Peter Fäßler
"DER RHEIN, DEUTSCHLANDS STROM, NICHT SEINE GRENZE."
OHNE DIE RHEINGRENZE IST FRANKREICH UNVOLLENDET, SCHUTZLOS, DEM
ANSTURM DER BARABAREN PREISGEGEBEN."
Rechts- und linksrheinisch lernten und lehrten die Menschen das jeweilige
nationale Credo, bis man sich nach der Katastrophe der beiden Weltkriege
auf eine Überprüfung solcher Ideen besann.(1) In Frankreich
gehörte die Vorstellung von der Rheingrenze als einer "natürlichen"
im wesentlichen zum Ideengut der Französischen Revolution. Für
die Deutschen wiederum, zumindest für diejenigen, die sich Patrioten
nannten, hatte der Rhein spätestens mit der Romantik eine nahezu
mythische Bedeutung angenommen. In dem Maße, wie in Deutschland
der nationale Gedanke erwachte und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts
konkretisierte, wurde der Rhein zum Streitobjekt, von dem beide Nationen
ihre Existenz glaubten abhängig machen zu müssen. Der Rhein
wurde zu einer fundamental ethnischen Grenze stilisiert, die angeblich
das GERMANISCHE vom ROMANISCHEN trennte. So wurde die Rheinfrage nach
und nach mit einer Ideologie befrachtet, die sie ursprünglich gar
nicht hatte, die aber durch die ständig zunehmende Verschärfung
zum tödlichen Ringen beider Völker führte. Allerdings,
keiner der drei modernen Kriege zwischen Frankreich und Deutschland
(1870, 1914, 1940) war explizit wegen der Rheingrenze ausgebrochen.
Und dennoch hatte der Rhein-Mythos entscheidenden Anteil an der Produktion
von Kriegsbereitschaft, er diente dem völkischen Haß, er
hielt ein jederzeit abrufbares Vorurteil bereit, das Angst und das Gefühl
des Bedrohtseins auslöste und damit zugleich alle Aggressionshemmungen
beseitigte.
Die heutigen Nationalstaaten Deutschland und Frankreich sind bekanntlich
beide ursprünglich aus dem Franken-Reich des Kaisers Karl (742-814)
hervorgegangen, und in beiden Ländern wurde und wird immer noch
diese märchenhafte historische Figur als Ahnherr der jeweils eigenen
Nation verehrt, hier als KARL DER GROSSE, dort als CHARLEMAGNE.
Die verklärte Geschichte des gemeinsamen Ahnherrn liegt nun mehr
als tausend Jahre zurück, die beiden Länder nahmen eigene
Gestalt an, und jahrhundertelang - eigentlich bis in das 19. Jahrhundert
- sah es auch keineswegs nach einer zwangsläufigen Erbfeindschaft
zwischen Deutschen und Franzosen, vielmehr nach einer ganz normalen
Nachbarschaft aus (2). Allerdings entwickelten sich die politischen
und gesellschaftlichen Strukturen in beiden Ländern in verschiedene
Richtungen. Während sich die deutsche Geschichte in großangelegte
und weitreichende geistliche und politische Kämpfe hineinsteigerte
und sich zugleich durch kleinliche territoriale Streitigkeiten lähmen
ließ, war die französische Geschichte dagegen mehr auf das
Praktische und Zweckmäßige gerichtet. Den französischen
Königen erschien es sinnvoll, zunächst ihre Macht im eigenen
Lande durchzusetzen, sich die Territorialfürsten zu unterwerfen
und dem Königtum das erbliche Thronrecht zu sichern. In Frankreich
erfuhr die Zentralgewalt über viele Jahrhunderte hin eine ständige
Stärkung. Fast jeder König und alle Regierungen (mit Ausnahme
der kurzlebigen Zweiten Republik) haben bis zum deutsch-französischen
Krieg 1870/71 das Staatsgebiet vergrößert. Zugleich haben
sie Frankreich zu einem zentralisierten Einheitsstaat geformt, mit einer
straffen Verwaltung und einheitlicher Rechtsprechung. Paris wurde schon
im 11. Jahrhundert Hauptstadt, Residenz der Regierenden und Sitz der
Verwaltung, und ist es bis heute geblieben. Die deutschen Kaiser dagegen
regierten aus dem Sattel und von ihren Pfalzen aus, denn ihr Königtum
forderte von ihnen Omnipräsenz in allen Teilen des Reiches. Die
Macht und das Ansehen der deutschen Könige waren auf Schlachtenglück
und auf die Treue der Vasallen, also auf Sand gebaut.
Der Oberrhein als Drehscheibe geistig-religiöser, wissenschaftlich-literarischer
und künstlerischer Bewegungen
Bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges gehörten das
Elsaß und Lothringen zum Deutschen Reich; große Teile des
Elsasses standen unter österreichischer Landesherrschaft. Die Regierung
Vorderösterreichs, zu dem sowohl linksrheinische Gebiete (mit Colmar)
als auch rechtsrheinische (mit Freiburg) gehörten, hatte ihren
Verwaltungssitz in der elsässischen Stadt Ensisheim (3).
Der Hochrhein und der Oberrhein von Konstanz am Bodensee über
Basel bis nach Straßburg waren damals ein Herd und Hort der deutschen
Mystik. Hier haben im ausgehenden 13. und im frühen 14. Jahrhundert
die bedeutendsten Autoren des späten Mittelalters gepredigt: Meister
Eckart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Sie haben eine religiöse
Bewegung entfacht, die einerseits als höchste Steigerung mittelalterlicher
Frömmigkeit zu verstehen war, andererseits aber das geordnete Gefüge
der Kirche bereits zutiefst erschütterte und zu sprengen begann.
Zwei Jahrhunderte später ging eine andere geistesgeschichtliche
Bewegung von dieser Region am Oberrhein aus, der Humanismus. Ihr bekanntester
Vertreter war Erasmus von Rotterdam, der von 1521 bis zu seinem Tod
1536 in Basel und in Freiburg lebte. Der gerade erst erfundene Buchdruck
kam der Verbreitung des neuen Denkens zu Hilfe und wurde von den Humanisten
meisterhaft genutzt. Buchdruck und humanistische Ideenwelt profitierten
wechselseitig voneinander, hier am Oberrhein wie nirgends sonst. Erasmus
von Rotterdam z. B. war wegen der Buchdrucker Froben und Amerbach nach
Basel gekommen. In diesem Klima konnte sich die deutschsprachige Dichtung
prächtig entfalten. Zentrum der alemannischen Sprachgenies jener
Zeit wurde das Elsaß, wo die Autoren, Prediger, Satiriker und
Poeten zu Hause waren, die Geiler von Kaysersberg, Sebastian Brant,
Thomas Murner oder Johannes Fischart.
Unvergleichlich sind auch Reichtum und Vielfalt künstlerischer
Schöpfungen von der Spätgotik bis zur Dürerzeit, deren
Schätze in Stadt- und Dorfkirchen, Kapellen, Museen und Sammlungen
überliefert sind. Der Rhein bildete in religiöser und kultureller
Hinsicht bis zur Reformation überhaupt keine Grenze, im Gegenteil:
Die produktiven Wechselwirkungen zwischen Zürich, Basel (CH), Konstanz,
Freiburg (D), Colmar, Schlettstadt und Straßburg (F) waren wohl
nie so stark wie in der Zeit vom 14. bis 16. Jahrhundert.
