Katas-trophen des 20. Jahrhunderts wieder loszuwerden, d.h. in den
größe-ren europäischen Strukturen aufgehen und verschwinden
zu lassen.
- Der freiburger Historiker Peter Fäßler legt mit dem Text
"DIE WACHT AM RHEIN" (12, p:38) einen ziemlich abschreckenden
historischen Abriß über die Geschichte der deutsch-französischen
Grenze am Oberrhein vor und zeigt, wie eine noch im 15. und 16. Jahrhundert
aufs schönste integrierte und blühende Region im Zuge der
modernen Nationalstaatsbildung durch eine angeblich "natürli-che"
Grenze zerschnitten wurde, wie diese Grenze in drei mörderi-schen
Kriegen zur fixen Idee geriet, wie sie einbetoniert, umkämpft,
gesprengt und hin und hergeschoben wurde, und welche Mühe es kostet,
nach soviel Haß und Tod und Leiden und Verbiesterung die historische
Fehlentwicklung im Interesse der europäischen Einigung wieder auf
Null zurückzudrehen.
- Die Idee vom grenzüberschreitenden aleman-nischen Lebensraum,
in dem auf der Basis einer gemeinsamen Volkskultur Zusammenhänge
quer zu den Strukturen der vier betroffenen Nationalstaaten entstehen
könnten, untersucht - autobiografisch, skeptisch, engagiert - der
Autor und Kultur-arbeiter ("Kulturologe" würde man in
Lwiw sagen) Wolfgang Heidenreich in seinem Essay MEIN ALEMANNIEN (12,
p:12). Als Anhang zu seinem Text präsentiert er kleine Prosastücke
von 5 Autoren seiner Wahl: Von dem alemannischen Klassiker JOHANN PETER
HEBEL (p:34) und der Lyrikerin von Rang MARIE LUISE KASCHNITZ (p:32),
von dem als "der kuriose Dichter" wiederentdeckten
HANS MORGENTHALER (p:30) und von den Heutigen FRANZ HOHLER (p:33) und
PETER BICHSEL (p:31) - die drei Letzteren alle aus der Schweiz.
- Schließlich der Elsässer Jean Jacques Rettig, Zeitzeuge,
ökologischer Aktivist und autobiografisch orien-tierter Autor über
LE REGIONALISME DES ANNEES 70 (12, p:74). Er beschreibt, wie sich -
keineswegs unter der Fahne ir-gendeiner Ideologie! - aus ziemlich einfachen
und praktischen Erwägungen in den 70er Jahren gegen die damalige
Politik sämtlicher Regierungen in Bonn, Paris und Bern jene berühmte
grenzüberschreitende deutsch-französisch-schweizerische ökologische
Volksbewegung am Oberrhein entwickelt hat, als deren Erbe sich z.B.
auch die heutige deutsche rotgrüne Re-gierung versteht. (Ob sie
dazu ein Recht hat, muß sie noch be-weisen.)
Im Schlepptau von Jean Jacques Rettig drei Dichter aus dem Elsaß:
In französischer Sprache "CONFIGURATION STRASBOURGEOISE"
von Hans Arp (p:90), in deutscher Spra-che "Die Aschenhütte"
und "In Jeder Amsel Hab Ich Dich Geliebt" von Yvan Goll (p:94),
und insgesamt fünf Gedichte im elsässischen Dialekt nebst
einem programmatischen Prosa-fragment von André Weckmann (p:98)
aus den 70er Jahren. (Weckmanns Gedichte leben natürlich vor allem
als laut ge-sprochene, rezitierte Verse, als Mund-Art, die Schriftform
bleibt immer nur quasi eine Notation).
Daß die deutsch-französische Zweisprachigkeit im Elsaß
etwas völlig anderes bedeutet als die ukrainisch-russi-sche in
der Ukraine (im Elsaß eine Überlebenschance für das
Elsässische, in der Ukraine dagegen eine Gefahr für das Über-leben
des Ukrainischen überhaupt), haben wir inzwischen ge-lernt. Auch
der Verweis auf die dreisprachige Schweiz, der den Westlern so leicht
von der Zunge geht, macht keinen Sinn, denn die Existenz und Weiterentwicklung
der 3 schweizer Sprachen wird ja außerhalb der Schweiz durch die
riesigen Sprachagenturen in Frankreich & Belgien, Deutschland &
Österreich sowie in Italien garantiert, aber das Ukrainische würde
verschwinden, wenn es in der Ukraine selbst unter die Räder käme.
Zu diesem Problem der Sprachgrenzen im eige-nen Land ein sehr nachdenklicher,
informativer und skeptischer Text von Emilija Ohar "ZWEISPRACHIGKEIT
IN DER UKRA-INE HEUTE" (12, p:110). Wir haben an den lwiwer Kiosken
gesehen, welchen Beitrag ein international operierender, expan-dierender
Verlag aus der Oberrheinregion für die Zerstörung des Ukrainischen
leistet: Der Burda-Verlag aus Offenburg ver-kauft dort nämlich
seine attraktiven bunten Massenblätter für Hausfrauen, Teenager
usw. unter dem ausdrücklichen Etikett UKRAINISCHE AUSGABE - in
der russischen Version. Selbst-verständlich ist das "kostengünstiger",
als wenn man 2 unter-schiedliche Ausgaben herstellen müßte.
