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DIE REISE AN DER GRENZE

von Markus Jaroschka

I

Sie hatten ein fernes Reiseziel vor Augen. Ein Land im Osten. Er wunderte sich, noch auf vertrauten Straßen zur ersten Grenze, über den Mut, diese Fahrt so unvermittelt, ohne Vorbereitungen anzutreten. Seine Tochter, neben ihm im Auto, döste mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie hörte Musik. Man konnte es erkennen, da sie über ihr langes, blondes Haar einen schwarzen Kopfhörer gestülpt hatte. Wenn er auch keinen Laut hören konnte, wußte er, daß sie Popmusik hörte. Denn diese 'laute Musik', wie er sie meist abschätzig nannte, war diesem jungen Mädchen sehr wichtig.

Und dennoch diese Reise. Er hatte seine Tochter fast beiläufig gefragt, ob sie, in den kurzen Winterferien, vielleicht mitfahren möchte. Zu seiner Überraschung nickte sie ohne zu zögern. Ihre Entscheidungsfreude schien jedoch mit dem Sachverhalt Neugierde nicht ausreichend begründet, denn sie stellte keine weiteren Fragen. Er selbst war schon in diesem Land P. gewesen. Die Augen während der Fahrt auf das Straßenband geheftet, dachte er zurück an seine erste Reise dorthin. Damals überschwemmten die Eindrücke sein Schauen, seine Wahrnehmungen. Er konnte vieles nicht begreifen, nicht einordnen in gewohnte, vertraute Lebensabläufe. Die Außenwelten waren so anders: die Dörfer, die Städte, die Menschen umgab ein Schleier der Fremdheit.

Trotzdem mahnte er sich selbst immer wieder vor der Gefahr des unbemerkten Vorurteils. Er wußte, daß er Berichte über dieses Land allein von anderen erhalten hatte. Von fremden Augen gesehen. Daraus war in ihm ein Bild entstanden, das sich im Laufe der Jahre verfestigt hatte. Und dieses Wissen war nicht freundlich, nicht durchsetzt von pulsierender Wärme. Er hatte, entdeckte er eines Tages, nie Fernweh nach diesem Land verspürt. Ein unerklärliches Fernweh, wie er es nach südlichen Ländern kannte. Daher hoffte er, diesmal, auf dieser zweiten Reise, endlich zu den Innenwelten dieses Landes, dieser Menschen vordringen zu können. Ein ihm innewohnendes Verlangen, eine wichtige Grunderfahrung, wie er trotz aller Fragezeichen vermutete, an jene Grenze zu gelangen, wo Außenwelt in Innenwelt übergeht, in jenen Freiraum mit seiner imaginären, verstehenden Helligkeit. Ein ihm aber oft gar nicht so bewußtes Anliegen. Die Klarheit, ja die Einsicht entstand immer erst in der Ferne räumlichen Erlebens. Mit dieser Erfahrung von Distanz hatte er diese Reise angetreten.

Seit Stunden waren sie unterwegs. Sie hatten das eigene Land verlassen, durchfuhren ein Zwischenland, das nicht einlud stehenzubleiben. Wieder ein Vorurteil, fragte er sich. Aber die roten Fahnen und Lautsprecher auf allen Strommasten in den durchfahrenen Dörfern erzeugten jene nicht mehr verdrängbare Befremdlichkeit, die das starke Verlangen aufkommen ließ, noch rascher der nächsten Grenze entgegenzufahren. Das Mädchen hatte die Hörer vom Kopf genommen und schaute schweigend in die vorbeistreichende, kaum winterliche Landschaft. Und doch war es mitten im Februar. Seinem Vater stellte es nur wenige Fragen über dieses Land. Seine Antworten waren kurz, denn er wußte zu wenig. Nur Berichte aus Zeitungen und Fernsehen einfach wiederzugeben, fand er in diesem Augenblick der Fahrt völlig unpassend. Er erinnerte sich wiederum des Problems des Vorurteils, eine Frage, die ihn oft quälte. Aber er sprach diesen Gedanken nicht aus. Vielmehr erklärte er sich das anhaltende Schweigen seiner Tochter gleichfalls als jenes Erfahren von immer neu gestellten Fragen, ein in Wahrheit ständiges Zweifeln, welches er seit Kindheit kannte und das er in der Abfolge seines bisherigen Lebens mit seltsamer Ausdauer immer wieder auch suchte.