Der Rhein wird Grenze
Frankreichs Grenzen im Süden, Westen, Norden sind deutlich sichtbare,
sogenannte natürliche" Grenzen: Küsten und Gebirge. Sie
zu gewinnen und zu halten, blieb lange politisches Ziel der französischen
Krone. Im Osten war die Grenze immer undeutlich, hier schien Frankreich
verwundbar (4).
Deutsche Grenzverläufe sind ein eigenes Kapitel: 1648, nach dem
Westfälischen Frieden, umschlossen die Grenzen dieses locker zusammengebundenen
Deutschen Reiches insgesamt 343 souveräne Fürstentümer,
Städte und Landesteile. Das erwies sich durchaus als Vorteil für
alle Nachbarn Deutschlands, und alle weitschauenden europäischen
Politiker haben den deutschen Partikularismus für ihre Interessen
zu nutzen gewußt. Andererseits haben deutsche Staatsmänner
wie Bismarck die Geschichte einzuholen und das verworrene deutsche Staatengebilde
zur Einheit zu formen gesucht. Jedesmal dann mußte Frankreich
den Nachbarn im Osten fürchten und danach trachten, ihn einzudämmen
und sich selbst auch im Osten hinter einer natürlichen" und
unbestrittenen Grenze zu schützen. In seiner Grenze nach Deutschland
sah Frankreich jahrhundertelang ein Problem, das sich zu einem französischen
Trauma auswuchs (infolgedessen auch zu einem deutschen) und das zu einem
tragischen, für beide Völker verhängnisvollen Konflikt
führte.
1589 bestieg in Frankreich das Haus Bourbon den Königsthron. Es
behielt ihn bis zur französischen Revolution (1792). Auf der deutschen
Seite regierten bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation im Jahr 1806 die habsburgischen Kaiser. Die Habsburger heirateten
mit geschickter Familienpolitik ein Weltreich zusammen: Die Niederlande,
Burgund, Böhmen, Ungarn und Spanien mitsamt seinen überseeischen
Besitzungen fanden sich unter dem Doppeladler vereint. Dies mußte
Frankreich beunruhigen. Es war in eine lebensbedrohliche Umklammerung
geraten. Dieser Lage sah sich Kardinal Richelieu gegenüber, als
er 1624 Minister Ludwigs XIII. wurde. Sein erklärtes Ziel war es,
die Grenzen Frankreichs gegen diese habsburgisch-spanische Einkreisung
zu sichern, die Einheit des Staates zu festigen und dem französischen
König den Platz zu verschaffen, der ihm im eigenen Land gegenüber
dem Hochadel und in der Welt gegenüber den europäischen Staaten
zustand. Er taktierte vorsichtig, aber entschieden. Im Dreißigjährigen
Krieg schloß er ein Bündnis mit den Schweden gegen die habsburgisch-spanischen
Positionen am Rhein. Er fand es zweckmäßig, vorbeugend links-rheinische
deutsche Reichsgebiete zu besetzen: Lothringen und die Trierer Festungen.
Mit dem Dreißigjährigen Krieg begann für das Oberrheingebiet
ein Jahrhundert der Kriege, das bis 1714 andauern sollte (5). Die Bevölkerung
wurde in dieser Zeit um etwa die Hälfte dezimiert, Burgen und Kirchen
fielen in Schutt und Asche, von unzähligen Dörfern und Städten
blieben nur noch Ruinenfeldern übrig. Manche Autoren datieren die
Herkunft des deutschen nationalen Minderwertigkeitskomplexes auf die
traumatischen Erfahrungen dieser Epoche.
Der Friedensschluß von Münster 1648, der den Dreiigjährigen
Krieg beendete, hat die politische Landkarte am Rhein grundlegend geändert:
Frankreich behielt, nach dem Verzicht Habsburgs, einen großen
Teil des südlichen Elsaß außer Straßburg, aber
mit einigen Brückenköpfen auf der rechten Rheinseite. Außerdem
erhielt es endgültig die Festungs-Städte Metz, Toul und Verdun.
Die Vereinigten Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft gewannen
ihre Unabhängigkeit.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen um den Rhein als Grenze hatten
damit jedoch erst angefangen. Ludwig XIV. führte eine Reihe von
Eroberungskriegen gegen deutsches Territorium, so 1688 bis 1697 gegen
die Pfalz. Bereits 1681 hatte er mitten im Frieden Straßburg überfallen
und dem französischen Territorium einverleibt. Auch die Stadt Freiburg
hatte während dieses französisch-habsburgischen Machtkampfes
zu leiden. Zwischen 1618 und 1744 leisteten die Freiburger Bürger
mal auf die französische, mal auf die schwedische, mal auf die
bayrische, mal auf die Habsburger Krone den Untertaneneid.
Mit dem Frieden von Rastatt 1714 war der Oberrhein zwischen Basel und
Karlsruhe endgültig zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich
geworden. Auf der rechten Rheinseite konnten sich jedoch weder Ludwig
XIV. noch seine Nachfolger festsetzen. Aber die Region insgesamt war
fürchterlich zugerichtet, ruiniert, und erstmals wurden auf deutschem
Boden antifranzösische Ressentiments laut, besonders seit der systematischen
Zerstörung der Pfalz und des mittelrheinischen Deutschland durch
französische Truppen. (Daß des Sonnenkönigs exakter
Marschbefehl seinerzeit gelautet habe: Brûlez le Palatinat! vergaß
seither kein deutscher Geschichtslehrer seinen Schülern mitzuteilen.)
Trotzdem gilt Frankreich in dieser Epoche den Deutschen als Vorbild,
und Französisch wird zur Universalsprache der Gebildeten. Frankreich
liefert die beispielhafte Lebensform für den Adel wie für
die Intelligenz. Universal wirkt der französische Hof als Leitbild
für die deutschen Fürsten, universal auch die Aufklärung
und später die französische Revolution als Vorbild für
die deutschen Bürger.
Die französische Revolution - nationale Gefühle erwachen
Die Französische Revolution beseitigte die Privilegien des Adels
und des Königs, so auch sein Privileg, Krieg zu führen. Verfassungsgemäß
wurden Kriege hinfort also im Namen des Volkes geführt. Die Republik
sah sich auch bald zu verschiedenen Verteidigungskriegen genötigt,
denn die über das Schicksal ihrer königlichen Vettern beunruhigten
und um ihre eigene Zukunft besorgten europäischen Fürsten
suchten das Feuer der Revolution in Frankreich zu ersticken, ehe es
auf andere Länder übergreifen konnte. Die Preußen gingen
1792 über den Rhein und drangen nach Frankreich ein, wurden aber
bald zurückgeschlagen, wie man bei dem berühmten Kriegsberichterstatter
Johann Wolfgang von Goethe (CAMPAGNE IN FRANKREICH) in aller Ausführlichkeit
nachlesen kann.
Auch die großen und kleinen Herrschaften am Oberrhein fühlten
sich bedroht (6). Zunächst einmal von den Ideen der Revolution,
denn es war eine wahre Flut von Büchern, Broschüren und Flugblättern
im Umlauf, welche die Revolution in Frankreich begrüßten,
ihre Ideen verbreiteten und zum Handeln aufriefen. Die vorderösterreichische
Regierung wurde dann ihrerseits propagandistisch aktiv und beschloß
die "Verbreitung gut gesinnter Bücher". Darunter war
die im Februar 1794 erschienene Broschüre ERNSTE WINKE AN DIE DEUTSCHEN
ZUR VERTHEIDIGUNG DER RHEINUFER. Eine tatsächliche Auseinandersetzung
mit den Zielen der Revolution fand hierin allerdings nicht statt. Angesichts
der rasanten Entwicklung in Frankreich (Ausrufung der Republik, Hinrichtung
des Königspaares, Vormarsch der Revolutionstruppen in das Rheinland)
wurden vielmehr nationalen Ressentiments gegen die Franzosen und die
Angst der Bürger vor Störung der Ordnung geschürt sowie
an die Treue zur Religion und zum angestammten Herrscherhaus appelliert.