Und möglicherweise ist auf die Dauer gegen soviel ökonomische
Selbstverständlich-keit kein Kraut mehr gewachsen.
Emilija Ohar stellt keine Prognose für das nächste Jahrtausend,
aber die Politiker riskieren dann doch einen Blick in die Zukunft:
- Taras Wozniak, nach einem historischen Exkurs über 1000 Jahre
Krieg und Frieden und Betrachtung der "MODELLE DES POLNISCH-UKRAINISCHEN
GEGENEINAN-DER-NEBENEINANDER-MITEINANDER" (11, p:39), stellt als
erster die für die Zukunft entscheidende Frage, wie sich wohl die
europäische Westintegration Polens auf die polnisch-ukrai-nischen
Grenze auswirken wird. Zum Optimismus verdammt, formuliert er Szenarien,
nach denen die Ukraine hinter einem "Lotsen" Polen im "Tandem"
nach Europa gelangen könnte. Ansonsten falle die Tür zum Westen,
die sich in den 90er Jahren gerade erst geöffnet hat, zum Schaden
aller und mit einem lauten Knall wohl wieder zu.
- Ziemlich detailliert beschreibt dann Wilfried Tel-kämper, Mitglied
des Europaparlaments (Partei: Bündnis 90/Die Grünen), in seinem
Text "SCHENGEN UND DIE FOLGEN. ÖFFNUNG NACH INNEN - ABSCHOTTUNG
NACH AUSSEN" (12, p:184), wie sich das unierte Europa nach innen
als "Schen-genland" grenzenlos konstituiert und nach
außen furchtsam und rigoros abgrenzt.
- Gernot Erler, Bundestagsabgeordneter und stellver-tretender Fraktionsvorsitzender
der SPD in Bonn (bzw. Berlin) bringt nun in seiner Skizze "POLEN
UND DIE UKRAINE: SUB-JEKTE ODER OBJEKTE IM PROZESS DER EUROPÄISCHEN
IN-TEGRATION" (12, p:196) als potentielle Gegenfigur zur Euro-päischen
Union die Russische Föderation ins Spiel. Er warnt davor, das Glück
einer NATO- oder EU-Mitgliedschaft zu über-schätzen, die Motive
der westeuropäischen oder us-amerika-nischen Außenpolitik
als altruistisch mißzuverstehen und die ostmitteleuropäischen
Verhältnisse unter Ausblendung Ruß-lands neu gestalten zu
wollen. (Geschrieben wurde dieser Text noch vor den September-Wahlen.
Ob der Machtwechsel in Deutschland auch Auswirkungen auf die europäische
Ostpolitik haben wird, zeichnet sich noch nicht ab.)
Soweit der Stand der Dinge im GESPRÄCH ÜBER GRENZEN. Fortsetzung
folgt.
An dieser Stelle nur noch zwei Schlußbemerkungen:
1. Zum Problem der Coverköpfe.
- Seit dem Erscheinen von Journal Nr.11 wird gefragt, welche be-rühmte
Person der Zeitgeschichte denn diesmal auf dem Cover abge-bildet sei
und wessen Uniform der junge Krieger trage. Antwort: Dieser Krieger,
blutjung, wie man so sagt, ist keine Berühmtheit, aber die Uniform
macht aus ihm einen Angehörigen der polnischen Armee. Vielleicht
befindet er sich im Krieg mit den Ukrainern, vielleicht bereitet er
sich darauf vor, Polen gegen die heranrollende Hitler-Armee zu verteidigen,
vielleicht hat er ukrainische Verwandte auf der anderen Seite, und diese
gehen mit den Nazi-Deutschen, oder mit der Roten Armee, oder auf eigene
Faust zu den Partisanen. Auf dem rückseitigen Deckblatt sieht man
ihn wieder, offenbar älter geworden, vermutlich in den 50er Jahren,
in der Trümmer-, in der Aufbau-, der GuLag-Zeit. Und die Uniform
ist er los.
- Und um heute schon alle künftigen Fragen zum Cover-Portrait
von Journal Nr.12 zu beantworten: Es gibt keine näheren Auskünfte.
Vielleicht ist diese Frau die Mutter des Kriegers, viel-leicht auch
nicht. Vielleicht trägt sie das "nationale Kostüm",
wie man in der Ukraine sagt, sozusagen die ethnische Uniform der ver-heirateten
Frau, irgendwo in den Karpathen. Oder der Kopfputz gehört zur traditionellen
Tracht im (badischen) Glottertal oder im (elsässischen) Munstertal.
Vielleicht sind ihre Gesichtszüge typisch slawisch, oder gallisch,
oder keltisch, oder tatarisch, oder rätoroma-nisch oder sonstwie
typisch für definitiv unbekannte Herkunft. Ob sie sich ohne die
Folklorekrone leichter fühlt, wissen wir nicht.
2. Ein abschließendes Urteil des in Lemberg geborenen großen
Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec über unsere unermüdlichen
Be-mühungen um das richtige Dolmetschen, Übersetzen, Vermitteln
zwischen Ukrainern, Deutschen, Polen, Franzosen im GESPRÄCH ÜBER
GRENZEN:
Daß sich die Menschheit
noch nicht restlos
aufgefressen
hat,
haben wir der segensreichen
Pause
im Bau des Babelturmes
zu verdanken -
zum Glück
verstehen die einen nicht,
was die anderen
reden.
Und ihr wollt diese
Idylle
zerstören?