Im Vorbeigleiten von Landschaften, zumeist unbekannten, entstand in ihm ein unerklärliches, innerliches Strömen. Ein Gefühl, eine Erfahrung, worin ihm die hellen und dunklen Landschaften Botschaften, ja bleibende Wirklichkeiten erzeugten. Und dieses Wissen beruhigte ihn. In ihnen las er die Zeitenfolge ab: Sommer, Winter oder Frühling oder ein durchsichtiger Herbst waren die Markierungen für Naturabläufe, für 'deutliche Lebensabläufe'. Es waren die Bilder von Jahreszeiten, in denen man noch das Nach und Nach der Zeit ablesen konnte; und die manchmal das Erlebnis eines geheimnisvollen 'seelischen Rhythmus' gewährten. War darin, gemäß mancher Überlieferung, das Ausharren, die vermeintliche Sicherheit, die Gläubigkeit der Alten begründet? In seltenen Augenblicken begeisterte ihn die Idee der 'Wiederverzauberung der Welt'. Und er merkte in dieser Art von Träumen, in einem unvermittelt hellerem Sehen: Für das Ungewöhnliche, das Rätselvolle in der Zeit war kein Platz mehr. Merkwürdig, dachte er manchmal, daß so viele Schriftsteller bei dieser Entzauberung der Welt mitgeholfen haben. Ohne Gegengabe. Für ihn - ein unerträglicher Widerspruch! Mit einem kurzen Blick auf die stille Begleiterin überlegte er, ob sie vielleicht ebenso in ein solch hintergründiges Denken geraten sei. Er wagte es nicht, sie danach zu fragen. Zu sehr hatten, so überlegte er, seine Gedankengänge mit seinem persönlichen Zugang zur 'Welt', seiner Grenzsituation zur Realität zu tun. Wie sollte das ein anderer verstehen, dieses Auseinanderklaffen von Denken und Wirklichkeit, von Sprache und 'Welt'? Gab es dafür überhaupt eine allgemeingültige Beschreibung, ein Bild, einen umfassend wirklichen Namen?

 

Nach wortlosen Stunden, das Mädchen schlief an seiner Seite, hatten sie den angestrebten Grenzort des Landes P. erreicht. Nur wenige Autos standen vor dem geschlossenen, massiven Grenzbalken. Jedoch nichts rührte sich. Er stellte den Motor des Wagens ab. Und wieder eine Grenze, sagte er laut vor sich hin, ohne eine Antwort zu erwarten. Erst nach langer Zeit deutete ein Grenzer, mit den Pässen in das Zollhaus, eine Baracke, zu kommen. Dort, in einer schäbigen Wartehalle, erneut warten, schweigend in einer kurzen Reihe von Reisenden. Auffällig die Langeweile im Gesicht des Grenzers hinter dem Pult, dachte der Mann. Kein Wort des Grußes, nur ein beiläufiger Blick auf den Fremden. Beim Durchblättern der Pässe kein vielleicht interessiertes Aufschauen. Seine Körperhaltung drückte Abwesenheit aus, ja, in der erzwungenen Begegnung mit den Durchreisenden eine unerklärliche Verachtung. Dies inmitten von Europa, murmelte der Mann und wußte nicht, ob seine Tochter seine Worte verstanden hatte. Sie stand teilnahmslos neben ihm und starrte irgendwohin. Woran dachte sie? Empfand sie das Geschehen hier nicht als Demütigung? Mühsam unterdrückte er die Welle eines plötzlich aufsteigenden Zorns. Aber er wußte, hier galt es zu schweigen. Der Grat dieser, wie er körperlich empfand, unmenschlichen, fiktiven Grenzziehung, eine bodenlos tiefe Felsspalte, dachte er, war nur dadurch überwindbar, gespielte Geduld aus dem Gesicht sprechen zu lassen. Die einzige Methode für das sichere Weiterkommen. Aber er ahnte, daß die Grenzüberschreitung erst begonnen hatte.

Nach der Paßkontrolle wieder gemeinsames Warten im Auto. Im Freien zu stehen war zu kalt, denn ein eisiger Wind blies durch das enge Tal. Und in diesem Geschehen versuchte der Mann dem unruhig werdenden Mädchen zu erklären, daß dies hier so üblich sei und nichts Besonderes bedeute. Er merkte, daß seine Stimme dabei nicht sicher wirkte und daher schwieg er wieder. Sie beobachten, mit dem Gefühl gemeinsamer Hilflosigkeit, wie in einer Stunde lediglich drei Autos den Schlagbaum passierten. Langsam durchzog Kälte ihre Körper. Einige Krähen, mit sattem schwarzen Gefieder, suchten am Straßenrand hinter dem Grenzbalken, im 'anderen Land', nach Nahrung. Es sind schöne Tiere, dachte er und fühlte eine neue Ruhe in sich. Er atmete auf.

Nach einiger Zeit, schon im Licht eines späten Nachmittags, näherten sich zwei Grenzer dem Wagen, deuteten dem Mann und dem Mädchen auszusteigen und begannen, ohne ein Wort zu sagen, im Reisegepäck zu wühlen. Schließlich wurde der Inhalt von Koffer und Taschen neben dem Auto auf eine breite Bank geleert und durchsucht. Allmählich erkannten die beiden Reisenden, daß Kalender, Notizbüchlein, private Aufzeichnungen das besondere Interesse der Grenzer erregten. Verstörtheit überzog das Gesicht des Mädchens, als ein Grenzer plötzlich mit Papieren aus ihrer zierlichen Handtasche, vielleicht war der ihr zur Zeit wichtigste Brief darunter, im Zollhaus verschwand. Fassungslos ihr Blick. Der Vater nahm seine Tochter behutsam zur Seite und setzte sie in den Wagen. Sodann, aufgrund eines Zeichens, eine herrische Armbewegung, des anderen Grenzers, begann er voll Zorn die Gepäcksstücke wieder im Kofferraum zu verstauen. Mit dem Gefühl einer bisher nicht gekannten Ohnmacht flüchtete er danach ins Auto. Die beiden schwiegen. Er starrte durch die Windschutzscheibe in die fremde Landschaft. Der Schnee war in diesem Winter bisher ausgeblieben. Durch einen kleinen Taleinschnitt konnte er die Felder und Hügel sehen, die sich grau-braun in eine schon dunkle Weite erstreckten.