Die deutsche Nation solle sich erheben und kämpfen "für
Gott, den sie verspotten, für deine Fürsten, denen sie fluchen,
und für dich, den sie vertilgen wollen". Eher mager und
wenig überzeugend klang, was den Untertanen als Preis für
ihre Standhaftigkeit winken sollte: "Eure Fürsten und Herren
werden Eure Treue und Vaterliebe mit verdoppelter Sorgfalt für
Euer Wohl belohnen". Zum regelrechten Franzosenhaß rief
ein in Freiburg erschienenes Gedicht SCHLACHTGESANG auf. In diesem Werk
forderte der Freiburger Philosophieprofessor und Druckereibesitzer Ignaz
Fellner seine Landsleute zum Krieg gegen die Franzosen auf: "Ha!
Schonet nicht, Brüder / und stoßet sie nieder / sie trügen
euch nur / sind Mörder und Diebe / und schwören euch Liebe
/ und brechen den Schwur".
Nachdem die französischen Truppen die konterrevolutionäre
Invasion gestoppt hatten und nun ihrerseits über den Rhein bis
Frankfurt vorgestoßen waren, wuchsen die Befürchtungen, daß
die Revolutionsarmeen auch in Vorderösterreich einfallen würden.
Deshalb wurde hier Anfang des Jahres 1793 eine neue österreichische
Armee aufgestellt, die zunächst auch erfolgreich im Nordelsaß
und in der Pfalz operierte. Nach dem Aufschwung der Revolutionsarmeen
durch die LEVÉE EN MASSE geriet diese aber immer stärker
unter Druck. Am 15. September 1795 beschoß französische Artillerie
die österreichische Stadt Breisach, die französische RHEIN-
UND MOSEL-ARMEE rückte unaufhaltsam vor und besetzte für kurze
Zeit am 16. Juli 1796 die Stadt Freiburg.
Der französische Einmarsch scheint allerdings nicht nur auf empörte
Ablehnung gestoßen zu sein. So wird von Freiburg berichtet, die
französischen Soldaten seien mit Hochrufen auf die Republik empfangen
worden, manche Bürger hätten sich die dreifarbige Kokarde
an den Hut gesteckt, und es sei die Idee von einer eigenen freien Republik
- entweder vereint mit den Schweizer Kantonen oder unabhängig unter
französischem Schutz - diskutiert worden.
Das Ergebnis der Revolutionskriege war eine allgemeine Grenzbegradigung
am Oberrhein. Mit dem Frieden von Basel (1795) wurde die ganze linke
Rheinseite - also auch das Rheinland und die Pfalz - französisch.
Auch Preußen hatte dies gutheißen müssen, und 1797
willigte auch Österreich in die Abtretung des linken Rheinufers
ein.
Die Forderung nach der Rheingrenze als natürlicher Grenze Frankreichs
gegenüber Deutschland hatte öffentlich erstmals Danton im
Jahre 1793 erhoben: "Die Grenzen Frankreichs sind von der Natur
abgesteckt. Wir werden sie an ihren vier Enden erreichen: am Ozean,
an den Ufern des Rheins, an den Alpen, an den Pyrenäen. Keine Macht
kann uns aufhalten" (7).
Anfänglich wurde den Franzosen als den Neufranken große
Sympathie entgegengebracht, nicht von den verjagten deutschen Fürsten
freilich, wohl aber von den liberalen deutschen Bürgern und Gebildeten
(8). Denn die Franzosen kamen mit dem Anspruch, das Rheinland nicht
zu erobern, sondern zu befreien, hier die politische und rechtliche
Freiheit und Gleichheit aller Untertanen zu errichten, die Feudallasten
abzuschaffen und die Gewerbefreiheit einzuführen, den fürstlichen
und kirchlichen Privatbesitz umzuverteilen und ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht
durchzusetzen. Je mehr die Franzosen jedoch als Besatzer handelten und
immer neue Steuern erhoben, ohne sich um die versprochene demokratische
Selbstbestimmung zu kümmern, schlug die anfängliche Begeisterung
in Enttäuschung um. Gerade die deutschen Intellektuellen, die sich
für die Revolution begeistert hatten, fühlten sich angesichts
dieser Wirklichkeit verraten und verkauft, nicht befreit, sondern erniedrigt,
und sie forderten, man müsse die einstige deutsche Größe
wiederherstellen, und als Symbol dafür galt ihnen hinfort der deutsche
Rhein. So verwandelte sich dann das ehemals weithin unbeachtete Rheinland
innerhalb von wenigen Jahren aus einem Grenzgebiet in urdeutsche Kernlandschaft.
Allerdings blieb den deutschen Gebildeten angesichts ihrer aktuellen
Machtlosigkeit zunächst wenig anderes übrig, als im Zuge einer
kulturellen Widerstandsbewegung sich ins Reich der Geschichte zu flüchten
und dort nach den Wurzeln einer eigenständigen deutschen Identität
zu graben. Die damit verbundene stilisierende und glorifizierende Erforschung
des Mittelalters durch die Romantiker fand wesentlich in den Rheinlanden
statt.
Im Interesse Frankreichs waren die Verhältnisse auf dem rechten
(deutschen) Rheinufer neu geordnet worden. Man hatte Besitztümer
arrondiert und zu größeren Einheiten zusammengefaßt,
neue Staaten gegründet bzw. schon vorhandene modernisiert und schließlich
gegen Preußen und Österreich zum sogenannten RHEINBUND zusammengefaßt
und dem Protektorat Napoleons unterstellt. Dies besiegelte denn auch
den Untergang des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Der letzte deutsche Kaiser Franz II. legte die deutsche Kaiserkrone
nieder. Er durfte sich zwar weiterhin FRANZ, DER KAISER nennen, aber
eben nur noch als Kaiser von Österreich.
Im Südwesten und im Süden Deutschlands waren neue Staaten
entstanden. Am Oberrhein das Großherzogtum Baden, das aus zahlreichen
kleinen Staaten und Herrschaften gebildet und nach modernen, französischem
Vorbild entsprechenden Grundsätzen organisiert wurde. Die Rheinbundstaaten
waren zunächst treue Verbündete Napoleons und stellten ihre
Truppenkontingente bei den napoleonischen Eroberungszügen. Fast
8.000 Badener z. B. waren bei Napoleons Rußlandfeldzug dabei und
marschierten neben den Kollegen aus dem Elsaß, aus Württemberg
und aus Bayern ins Verderben. Als sich aber nach der Völkerschlacht
bei Leipzig (1813) das Blatt wendete, wechselten sämtliche Rheinbündler,
also auch Baden, schnell und entschlossen die Fronten. Das Land Baden
wurde jetzt Aufmarschgebiet des antifranzösischen Koalitionsheers,
und die großherzogliche Regierung stellte 10.000 Mann reguläre
Einheiten für den Marsch nach Paris.
Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein
Seit sich im 19. Jahrhundert auch die Deutschen verspätet aufmachten,
einen Nationalstaat zu gründen, stritten sich am Rhein nicht mehr
diverse absolut regierende Territorialfürsten, nein, nunmehr befeindeten
sich zwei Völker. Die Überzeugung, daß das deutsche
Volk als ganzes das Recht und die Pflicht habe, als sicheren Hort seiner
Kultur den nationalen Staat zu schaffen, war zunächst jedoch nicht
in den Grenzländern am Rhein laut geworden, sondern vielmehr in
dem durch die militärische Katastrophe und die darauf folgenden
Reformen erneuerten Preußen. Dort war seit Generationen die Verbundenheit
mit dem Herrscherhaus gewachsen, dort hatte sich ein Staatsbewußtsein
bereits herausgebildet, dort konnte patriotische Begeisterung durchaus
aufflammen. Die wichtigsten Autoren der patriotischen Erneuerung, die
nun nicht mehr nur Preußen, sondern das ganze Deutschland (einschließlich
Schweiz und Österreich!) meinten, hießen Ernst Moritz Arndt,
Johann Gottlieb Fichte und Wilhelm von Humboldt. Der Staatsmann, der
den Umbau Preußens leitete, war Karl Freiherr vom Stein, der Reformer
Preußens und unermüdliche Rufer zum Befreiungskampf gegen
Napoleon. "Es kann kein Zweifel darüber aufkommen, daß
zum Aufbruch der deutschen Nationalbewegung zu Beginn des 19. Jahr-hunderts
die französische Fremdherrschaft nicht nur die Veranlassung, sondern
auch die unmittelbare Ursache gestellt hat ... Die Bedeutung der Tatsache
soll nicht unterschätzt werden, daß die Deutschen im Erlebnis
der nationalen Erniedrigung und der nationalen Erhebung ihr Zu-sich-selbst-Kommen
vollendet haben. Die Feindschaft gegen Frankreich wurde somit zum konstitutiven
Element des deutschen Nationalbewußtseins", schrieb der
in München geborene französische Historiker Joseph Rovan (9)
Den Befreiungskampf gegen die Franzosen führte Preußen als
einen Volkskrieg, und die Intellektuellen entwickelten eine recht erfolgreiche
Propaganda, die sich eingängiger Symbole bediente. Was lag da näher,
als den Rhein, den freien deutschen Fluß, den mittlerweile vielbesungenen
Strom zum nationalen Symbol zu erheben? Ernst Moritz Arndt, der bekannteste
Propagandist der Befreiungskriege, widmete ihm 1813 seine antinapoleonische
Kampfschrift: DER RHEIN, TEUTSCHLANDS STROM, NICHT TEUTSCH-LANDS GRÄNZE.
In dieser fürchterlichen Hetzschrift löste Arndt sein Problem,
daß er nämlich das Deutschtum positiv partout nicht definieren
konnte, dadurch, daß er aufzählte, wie elend alles Nicht-Deutsche
sei, das Jüdische, das Französische oder das sonstirgendwie
Fremde. Sein Patriotismus, der fatalerweise Schule machte in Deutschland,
brauchte lebensnotwendig die Abgrenzung vom Feind, brauchte den Antisemitismus
und den Franzosenhaß. Arndts Predigt klang z. B. so: "Ich
will den Haß gegen die Franzosen für immer. Dann werden Deutschlands
Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein. Dieser Haß
glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn
in allen Herzen und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit
und Tapferkeit. Die beiden Völker haben beieinander nichts zu tun..."
Diese Aufgabe müsse "mit Eisen" gelöst
werden. Wie wir heute wissen, hallte das 19. und 20. Jahrhundert mächtig
wider von derartigen Lösungsversuchen. Die patriotische Begeisterung
der einen Seite mobilisierte jeweils die der anderen. Die Demagogen
und Volkstribunen hatten ihre historischen Auftritte. Die Nationalstaaten
und ihr missionarisches Sendungsbewußtsein beherrschten die Szene.
Trotz der Niederlage Napoleons durfte Frankreich die Territorien Elsaß
und Lothringen behalten (10). Dies lieferte gefährlichen politischen
Zündstoff für die folgenden Jahrzehnte, da der Militärstaat
Preußen, der sich die ehemals französischen (linksrheinischen)
Rheinprovinzen zwischen Koblenz und der niederländischen Grenze
einverleibt hatte, nun direkt an den Militärstaat Frankreich grenzte.
Zwischen beiden stand als ungelöstes Problem die Rheinfrage. Für
den französischen Außenminister Chateaubriand war es bereits
1823 eine ausgemachte Sache, daß Frankreich das linke Rheinufer
von Preußen zurückgewinnen müsse. Auch Victor Hugo war
der Ansicht, daß das linke Rheinufer seiner Natur nach zu Frankreich
gehört. Es erfüllte ihn mit Bitterkeit, schrieb er, daß
dieser Strom nicht mehr zu Frankreich gehören solle. In der allgemeinen
Aufregung einer internationalen Krise im Jahr 1840 wurden die französischen
Intellektuellen von einer fiebrigen Kriegsbegeisterung befallen. Der
Dichter Alphonse de Lamartine formulierte in einer Rede vor der französischen
Kammer erneut die Ansprüche Frankreichs auf den Rhein, und Adolphe
Thiers gab bekannt, daß er die Rheingrenze zurückerobern
und so die Schmach der Verträge von 1815 tilgen wolle. Das Gewitter
zog noch einmal vorüber; die Stimmung in Frankreich beruhigte sich
und König Louis Philippe berief Thiers ab.
Die deutschen national gesonnenen Schriftsteller schlugen gegen "die
französische Anmaßung" gewaltig zurück, vor
allem mit Liedern (11). Es entstand eine Mode von sogenannten Rheinliedern,
der wir u.a. auch den Text der heutigen deutschen Nationalhymne des
Hoffmann von Fallersleben verdanken. Damals allerdings war das mit Abstand
populärste Rheinlied ein anderes, ein Werk des längst vergessenen
Dichters Nikolaus Becker, erschienen 1840:
SIE SOLLEN IHN NICHT HABEN, DEN FREIEN DEUTSCHEN RHEIN. Am 15. Oktober
1840 wurde es im Kölner Theater in Anwesenheit König Friedrich
Wilhelms I. vorgetragen und von den Zuhörern begeistert mitgesungen.
Danach sofort überall im deutschen Sprachbereich nachgedruckt,
in Flugblättern verbreitet, insgesamt mehr als 100 mal vertont
(u.a. auch von Robert Schumann), an erster Stelle ins Repertoire der
deutschen Männergesangvereine übernommen - und unzählige
Mal parodiert. Hier eine Kostprobe aus dem Beckerschen Original: "Sie
sollen ihn nicht haben / Den freien, deutschen Rhein / Ob sie wie gier'ge
Raben / Sich heiser danach schrein. (...) Sie sollen ihn nicht haben
/ Den freien deutschen Rhein / Solang sich kühne Knaben / Den Waffen
gerne weihn / Solang die Flosse hebet / Ein Fisch auf seinem Grund /
Solang ein Lied noch lebet / In seiner Sänger Mund..."
Heinrich Heine ließ in seinem WINTERMÄRCHEN (1844) den Vater
Rhein klagen: "...doch schwerer liegen im Magen mir / die Verse
von Niklas Becker. (...) Wenn ich es hör, das dumme Lied, / dann
möcht ich mir zerraufen / den weißen Bart, ich möcht
fürwahr / mich in mir selbst ersaufen!" - Aber solchen
Erzeugnissen kommt man selbstverständ-lich nicht mit Mitteln der
Literaturkritik bei, auch nicht mit einem großen Heineschen Gelächter
- es nützt alles nicht. Die Botschaft des Liedes hat sich den Menschen
in Deutschland eingeprägt: Der Rhein sei ein durch und durch deutscher
und der deutscheste Fluß überhaupt, und es sei die höchste
patriotische Pflicht eines jeden Deutschen, ihn mit Waffengewalt den
Feinden streitig zu machen - Sie sollen ihn nicht haben, den freien
deutschen Rhein...