Später, sie hatten es aufgegeben, nach der Zeit zu sehen, brachte der Grenzer die Schriftstücke des Mädchens zurück und deutete, wiederum wortlos, loszufahren. In seinem Gesicht konnte man sich kein Lächeln vorstellen. Wie mochte dieser Mann seine Frau oder sein Kind anschauen, fragte er sich im stillen. Doch der Grenzbalken ging hoch, und der reisende Mann verlor jäh diesen Gedanken, denn sein Blick erfaßte die unbekannte Straße vor sich. Schon nach kurzer Zeit fühlte er, daß die freie Bahn ihnen kein wirklich befreiendes Entkommen vermittelte. Zu schwer lastete die eben durchlebte Erfahrung auf beiden. Er, der Erwachsene, saß hilflos neben dem Mädchen. Sie, mit merkwürdiger Starrheit, ohne Blickwendung zur Seite. Die Dunkelheit breitete sich allmählich über das ganze Land. Schweigend schaltete er die Autoscheinwerfer ein. Die beiden fuhren endgültig der Finsternis entgegen. Er wußte, daß sie auf ihrer Reise an die erste, unsichtbare Grenze gelangt waren ...

II

Tief in der Nacht erreichten sie W., die Hauptstadt des Landes. Es war eine auffallend dunkle Stadt. Er erinnerte sich jäh an das Lichtermeer beim Landeanflug auf die Stadt N., weit über dem Meer. In der Müdigkeit, die ihn schon gewaltig anfiel, wärmte ihn diese ferne Erinnerung. Er lächelte. Und jetzt die Wiedererinnerung an diese dunkle Stadt vor einem Jahr, an Menschen, die so herzlich in der Begegnung, aber auch, kaum merklich, ihr ängstlich-scheuer Rund-um-Blick. Ein ständiges Zurückblicken, ein Nachhorchen auf ihre zumeist leisen Stimmen. Die spürbare Furcht vor der Lautheit. Manchmal sichtbare Verzweiflung. Er nahm sich vor, diesmal besonders darauf zu achten. Auf diese stille Grenze. Seiner Tochter müsse er das noch sagen, hinweisen auf das für sie Unsichtbare, dachte er. Sie schlief neben ihm, das Licht der Straßenlampen huschte während der Einfahrt in die Stadt rhythmisch über ihr Gesicht. Immer wieder suchte er es, nach der Schattenpause, im kurzen Lichtschein zu erfassen; er liebte es.

Später, in der noch dunkleren Vorstadt, herzliche Begrüßung durch die noch unbekannten Gastgeber, ein Mann im mittleren Alter mit sehr kurzen Haaren, eine zierliche, noch junge Frau, mit schalkhaften, sprechenden Augen. Es war weit nach Mitternacht. Sie hatten geduldig gewartet. Und dennoch ein übervoller Tisch, danach, in einem Zimmer mit skurrilen Möbeln aus verschiedenen Jahrzehnten, ein bodenloser Schlaf. - Am nächsten Morgen, beim Frühstück, erkennen der Einfachheit der Wohnung. Beim Blick hinaus aus dem Küchenfenster in den Hof, der einem Altwarenhändler als Abstellort zu dienen schien, ein Erschrecken über die Schiefheit der Garage aus schon angemorschtem Holz. Gestern nacht noch war er dringend gebeten worden, hier sein Auto einzustellen. Er sagte jedoch nichts. Der Gastgeber, ein hochgestellter Mitarbeiter eines Ministers, war an seine Seite getreten, gleichfalls mit Blick auf das Gerümpel aus Holz, Eisen, Steinen, gebrauchten Ziegeln, Autowrackteilen und alten Gummireifen. Mit verhaltener Stimme bemerkte er, die Sprache der Gäste beherrschte er gut, daß P. vor großen Reformen, vor wichtigen Umwälzungen stünde. Zur Zeit herrschten noch große Probleme bei der Versorgung der Menschen mit wichtigen Gütern. Aber in seinem Amt, dem Planungsministerium, seien schon die Pläne fertig, um endlich die Bedürfnisse aller in diesem Lande zu befriedigen. Trotz einer großen Gestik seiner Hände strahlte seine Stimme keine Zuversicht aus. Der Gast horchte auf, an die Erlebnisse seines letzten Besuches erinnert. Er nickte zu den Worten, schaute aber dem Gastgeber dabei nicht ins Gesicht. Er fühlte die Gewalt der Grenze zwischen enttäuschten Hoffnungen, Wünschen und Wirklichkeiten. Weil es ihm unangenehm war, in die Armut, in das Chaos dieses Hofes sehen zu müssen, trat er vom Fenster zurück. Die Frau mit den leuchtenden Augen wickelte soeben auf dem Küchentisch ihr Kind. Daneben stand ein zufälliger Besuch, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, und scherzte mit dem Baby. Es gab freudige Quieklaute des Wohlbehagens von sich. Zwei Welten, dachte der Gast, und ihm fiel dazu noch das Wort 'Weltgrenze' ein; nichts ist naturgemäß, nichts, denn das Wirkliche ist immer anders, ganz anders, fügte er für sich hinzu.

Nach dem Frühstück Aufbruch im dichten Nebel zur Besichtigung der Hauptstadt. Beim Hinaustreten in den grauen Februarmorgen entdeckt der Gast die Schäbigkeit des Hauses, einer Villa aus den fünfziger Jahren. In der Nacht, bei der Ankunft, war dies so nicht zu sehen gewesen. Anscheinend erhaschte der Gastgeber den überraschten Blick des Neuankömmlings, denn er beteuerte sogleich, daß das Haus längst renoviert wäre, aber sein Bruder, der mit seiner Familie im ersten Stock wohne, mache solche Schwierigkeiten. Ja, und die nötigen Baumaterialien seien seit Monaten nicht zu bekommen. Der Besucher wußte, daß sein Gastgeber eigentlich 'seit Jahren' gemeint hatte. Und nach einer Pause erläuterte er näher, verlegen, daß er mit dem Bruder zerstritten sei. Der Gast schwieg beschämt.

Die zwei folgenden Tage waren ausgefüllt mit Besichtigungen der Sehenswürdigkeiten dieser ihm noch immer fremden Stadt. Bei der Vorbeifahrt am 'Palast für Kultur und Wissenschaft' fiel dem Reisenden wieder das Wort eines von der ersten Reise bekannten Professors ein, daß diese Stadt nur eine 'Provinzstadt' einer hier allgegenwärtigen Großmacht sei. Dieser monumentale Bau war, nach dem großen Befreiungskrieg, das 'Freiheitsgeschenk' des zweiten mörderischen Diktators dieses Jahrhunderts an das Volk der P., ein 'Danaergeschenk', grübelte der Besucher vor sich hin, als er den gewaltigen Turm, ein drohendes Phallussymbol, sich im innersten Herzen der Stadt in einen blaß-grauen Februarhimmel erstrecken sah. Ein Mal des Dauerterrors im Alltag, im Leben dieser Stadt, Zeichen der grenzenlosen Schamlosigkeit der Macht, dachte er bei sich.

Dann die Durchfahrt durch das Gelände des ehemals größten Gettos der Welt. Ein kurzes Stehenbleiben, ein Verweilen bei zwei alten Häusern, die ehemals die Grenze zum alten Judenviertel bildeten. Der Besucher, er hatte sich unbemerkt von seiner Begleitung ein wenig entfernt, gedachte ergriffen jenes bekannten Erziehers und Leiters eines jüdischen Waisenhauses, der von hier aus sich mit seinen zweihundert ausgehungerten und kranken Kindern auf den unentrinnbaren Weg in ein Konzentrationslager machen mußte. Es war 'die Reise', er wußte es, aufgeschrieben in seinem Tagebuch, an 'die letztmögliche Grenze'. Dem still Verweilenden kam das Wort eines ebenfalls jüdischen Denkers in den Sinn, der schrieb: "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht". Was hätte der alte Kinderfreund aus W. zu diesem Gedanken wohl gesagt? Er, der 'narrativer' Pädagoge und Philosoph, beruhigte seine Kinder vor dem Abtransport ins KZ noch mit der Geschichte 'vom Ausflug aufs Land, ins Grüne' ... Welch' Schmerz, welch' Finsternis mag ihn, den Weisen, bewegt haben? - Der Reisende, die Bilder dieses verschwundenen Stadtteils vor Augen, schreckte vor den schmutzig-modernen, vielstöckigen Häusern unvermittelt auf, vor Häusern, die ihm grau-schwarz, quaderförmig entgegenwucherten. Waren diese Bauten hier planmäßig aus der leidgetränkten Erde gestampft worden? Um vielleicht ein schuldvolles Vergessen darüber zu breiten? Eine merkwürdige Leere und Stille umgab den Ausschauenden und zugleich Horchenden. Die beiden Gastgeber und seine Tochter standen umher, ohne daß sie etwas Bestimmtes in ihren Blicken, wie es schien, festmachen konnten. Katzen, Hunde und Tauben bevölkerten die buschbesetzten Wiesen vor den hohen Häusern.