Acht Jahre später, während der revolutionären Welle
1848/49 war dann wieder eine gewisse Nervosität zu spüren.
Dann, aufs höchste beunruhigt durch den Aufstand der deutschen
Demokraten, griffen die Vertreter der alten Ordnung zu einem altbewährten
Mittel: sie schürten die Angst vor dem äußeren Feind,
schlugen patriotischen Alarm und inszenierten den sogenannten FRANZOSENLÄRM,
d.h. die großherzogliche Regierung in Karlsruhe behauptete, das
Land Baden werde von marodierenden Arbeitern aus Frankreich bedroht,
die über die Grenze kämen, um zu sengen und zu plündern.
Deshalb rief sie Truppen des Deutschen Bundes nach Baden und verstärkte
die Garnisonen, auch die in Freiburg. Der reale Hintergrund für
diese Propaganda war der (nebenbei: völlig erfolglose) Aufbruch
einer DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN LEGION in Paris - etwa 2000 Mann, vor
allem deutsche Gastarbeiter und politische Flüchtlinge, angeführt
von dem Dichter Georg Herwegh und seiner bewunderungswürdigen Frau
Emma. Die fremdenfeindliche Propaganda des Franzosenlärms aber
tat seine Wirkung, denn nun untersagten die von der Propaganda eingeschüchterten
Anführer der Badischen Demokratischen Revolution selbst der Legion
die Teilnahme an den Kämpfen in Baden! (12)
Nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 spielte der Rhein wieder
seine schönste historische Rolle als schiffbares Grenzgewässer:
Er verhalf Zehntausenden von deutschen Demokraten zur Flucht in die
Schweiz oder nach Frankreich und von dort aus nach Amerika.
In den folgenden Jahrzehnten schienen sich die Beziehungen zwischen
den beiden Völkern wieder zu beruhigen.13 Kaiser Napoleon III.
bestritt jedwede Eroberungsabsicht den Rhein betreffend. In der franzsischen
Gesellschaft wirkte das idyllische Deutschlandbild der Madame de Staël
nach, und zahlreiche französische Intellektuelle mischten sich
unter die Rheintouristen jener Epoche. Die REVUE GERMANIQUE (1829-1837)
war zwar schon wieder eingegangen, aber man las die ebenfalls 1829 gegründete
REVUE DES DEUX MONDES und redete und schrieb von einer Brücke über
den Rhein für den Austausch zwischen beiden Völkern. Es gab
enge wirtschaftliche Verflechtungen hinüber und herüber, denn
Frankreich und der deutsche Zollverein wurden zu bedeutenden Handelspartnern.
Seit Menschengedenken hatte der Rhein auf die Länge von etwa 300
km als ein zwei km breites Band die Tiefebene von Basel bis nach Bingen
beherrscht; bei Hochwasser waren Felder überschwemmt, halbe Gemarkungen,
ja ganze Dörfer fielen ihm manchmal zum Opfer (14). Über 2000
Inseln lagen zwischen Seitenarmen und Tümpeln des trägen Stromes,
der sich mit Beginn der Hochwasser-Saison in jedem Jahr neu seinen Lauf
durch die sumpfige Flußlandschaft suchte. Johann Gottfried Tulla,
ein genialer Ingenieur und Oberst im Dienste des badischen Großherzogs,
war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eisern entschlossen, dies zu ändern,
die Rheinschlingen zu durchstechen und den Fluß zu begradigen,
d.h. auf eine nur noch 200 Meter breite Rinne, auf einen schnurgeraden
Kanal zu reduzieren. Aber die linksrheinischen Anrainer, Frankreich
und die bayerische Pfalz, wollten seinen Plänen nicht folgen, obwohl
sie damals von den ökologischen Schäden im Gefolge der Regulierung
noch gar nichts wissen konnten. Ein erneutes Hochwasser im Winter 1816/17
brachte dann ihre Zustimmung. Indem der Rhein nun reguliert wurde, entstand
erstmals mit dem Talweg des Flusses auch eine genau festgelegte Hoheitsgrenze
zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund. Ironie der Geschichte: Tullas
Kanalisierung des Rheins, die für das militärische Auge erstmals
eine sogenannte natürliche" Grenze produzierte, wurde pünktlich
fertig zur Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871. Bloß
da hatten die Deutschen die natürliche" Grenze zwischen beiden
Ländern gerade auf den Vogesenkamm gelegt (15).
Die Wacht am Rhein
Seit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident von Preußen
1862 betrieb Bismarck seine Politik der deutschen Einheit. Frankreich
mußte diese Einheit fürchten - und den Gebrauch, den die
Deutschen davon machen würden. Frankreich suchte diese Einheit
daher zu verhindern. 1870 brach der Krieg zwischen den beiden aus (16).
Bismarck hatte eine diplomatische Ungeschicklichkeit Frankreichs ausgenutzt
und über die EMSER DEPESCHE die öffentliche Meinung in Harnisch
gebracht. Die patriotische Stimmung des Jahres 1840 wiederholte sich
beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Wiederum
sammelten sich die vaterländischen Empfindungen in Versen, die
von vielen Deutschen begeistert gesungen wurde. Es war die WACHT AM
RHEIN des schwäbischen Jung-Fabrikanten Max Schneckenburger. 1854
erhielt es von Karl Wilhelm eine zündende Melodie, die das Gedicht
durchsetzte und es zum meistgesungenen Lied im Kriegsgetöse von
1870/71, ja, sogar zur heimlichen Nationalhymne noch bis ins Jahr 1914
machte: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall / Wie Schwertgeklirr
und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer will
des Stromes Hüter sein? / Lieb Vaterland magst ruhig sein: / Fest
steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!"
Der deutsch-französische Krieg war zwar der letzte Kabinettskrieg
des 19. Jahrhunderts, noch nie zuvor - mit Ausnahme des amerikanischen
Bürgerkrieges - hatte es jedoch ein solches Massensterben in einzelnen
Schlachten gegeben wie jetzt. Und nie zuvor hatte man sich in einem
Krieg in so hohem Maße der Möglichkeiten des industriellen
Zeitalters bedient: der modernsten Waffentechnik, der Eisenbahn, des
Telegraphen.
Mit seinem Sieg über Frankreich gewann Deutschland seine nationale
Einheit (17). Dadurch, daß der preußische König Wilhelm
I. im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses zu Versailles
zum deutschen Kaiser proklamiert wurde, war der Sieg über Frankreich
unmittelbar mit der Staatsgründung verbunden. (Das erste Hoch auf
den neuen Kaiser, der noch 1849 als der sogenannte Kartätschen-Prinz
mit seinen Truppen der badischen demokratischen Revolution ein brutales
Ende bereitet hatte, brachte in verständlicher Dankbarkeit der
badische Großherzog aus...) Frankreich verlor jetzt seine Vormachtstellung
in Europa; es verlor das Elsaß und das deutschsprachige Lothringen
einschließlich Metz, dazu seine Hoffnung auf die Wiedergewinnung
der Rheingrenze.