Am nächsten Tag, in einem anderen Stadtteil, erstmaliger Besuch, und dennoch ein Wiedersehen, bei einer älteren Frau, einer früher sehr bekannten Schauspielerin. Der Gast hatte sie schon in seiner Heimat kennengelernt. Ihre Augen drückten Freude aus, als sie die Türe öffnete. Aber ein in seiner Stärke nie gekannter, unangenehmer Geruch nach Katzen schlug den Besuchern entgegen. Und wirklich, eine große Zahl dieser Tiere und auch zwei kleine, alt-kränkliche Hunde behausten das winzige, abgewohnte Heim dieser Frau. Die Tiere saßen oder lagen verstreut, jedes dieser Lebewesen schien seinen angestammten Platz zu haben, auf dem Tisch, dem Sofa, der Sitzgruppe, auf der Fensterbank, auf einem Bücherstoß. Mühsam lenkte er seine Aufmerksamkeit vom ekelhaften Geruch der Katzen zum wärmenden, in sich ruhenden Gesicht der Schauspielerin. Und langsam gewann ein frischer Kaffeeduft die Oberhand in der kleinen Zweizimmerwohnung. Das junge Mädchen, die Tochter des Reisenden, hatte unterdessen eine Katze gefunden, die sich streicheln ließ. Im Gespräch der Erwachsenen, die Gastgeberin beherrschte die Sprache der Besucher gut, betrachtete der Gast, er bemühte sich, dies unbemerkt zu tun, die vielen vergilbten Photos, die die Frau als Schauspielerin zeigten. Die wenigen Ölgemälde hatten gleichfalls ihre Frische und Farbe verloren. Die Bücher, geordnet in langen Regalen, schienen lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Keine Frage, kein Suchen nach Gegenwart, nach Zukunft waren von den gebleichten Buchrücken ablesbar. Er wußte von früher, daß ihr Mann, ein Theaterdirektor, aus politischen Gründen entlassen und sie aus demselben Grunde in Pension geschickt worden war. Und er begriff, daß dieses augenscheinliche Verweilen im Vergangenen zugleich auch ein Warten, ein langes Warten und Hoffen auf einen anderen Morgen darstellte. Aber vielleicht wird dieser Morgen, jenseits einer noch unbekannten Grenze, dachte er, niemals kommen. In ihrem Gesicht hatte auch das seinen Ausdruck. Tauben, weiße und graue, klopften ständig mit ihren Schnäbeln von außen ans Fenster und verlangten auf diese Weise Futter. Sie stand geduldig mehrmals auf, öffnete einen Fensterflügel und streute Körner. Dabei unterbrach sie das Gespräch nicht. Die Tauben warteten geduldig neben ihrer Hand ohne zu erschrecken. Nur ein lautes Gurren erfüllte den Raum. - Ihr wehmutsvolles Lächeln, dachte er beim Abschied auf der Stiege des armseligen Miethauses, würde er nie vergessen. Auf der Straße war es still. Es dämmerte.

Am nächsten Morgen, beim Abschiedsfrühstück, wieder mit großer Aufmerksamkeit bereitet, plötzlich lautes Schlagen von Autotüren vor dem Haus. Blitzschnell hatte sich der Gastgeber er hoben und spähte durch das mit einem weißen Vorhang verhängte Fenster. Mit seinem Zeigefinger vor den Lippen deutete er seinen Gästen zu schweigen. Schon hörte man Getrampel im Gang des Vorhauses, dann Stiefel auf der Holzstiege in den ersten Stock, wo die Familie des Bruders wohnte. Es war wieder still. Der Gast hatte sich unterdessen gleichfalls erhoben und schaute durch den Vorhang auf die Straße. Ein blauer Kombiwagen der Volkspolizei stand vor dem Haus. Hinterm Lenkrad saß ein Uniformierter. Ganz still bleiben, flüsterte der Gastgeber, der hohe Regierungsbeamte, dies ist eine Kontrolle, setzte er noch hinzu. Die junge Frau, die Gastgeberin, ihre Augen hatten das Schalkhafte verloren, nahm ihr plauderndes Baby aus dem Kinderwagen auf und drückte es an sich. Die mitreisende Tochter saß mit großen, fragenden Augen noch immer beim Frühstückstisch. Eine merkwürdige Röte in ihrem Gesicht. Man konnte sehen, daß sie das Geschehen nicht verstand. Aber sie schwieg.

Der Gastgeber, er hatte inzwischen seinem Gast zugeraunt, daß er ihn und seine Tochter trotz eines strengen Gesetzes nicht gemeldet habe, schlich aus der Küche zur Wohnungstüre und horchte nach draußen. Er hatte seinen Zeigefinger noch immer vor den Lippen. Atemloses Warten. Bald darauf wieder lautes Stiegensteigen. Stimmen. Türenschlagen. Die Frau bedeckte ängstlich mit ihrer Hand den Mund des kleinen Kindes. Der horchende Gastgeber wich instinktiv einen Schritt von seiner Wohnungstüre zurück. Seltsam seine gebeugte Haltung. Stiefelschritte im Gang. Vor der Türe. Stimmen schon im Freien. Autotüren. Start eines Motors. Sich entfernendes Motorengebrumm. Stille. Ausatmen. Einatmen. - Jetzt wußte der Gast, hätte die Polizei geklopft, sie hätten getan, als wären sie nicht zu Hause gewesen. Jetzt begriff er, warum er seinen Wagen nicht auf der fast autoleeren Straße vor dem Hause parken durfte. Sein Gastgeber bestand immer darauf, das Fahrzeug durch das so schwer zu öffnende, eiserne Gartentor zu fahren. Das Tor war mit Faserplatten verhängt und schleifte am Boden, weil die oberen Angeln gebrochen waren. Es mußte unverzüglich verschlossen werden. Der Gastgeber wachte darüber. Und dann die schwierige Einfahrt in die windschiefe Garage, ein Schuppen mit einer schwer versperrbaren Holztüre. Dahinter war das Auto gut verborgen. Dem hohen Beamten war das sehr wichtig. - Und dennoch die Herzlichkeit, die unverbrauchte Neugierde dieser Menschen, der Mut in ihren Augen. Beim Abschied eine lange, starke Umarmung. Wärme für die Weiterreise an der Grenze ...