Die Elsässer waren in ihrer Mehrheit gegen die Auslieferung ihrer
Provinz an Deutschland. Das Elsaß gehörte als Ganzes seit
dem Frieden von Rijswijk (1697) zu Frankreich und hatte, im Gegensatz
zum deutschen Rheinufer, zwei friedliche Jahrhunderte erlebt und sich
längst an Bourbonen, Sansculotten, den korsischen Kaiser und die
Bürgerkönige gewöhnt. Im Februar 1871 protestierten Vertreter
aus dem Elsaß und Lothringen in der französischen Nationalversammlung:
"Elsaß und Lothringen wollen nicht abgetrennt werden ...
Frankreich kann die Abtretung von Lothringen und dem Elsaß weder
zustimmen noch sie unterzeichnen..." (18) Der Protest blieb
ohne Erfolg, ebenso die Forderung nach einer Volksabstimmung über
die nationale Zugehörigkeit. Daraufhin entschlossen sich 8,5% der
Bevölkerung zur Auswanderung nach Frankreich. Die AUGSBURGER ALLGEMEINE,
eine der führenden deutschen Zeitungen jener Epoche, schrieb am
31. August 1870 in damals noch ungewohnter Brutalität: "Hübsch:
Die Kinder sollen abstimmen, ob sie Kinder ihrer Mutter seien. (...)
Mit der Rute müssen wir leider anfangen. Die entarteten Kinder
müssen unsere Faust spüren. Der Züchtigung wird die Liebe
folgen, und diese wird sie wieder zu Deutschen machen."
Frankreich war zutiefst gedemütigt worden. Die unerwartet schnelle
Niederlage gegen die auf Paris vorstürmenden Deutschen, den Verlust
seiner Rolle als Führungsmacht in Europa und auch die territorialen
Verluste nach der Abtrennung Elsaß-Lothringens konnte es kaum
verwinden. Die nationale Scham wegen der bedingungslosen Kapitulation
schlug um in Haß auf die hochmütigen Sieger und vergiftete
abermals die Beziehungen der beiden Völker.
Unterdessen betrieb Deutschland in Elsaß-Lothrin-gen eine harte
Germanisierungspolitik (19). Es ver-weigerte Elsaß-Lothringen
den Status eines gleich-berechtigten Bundeslandes. Man kann von einer
regelrechten Diktatur der preußischen Verwaltung sprechen. Die
französische Sprache wurde in der Öffentlichkeit untersagt,
die französische Presse zurückgedrängt. Zwar gab es um
1900 Anzeichen einer Entspannung, einer vorsichtigen deutsch-französischen
Annäherung, aber sie war nicht von langer Dauer. Die aggressive
Politik Wilhelms II. mobilisierte nach der Entlassung Bismarcks im Jahre
1890 sogleich wieder den Nationalismus der Franzosen und brachte auch
das Problem Elsaß-Lothringens wieder auf die Tagesordnung. In
Elsaß-Lothringen demonstrierte eine eindrucksvolle Mehrheit der
Bevölkerung beharrlich für die Trikolore, sei es bei den Kriegergedenkfeiern
auf den alten Schlachtfeldern, sei es im Alltag durch das Festhalten
an der französischen Kultur, oder sei es mit Karikaturen und Parodien
auf die preußischen und reichs-deutschen Herrenmenschen und ihre
fruchtlosen Germanisierungsversuche. Die deutschen Behörden gingen
mit repressiven Maßnahmen dagegen vor, säten Wind und ernteten
Sturm. Wie vor 1870 machte sich vor 1914 abermals auf beiden Seiten
des Rheins ein erbitterter Nationalismus bemerkbar. Die Bemühungen
der Pazifisten und Kriegsgegner konnten ihn nicht eindämmen. In
ein Netz von Bündnissen verstrickt, unternahmen beide Staaten während
der Juli-Krise 1914 nichts, um den Krieg zu vermeiden. Beide Nationen
trieben auf den Kriegsausbruch zu, beide sahen ihn kommen, in beiden
Ländern richteten die Besonnenen nichts mehr aus. Deutschland in
seiner Überheblichkeit wollte die Hegemonie auf dem Kontinent behaupten,
Frankreich sie zurückgewinnen. Kopfloser Nationalismus, auf Nibelungentreue
getrimmt, führte in die Katastrophe des Weltkriegs - der europäische
Bürgerkrieg nahm seinen Anfang.
Zu lange war schon Frieden"
Die Geschichte des Ersten Weltkrieges ist bekannt.
Für die mörderische Idiotie eines jahrelangen Stellungskrieges
mit modernsten Massenvernichtungswaffen steht als in der ganzen Welt
bekanntes Zeichen der Name VERDUN - im Elsaß heißt ein ähnlicher
Ort HARTMANNSWEILER KOPF bzw. VIEIL ARMAND, eine bewaldete Vogesenhöhe
(956m), wo zwischen Dezember 1914 und Januar 1916 insgesamt 60.000 deutsche
und französische Soldaten im Kampf um noch nicht einmal hundert
Meter Geländegewinn ihr Leben ließen.
Die meisten Schriftsteller aus beiden Ländern, die 1914 - was
uns heute völlig unbegreiflich erscheint - den Krieg wie Thomas
Mann als Reinigung, Befreiung, Hoffnung begrüßt hatten, machten
in den folgenden Jahren einen tiefgreifenden Wandel durch und traten
z.T. schon in den Jahren 1915/16 als entschiedene Kriegsgegner oder
Pazifisten auf - es schien so, als sei der kollektive europäische
Wahnsinn nicht wiederholbar.
Auch kündigte sich in den Jahren 1924 bis 1930 ein zaghafter Frühling
der deutsch-französischen Beziehungen an. Der Weitblick und das
politische Geschick von Staatsmännern wie Aristide Briand und Gustav
Stresemann berechtigten zu Hoffnungen. Diese Hoffnungen zerstörten
die Nationalsozialisten, denen es gelang, den Groll der frühen
zwanziger Jahre gegen die Reparationen und das sogenannte Diktat von
Versailles wieder anzufachen. Frankreich und andere Nationen schienen
mit Blindheit geschlagen. Sie sahen nicht, oder wollten nicht sehen,
daß Nazi-Deutschland sich auf einen Krieg vorbereitete: Die zunächst
geheime, später offene Aufrüstung der Reichswehr, der Austritt
aus dem Völkerbund, die verbotene Remilitarisierung des Rheinlandes:
das hätte Mißtrauen wecken müssen. Es kam dann Schlag
auf Schlag: Einmarsch der Wehrmacht in Österreich, ins Sudetenland,
Annexion Böhmens und Mährens. Am 3. September 1939 schließlich
der Überfall auf Polen - im Osten ein BLITZKRIEG (Lemberg wird
erstmals sowjetisch) - im Westen zunächst nichts Neues...
Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit
...d.h. am Rhein blieb es zunächst ruhig. Frankreich vertraute
auf die Maginot-Linie - einen Befestigungsgürtel im französischen
Grenzgebiet, der 1929 bis 1932 erbaut worden war. Der Krieg fand noch
im Osten statt, in Polen. Im Westen hielten auf dem deutschen Ufer eine
VII. Armee und auf dem französischen Ufer eine VIII. Armee wieder
einmal die WACHT AM RHEIN. Dann aber, am 10. Mai 1940, brach die lang
erwartete deutsche Offensive am Rhein los: Artillerieduelle auf höchstem
technischen Niveau, heroisch-romantische Sturmbootangriffe, der Tod
in den Kasematten von Marckolsheim, wieder einmal ein deutscher BLITZKRIEG
- und 6 Wochen später, am 22. Juni 1940, unterzeichnete Frankreich
den Waffenstillstand. Dies war eine überraschend schnelle und fast
vollkommene Niederlage, die Erinnerungen an 1870 wachrief. Der Sieg
von 1918 war vertan, verloren auch das Elsaß und Lothringen. Die
Deutschen annektierten beide Territorien vollständig und begannen
erneut und mit brutaler Gewalt eine zweite, diesmal rassistisch-radikale
Germanisierung. Sie errichteten ihre Todesfabriken, die bekannteste
heißt LE STRUTHOF bei Schirmeck in den Vogesen. Sie zwangen junge
Elsässer und Lothringer zum Militärdienst in der deutschen
Wehrmacht. Die französische Vergangenheit im Elsaß sollte
ausgelöscht werden: Die französische Sprache wurde verboten;
Inschriften abgeschlagen; Denkmäler vom Sockel geholt. Schließlich
wurde auch das restliche Frankreich besetzt und voll in den Dienst der
deutschen Kriegswirtschaft gestellt.
Auch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist bekannt. Kaum bekannt
sind hingegen die ultimativen Heldentaten Heinrich Himmlers am Oberrhein.
Der berüchtigte SS-Führer erfüllte sich nämlich
Ende 1944 einen langgehegten Traum und wurde für kurze Zeit Feldherr,
genauer gesagt OBERBEFEHLSHABER OBERRHEIN mit Hauptquartier in einem
Salonwagen, der, vorn und hinten jeweils mit einer startbereiten Lokomotive
bestückt, am Bahnhof Triberg im Schwarzwald abgestellt war und
bei Bedarf (z.B. Fliegeralarm) in den bombensichere Haldentunnel gefahren
werden konnte. Himmler plante im Januar 1945, Straßburg von den
Amerikanern zurück zu erobern, scheiterte aber und kehrte unverrichteter
Dinge zurück nach Berlin, wo er nun seinerseits dem ukrainischen
General Pavlo Schandruk einen langehegten Traum erfüllen und zähneknirschend
erlauben mußte, daß sich die SS-Division GALIZIEN umbenennen
durfte in ERSTE DIVISION DER UKRAINISCHEN NATIONALARMEE (Ende April
'45). Kurz danach ergab sich die ukrainische Nationalarmee den Briten,
und Himmler versuchte, mit Augenklappe und unter dem Namen Heinrich
Hitzinger an den Amerikanern vorbei aus Schleswig-Holstein und aus der
Geschichte zu entfliehen. Als das nicht gelang, biß er am 23.
Mai 1945 auf eine Zyankali-Phiole und entzog sich so dem Nürnberger
Tribunal.
Im Westen nunmehr allerhand Neues: Dank de Gaulle war Frankreich gleichsam
als Junior-Part-ner der Amerikaner, der Briten und der Sowjetunion an
der Niederwerfung des Hitler-Reiches beteiligt. Nach diesen Erfahrungen
mußte 1945 de Gaulle, wenn er bei Verstand war, strikt gegen die
Wiederherstellung eines einheitlichen und zentralistischen deutschen
Reiches sein. Ein geteiltes und föderalistisch gegliedertes Deutschland
war für Frankreich und für die anderen Siegermächte eine
Sicherheitsgarantie, eine Lebensnotwendigkeit. De Gaulle verlangte auch
Sonderregelungen an Rhein, Ruhr und im Saargebiet - den deutschen Waffenschmieden
(20). Das linke Rheinufer - als Einfallstor nach Frankreich - sollte,
vom übrigen Deutschland getrennt, unter die politische und militärische
Kontrolle der Alliierten gestellt werden. Mit diesen Forderungen konnte
sich der französische General jedoch nicht durchsetzen. Die Teilung
Deutschlands erfüllte sich jedoch während des Kalten Krieges.
Noch während des Zweiten Weltkrieges waren allerdings auch andere
Konzepte für den Umgang mit Deutschland und den Wiederaufbau Europas
diskutiert worden. Diese Überlegungen - in Frankreich vom sozialistischen
Widerstand getragen - fußten auf der Einsicht, daß nationale
Machtstaaten überwunden werden müßten, wollte man den
Herd immer neuer Konflikte in Europa endgültig zum Erlöschen
bringen. Dafür war ein Teilverzicht nationaler Souveränität
unabdingbar. Die künftige Integration der europäischen Staaten
in einer Europäischen Gemeinschaft war hier bereits vorgedacht
worden. Weiterhin lag den Projekten die Erkenntnis zugrunde, daß
Europa nicht ohne, sondern nur mit Deutschland aufzubauen war. Außerdem
hatten Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft den Grundstock dafür
zu bilden, daß dieses Konzept greifen konnte. Deutschland selbst
müsse daher eine längere Periode der Umerziehung und Umstrukturierung
über sich ergehen lassen. Zunächst war die französische
Besatzungspolitik jedoch von ganz anderen Faktoren bestimmt, den Demontagen
und den Lebensmittelentnahmen, die in Deutschland eine drückende
Hungersnot auslösten.
Frankreich und Deutschland in Europa
Die neue Nachkriegsordnung wurde nicht mehr von Paris aus oder von
dem geteilten Deutschland bestimmt. In der Rivalität zwischen den
nach dem Weltkrieg alleinigen Weltmächten USA und UdSSR wurde Deutschland
zwischen den beiden Lagern geteilt. Frankreich, das keine Großmacht
mehr war, mußte die Lösungen akzeptieren, die London, vor
allem aber Washington diktierten. Die Gründung einer Bundesrepublik
Deutschland hat Frankreich widerstrebend hingenommen.
Trotz der Härten der Besatzungszeit liegt der Beginn einer deutsch-französischen
Aussöhnung in diesen Jahren. Schon 1945 hatte de Gaulle während
einer Reise durch die französische Besatzungszone erklärt,
daß "... die Zeit verstreichen wird und die Wunden sich
wieder schließen werden ..." In Straßburg sagte
er: "Der Rhein war eine Barriere, eine Grenze, eine Kampf-linie
..., er kann wieder ein Bindeglied für West-europa werden."
In den Jahren seiner zweiten Amtszeit, entwickelte de Gaulle die Vorstellung,
auf der Grundlage der deutsch-französischen Freundschaft das neue
Europa zu bauen. In der Tat sollten sich auch Frankreich und Deutschland
später als Motoren der europäischen Integration erweisen.
Sowohl der Maastricht Vertrag als auch die Währungsunion gingen
auf deutsch-französische Initiativen zurück.
Der Oberrhein war seit Beginn der Zeitrechnung ein bedeutender Verkehrsweg
in nordsüdlicher Richtung. Bis heute finden sich hier alle wichtigen
Verkehrslinien: Die Wasserstraße selbst mit begleitenden Kanälen,
die Eisenbahnen, die Autobahnen und Landstraßen. Die Querverbindungen
in westöstlicher Richtung sind weniger ausgeprägt. Sie konzentrieren
sich auf die Übergänge Colmar-Breisach, Straßburg-Kehl,
auf Karlsruhe und den Raum Ludwigshafen-Mannheim. Der Oberrheingraben
als Verkehrsachse, die den Norden Europas mit dem Süden verbindet,
ist eingeflochten in ein großräumiges, kontinentales Verkehrsnetz.
Er ist ein Kernraum Westeuropas. Hier, wenn irgendwo, müßte
das zukünftige, vereinte Europa zuerst Gestalt annehmen.