 

III

Rückfahrt durch das herbstlich gebliebene Land. Stundenlang auf der Autobahn, vorbei an schwarzen, brachliegenden Feldern, an rotbraunen Wäldern, die oft bis zum Horizont reichten. Die seltenen weichen Hügel stimmten ruhig. Vereinzelte Schneezungen im Schatten ihrer Rücken. Die Tochter hörte, mit den Kopfhörern, im Fond des Wagens Musik. Ein neuer Begleiter, ein Landsmann, war in W. hinzugekommen; er beherrschte die Sprache dieses Landes gut und erzählte, mit hörbarer Begeisterung, von dessen großen geschichtlichen Ereignissen. Er benannte die durchfahrenen Landstriche, die Städte, die gewaltigen Industrieanlagen, über denen grau-weiße, manchmal gelbe Rauchsäulen in den Himmel wuchsen. Das erste Ziel dieses Tages war Cz., der größte und wichtigste Wallfahrtsort des Landes. Von weitem schon konnte die auf einer Anhöhe liegende, wehrhafte Kirchenanlage ausgemacht werden. Da es ein Wochentag war und Februar, dachte der Reisende, würden wenige Menschen in der Kirche anzutreffen sein. Langsam durchfuhren sie den Ort mit der langen Allee zum Wallfahrtsberg. Sie diente an bestimmten Tagen des Jahres hunderttausenden Pilgern als Prozessionsweg zur berühmten Schwarzen Madonna. Bei der Anfahrt auf den Berg waren nur wenige Menschen zu sehen. Dann Weiterweg zu Fuß. Die Souvenirläden, an solchen Orten ein unvermeidliches Übel, geschlossen. Der Kitsch jedoch floß aufdringlich aus den unzählbaren Schaufenstern. Er schmunzelte angesichts unzähliger Jesus- und Marienfiguren, als ihm die Parole 'Mut zum Kitsch' einfiel. Über die Grenze von Kitsch zum Künstlerischen sinnierte er seit Jahren, ohne ein Kriterium der Sicherheit gefunden zu haben, ohne wirkliche Kenntnis darüber. Aber er wußte um dessen rätselhafte, archaische Bedeutung für sich und, wie er vermutete, für alle Menschen.

Glatteis auf dem Weg zur Kirche. Es war nicht gestreut. Beim Betreten der großen Wehranlage, deren Mitte die Wallfahrtskirche bildete, tat sich ihnen unversehens ein herrlicher Weitblick über das umliegende flache Land auf. Die Sonne überstrahlte alles. Doch in der Ferne wieder die allesbeherrschenden Fabriksschlote. Die weiß-gelben Wolken darüber ließen den Reisenden plötzlich an Wälder, Flüsse, an lachende Kinder, an das Meer denken. Eine Bilderfolge, die ihm in den letzten Jahren immer häufiger, immer wichtiger in den Sinn kam. Er hörte seinem Begleiter, dem Ortskundigen, nicht mehr zu, der soeben, mit einer ihm eigenen Ausdauer, die Namen der 'Hütten' aufzählte, wie in diesem östlichen Land die großen Fabriken genannt werden. Der Nachdenkliche lehnte an der alten Wehrmauer und fühlte diesen fernen, künstlich bewölkten Himmel bedrohlich.

Nach einer Weile betreten sie die Kirche. In der Gnadenkapelle wird eine Messe gelesen. Die Tochter und ihr Vater schauen sich erstaunt an, die Kapelle, die Größe einer normalen Kirche hat, war voll Menschen. Um das Gnadenbild besser sehen zu können, strebten sie langsam nach vorne zum Altar. Aber die Menschen standen zu dicht gedrängt. So blieben sie bald zwischen den singenden und betenden Kirchgängern eingekeilt stehen. Der Mann lauschte dem Klang der fremden Sprache. Und sein Blick umkreiste die übervoll geschmückte Ikone. Wieder ein archaisches Bild?, sagte er sich voll innerer Spannung. Doch er merkte, daß die Ikone ihm fremd blieb. Aber, eine für ihn tiefe Wahrnehmung, eine ungekannte Distanz, eine umdunkelte Verborgenheit sprach aus ihr. Obwohl er erkannte, daß er hier nicht als Pilger stehen konnte, verweilte er noch einige Zeit. Die Geschichte, die Sprache, das Wünschen und Sehnen, welches die Betenden verband, ja einte, blieb ihm verwehrt. Ein Anflug von Leeregefühl. Eine leise Enttäuschung. Ohne Verwandlung verließ er die Kirche. Die Patina des mächtigen Kirchendaches, ruhig im späten Nachmittagslicht, ließ ihn aufblicken.

In rascher Fahrt, die Sonne steht tief am westlichen Horizont, nähern sie sich dem Ort O.. Am Morgen, im Hotel, hatte der Mann seine Tochter nochmals behutsam gefragt, ob sie tatsächlich das Reisevorhaben, den Ort Oswiecim, wie er in der Sprache dieses Landes hieß, aufzusuchen, verwirklichen sollten. Das Mädchen bejahte, ohne zu zögern. Das Ziel war Auschwitz. Sie wußte aus Gesprächen in der Familie, in der Schule, was sich mit diesem Namen verband. Vor Antritt der Fahrt hatte er zuhause noch bei jener schon toten Dichterin nachgelesen, die in ihren Gedichten von den Konzentrationslagern schrieb. Die vielen Berichte, Filme, Bilder über dieses für ihn bisher immer unverstehbare Geschehen stehen ihm wieder vor Augen. Die jüdische Dichterin, und darüber mußte er oft nachdenken, findet in ihren Gedichten kein Wort des Hasses, der Anklage, auch wenn sie von den Grabsteinen, die 'in die Luft geschrieben' sind, voll Klage und Schmerz spricht. Vom himmelwärts aufsteigenden Rauch, in den sich die Körper der Millionen Wehrlosen in Auschwitz und Birkenau verwandelt haben. Die zwei Zwillingsorte unbegreiflichen Grauens. Er erinnerte sich eines Verses: "O die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, / Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft - "...

Wenige Kilometer noch, durch merkwürdig niedrige Mischwälder, das Gespräch im Auto erstirbt. Dem Ort näherkommend überrascht, wie dicht das ehemalige KZ-Gelände umsiedelt ist. Er hatte gelesen, daß die Anlage gerade wegen der abseitigen Lage vor genau fünfzig Jahren dorthin gebaut worden war. Mit langsamer Geschwindigkeit neben dem berüchtigten Gleis einherfahrend, welches für Millionen von Menschen, in Viehwaggons gesperrt, die letzte, eiserne Einbahnstraße in den Tod bedeutete. Und abermals standen ihm die alten Photos vor Augen. Auschwitz diesseits des Gleises, jenseits davon, heute fast nicht mehr zu sehen, da neue Wohnhäuser und Fabriken darauf erbaut, Birkenau. - Bald ist der Eingang zur Gedenkstätte erreicht. Der sprachgewandte Begleiter spricht eine des Weges kommende Frau an. Sie arbeitet in der Verwaltung der Gedenkstätte. Sie ist bereit, obwohl das 'Museum' im Winter geschlossen ist, ausnahmsweise eine Führung zu machen. Eile war geboten, denn es dämmerte schon. Der Mann spürte eine seltsame Weichheit in seinen Beinen, als sie zum weltbekannten Tor kommen, worauf der unüberbietbare zynische Satz 'Arbeit macht frei!' zu lesen steht. Er denkt an die Kolonnen von Verzweifelten, an Kinder und Frauen, die gnadenlos durch dieses Tor getrieben wurden. Gleich daneben der elektrisch, doppelgeführte Stacheldrahtzaun. Und in seinem Kopf drängen sich die Bilder der Häftlinge, die leblos verkrallt im Todeszaun hängen. Seltsamerweise hört er auch die Kommandoschreie der KZ-Wächter und das Bellen ihrer scharfen Wachhunde. Voll Angst blickt er um sich. Unbewußt beschleunigt er den Schritt. Die Stille in der Dämmerung atmet unheimlich. Später, vor der langen, geordneten Reihe der so merkwürdig grauen, einstöckigen Häuser, er vermeint auch ihr Schweigen zu hören, fällt ihm der fernen Dichterin Vers zu: "O die Schornsteine! / Freiheitsswege für Jeremias und Hiobs Staub - / Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein / Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch? ".

Er geht etwas abseits von der kleinen Gruppe. Die Führerin spricht unentwegt, vielleicht ist sie stolz auf ihr Wissen, und der Begleiter übersetzt rastlos. Schön länger, etwas zurückgeblieben, hörte er nicht mehr zu, da sein Wunsch sich verstärkte, allein zu sein. Denn dies ist der Ort der Wiederbegegnung mit Bildern, dachte er, die sich in seinem Kopf durch viele Jahre angesammelt, ja eingebrannt hatten. Ist dieses Grauen, das hier weltgeschichtlich d e n tödlichen Brennpunkt hatte, allein Geschichte geworden? Oder ist das Grauen hier von den steinigen Straßen des Lagers, von den unheimlich grauen Steinhäusern, von den Baracken, dem Krematorium, von den alten, riesigen Alleebäumen immer noch lebendig ablesbar? Wo sind die feuerroten Stigmen der Schuld auf den Stirnen der Beteiligten, die heute irgendwo, vielleicht verborgen, noch leben? Für ihn löste diese Flut von fast schon wirren Gedanken die nie verlorene Frage nach dem Unterschied von Geschehenem, zumeist in Bildern bewahrt, und augenscheinlicher gegenwärtiger Wirklichkeit aus. Hat Vergangenes im Heute, im Jetzt noch Verbindlichkeit? In der Zelle des inzwischen heiliggesprochenen Paters horcht er lange danach. Er steht stumm vor dem Wächterhäuschen am Appellplatz, wo die Gefangenen in ihrer dünnen Sträflingskleidung stundenlang, ja tage- und nächtelang bei Hitze und grimmiger Kälte angetreten stehen mußten. Der 'Aufseher' saß geschützt in seiner Kabine und wurde abgelöst. Allein an dieser Stelle starben unzählige. Warum schreit der steinige Boden nicht auf? Auch heute noch? Hat er jemals aufgeschrien ...?