Wenn auch die Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Deutschland seit
einigen Jahren abgebaut sind, die wirtschaftlichen Verflechtungen zunehmen
und tagtäglich ein Heer von Pendlern, die auf unterschiedlichen
Seiten des Rheins leben und arbeiten, die Grenze überschreiten,
steht noch nicht alles zum besten. Es gibt immer noch unterschiedliche
technische Normen, Rechts- und Verwaltungsbestimmungen, Sozialgesetzgebungen,
Steuer- und Zollvorschriften, die eine stärkere Verflechtung behindern.
Einiges wird sich in den kommenden Jahren mit einer weiteren Integration
der Europäischen Union von selbst erledigen.
Bereits heute unterstützt die Europäische Union mit ihrem
Interreg-Programm die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf allen
Bereichen. Beratungsstellen beraten Grenzgänger vor allem in sozialen
und arbeitsrechtlichen Fragen, Euro Info Centres stehen der Wirtschaft
für grenzüberschreitende Aktivitäten zur Seite. Alle
Universitäten des Oberrheingebiets sind vernetzt, ihre Angebote
stehen allen Studierenden der Region offen. Enge grenzüberschreitende
Kooperation besteht zwischen den Gewerkschaften der Region ebenso wie
zwischen den Wirtschaftsverbänden. Seit 1971 arbeitet eine STÄNDIGE
DEUTSCH-FRANZÖSISCH-SCHWEIZER-ISCHE KONFERENZ FÜR REGIONALE
KOORDINATION. Regionale Planungen versucht man grenzüberschreitend
weitgehend aufeinander abzustimmen. 1991 wurde eine DEUTSCH-FRANZÖSISCH-SCHWEIZERISCHE
OBERRHEIN-KONFERENZ eingerichtet.
Eine ganz andere, von keiner Obrigkeit angeregte oder abgesegnete grenzüberschreitende
Zusammenarbeit entfalteten zwischen 1974 und 1982 in enger Verbindung
mit Gruppen aus der Nordwestschweiz die BADISCH-ELSÄSSISCHEN BÜRGERINITIATIVEN.
Sie verhinderten nämlich in diesem Zeitraum gegen den erklärten
Willen sowohl der französischen als auch der deutschen Regierung
den Bau verschiedener Atomkraftwerke und anderer gefährlicher Industrieprojekte
(21).
Was in den Augen der Politiker zunächst nur wie eine etwas lächerliche,
wenn auch lästige Sekte aussah, wuchs sich in kürzester Zeit
zu einer regionalen grenzüberschreitenden Volksbewegung aus, deren
unkonventionelle und erfolgreiche Methoden in allen Ländern Westeuropas
kopiert wurden.
Die Medien griffen zuerst diese neue ökologisch begründete
Industriekritik auf, dann, wenn auch gegen erhebliche Widerstände
in den zuständigen Verwaltungen, die Hochschulen und Schulen, die
Kirchen, und schließlich auch, gezwungenermaßen, die Gewerkschaften
und die Parteien. Die Zeit war reif für ein Neues Denken - heute
kann es sich kein Politiker mehr leisten, die ökologische Dimension
irgendeines geplanten Großprojektes außer Acht zu lassen.
Als am 20. September 1974 auf dem besetzten Bauplatz im elsässischen
Marckolsheim ein Transparent mit der Schrift DIE WACHT AM RHEIN entrollt
wurde, deklarierten die Umweltschützer aus beiden Ländern
damit zugleich ironisch wie auch entschlossen das Ende der Erbfeindschaft
zwischen Deutschen und Franzosen und funktionierten die traditionsreiche
Kriegsparole um in eine Solidaritätsparole der von der Umweltzerstörung
betroffenen Bürger. Eine radioaktive Wolke, so argumentierten damals
die Sprecher jener ökologischen Bürgerrechtsbewegung (zwölf
Jahre vor der Katastrophe von Tschernobyl), respektiere keine nationalstaatlichen
oder ideologischen Grenzen. Die Nachbarvölker sollten sich also
hinfort nicht mehr in Kriege aufeinander hetzen lassen, sondern gemeinsam
über die Lebensgrundlagen der Region wachen und jeden Anschlag
darauf zurückweisen, ganz gleichgültig, ob er von einem multinationalen
Konzern oder von einer Politik im nationalen Interesse drohe.
Die internationale Presse schrieb damals voller Staunen über den
rätselhaften GEIST VON MARCKOLSHEIM - und tatsächlich, der
Name dieses kleinen Ortes im elsässischen Ried wurde einer, den
man sich hat merken müssen.
MARCKELSE
en Marckelse hets aangfange
Marckelse lejt am Rhin
en Marckelse han mer s guldene kalb gstoche
en Marckelse han mer d demokratie entdeckt
en Marckelse han mer d granze gsprangt
en Marckolse sen mer majorann worre
en Marckolse hets aangfange
Marckelse em Elsass
(André Weckmann)
(1) Zum folgenden D. Stollwerck, Das Problem der Rheingrenze unter
besonderer Berücksichtigung Ludwig XIV., Diss. Phil. München
1972, S. 1ff. Allgemein auch Ilja Mieck, Deutschlands Westgrenze, in:
Deutschlands Grenzen in der Geschichte Hg. von Alexander Demandt, München
1990, S. 191-233.
(2) H. J. Tümmers, Der Rhein. Ein europäischer Fluß
und seine Geschichte, München 1994, S. 121ff.
(3) Zu diesem Abschnitt W. Hug, Geschichte Badens, Stuttgart 1992,
S. 116-129.
(4) H. J. Tümmers, op. cit, S. 121ff.
(5) I. Mieck, op. cit., S. 209ff.; W. Hug, op. cit., S. 148ff.
(6) Geschichte der Stadt Freiburg, Bd. 2: Vom Bauernkrieg bis zum Ende
der habsburgischen Herrschaft, hg. von H. Haumann und H. Schadek, Stuttgart
1994, S. 211ff.
(7) Zit. nach D. Stollwerck, op. cit., S. 3.
(8) W. Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871
(Die Neue Deutsche Geschichte Bd. 7) München 1995, S. 297ff.; H.
J. Tümmers, op. cit.; S. 214ff
(9) J. Rovan: Zwei Völker - eine Zukunft. Deutsche und Franzosen
an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. München, Zürich 1986,
S. 59ff.
(10) R. Poidevin, J. Bariéty, Frankreich und
Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815-1975, München
1982, S. 29ff.
(11) W.Moßmann, P.Schleuning: Alte und neue politische Lieder,
Hamburg 1978, S.18ff.
(12) Geschichte der Stadt Freiburg, Bd. 3: Von der badischen Herrschaft
bis zur Gegenwart, hg. von H. Haumann und H. Schadek, Stuttgart 1992,
S. 61ff.
(13) Vgl. R. Poidevin, J. Bariéty, op. cit., S. 44ff und 71ff.
(14) H. J. Tümmers, op. cit., S. 137ff.
(15) W.Mossmann, Flugblattlieder, Streitschriften. Berlin 1980, S.168
ff.
(16) R. Poidevin, J. Bariéty, op. cit. S. 108ff.
(17) W. Siemann, op. cit., S. 389ff.
(18) R. Poidevin, J. Bariéty, op. cit., S. 121¸ff.
(19) R. Poidevin, J. Bariéty, op. cit., S. 150ff.
(20) Hierzu allgemein E. Wolfrum, P. Fäßler, R. Grohnert,
Krisenjahre und Aufbruchszeit. Alltag und Politik im französisch
besetzten Baden 1945-1945, München 1996.
(21) Dazu vgl. den Text von Jean Jacques Rettig im selben Journal.
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12
1998
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