In einigen Gefangenenhäusern, sie sind zu einem Museum umgestaltet, die von Bildern bekannten Berge von Haaren, Brillen, Schuhen und Koffern der Opfer. Eigenartig, entdeckte er, wie gebrauchte Koffer oder andere persönliche Dinge die Kleinheit, Begrenztheit oder Verletzlichkeit eines Menschen ans Licht bringen. Er dachte, eine schon alte Erinnerung, kurz an die persönlichen Dinge seines Pflegevaters, eine Brille, ein Ehering, ein Siegelring, eine abgenutzte Brieftasche; sie lagen nach seinem Tode sinnlos, ja wie nackt auf dem Küchentisch. Und hier millionenfache Erinnerungen an unbekannte Menschen. Es erschreckt ihn, daß er davon nicht stärker betroffen ist. Sind es nur tote Dinge? Er wußte keine Antwort. Doch wie kann seine Beklommenheit, seine Angst, die er mitgebracht hatte, hier einen wahrhaften Ausdruck finden? - Erst in den in ihm plötzlich wieder auftauchenden Worten der fernen jüdischen Dichterin fühlt er sich berührt, geborgen, die schrieb: "Wir Geretteten, / Wir drücken eure Hand, / Der Abschied im Staub / Hält uns mit euch zusammen." ... Welch Worte! Allein von ihr, nach so vielen Jahren, erfährt er die Unmöglichkeit der Allbetroffenheit. Der einzelne ist zu klein. Zu klein. Erst an anderen, neuen Orten des Grauens, in einer anderen, neuen Zeit des Schmerzes, des Leidens sind Betroffenheit, Mitleid das wirkliche Gesetz. Eines für jeden Ort. Eines für jede Zeit. Der Mann weint und fühlt sich gerettet. Später, ein langer Lebensblick in den Sternenhimmel.

In der Dunkelheit gelangen sie an die nördliche Begrenzung des KZ. Hinter dem hohen doppelten Stacheldrahtzaun ein Haus, ein Fenster ist erhellt. Der Begleiter übersetzt, daß dies ein Kloster, ein Karmel, sei, in dem Nonnen aus aller Welt Tag und Nacht für das an diesem Ort begangene Leid beten. Der Mann ertappt sich bei der ironischen, ja zynischen Frage, wie jemals solch ein unbegrenzter Ozean von Leid durch Gebete aufgewogen werden könne. Dazu ist wahrlich ein starker Glaube nötig, sagte er sich und dachte an die unbekannten Schwestern hinter den Mauern des in Finsternis gehüllten Hauses. Später dachte er an Gott. Insgeheim an seinen Gott. Aber dieser hatte kein Bild in seiner Vorstellung. Und dennoch glaubte er, auf der lebenslangen Suche nach dessen Tiefenbild mit einer ihm eigenen Treue, fest daran, daß dieser Bildlose am Schmerz der Menschen, auch jedes einzelnen, mitleide. Wie nah muß dieser Unbekannte den hilflos Ausgelieferten, den Kindern und Frauen, den Greisen, den Sterbenden, in Auschwitz gewesen sein? Und wie unbegrenzt groß muß dieser Gott sein, der stumm dieses bodenlose Leid aller mitträgt? Eine andere Form des Gottesbeweises? Ein für den Mann überraschender, ein ganz neuer Gedanke! Aber der berühmte jüdische Philosoph schrieb, vielleicht ohne zu zögern: "Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt". Der Besucher schüttelt verwirrt den Kopf und bleibt stehen. Er starrt in die nur mehr schemenhaften Umrisse des KZ's. Aber wann wird dieser, wieder so Ferne, vor der Übergröße des Schmerzes der Welt endgültig aufschreien? Vielleicht am Ende der Welt ...?

Mit dieser Frage hatte er, und er wußte es sogleich, endgültig die 'Grenze der Welt' über-schritten. 'Weltgrenze' sagte er noch, aber er konnte diesen Gedanken nicht mehr zu Ende bringen, denn die Gruppe rief von weither nach ihm. Er spürte plötzlich die Kälte. Bald darauf legte er betroffen seiner Tochter zärtlich den Arm auf ihre Schulter. Er zitterte. Und sie wanderten schweigend über raschelndes Laub zum Ausgang. Einmal werde ich ihr mein Denken erklären müssen, nahm er sich vor. Beim letzten Zurückschauen, das KZ war in tiefe Finsternis gehüllt, entdeckte er das noch immer erleuchtete Fenster im Karmel, das wie eine Kerze den unendlichen Himmel zu erhellen schien.


N12 / 1998

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2002