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Wilfried Telkämper

Schengen Und Die Folgen

Öffnung Nach Innen - Abschottung Nach Aussen

Die 15 Staaten der Europäischen Union befinden sich gegenwärtig in einem Transformationsprozeß vom jeweiligen Nationalstaat hin zu einem EU-Staatenverbund. Schon das bundesdeutsche Verfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht 1993 diesen Begriff Staatenverbund verwandt, weil das sich entwickelnde Miteinander der EU-Staaten mehr sein wird als ein Staatenbund, aber weniger als ein neuer Nationalstaat.

Die Gesellschaften der einzelnen Mitgliedstaaten haben hier eine große Aufgabe und Verantwortung. Allerdings ist bisher EU-Europa nicht von unten durch seine Bürger gewachsen, sondern von oben herab durch die jeweiligen Regierungen konstruiert. Eine EU-Identität der Bürgerinnen und Bürger hat sich bisher nur in wenigen Gebieten herausgebildet. Eine eigenständige demokratische Entwicklung der EU ist noch in weiter Ferne. Nicht einmal ein verfassungsgebender Prozeß ist absehbar.

Doch gerade der Begriff des EU-Staatenverbundes enthält die Entwicklungschance zu einem friedlichen Miteinander der europäischen Staaten unter Wahrung ihrer kulturellen Identitäten.

Real befinden wir uns aber nach wie vor in der Situation eines gespaltenen Europas; gespalten zwischen EU-Europa und den Reststaaten. Innerhalb der EU hat sich ein gemeinsamer Markt entwickelt, der die Grenzen im Innern für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen im Sinne von Arbeitskräften geöffnet, nach Außen jedoch umso mehr verschlossen hat. Dieser Markt wird ab 1. Januar 1999 zu einer gemeinsamen Währungsunion weiterentwickelt. Allerdings haben es die Regierungschefs im Vertrag von Amsterdam vom Oktober 1997 versäumt, dieser ökonomischen Entwicklung eine demokratisch kontrollierende, politische Instanz gegenüberzustellen. Die EU ist in ihrer Struktur nach wie vor so undemokratisch, daß sie sich gemessen an den Anforderungen gegenüber Drittstaaten bezüglich der demokratischen Entwicklung der Menschenrechte selbst nicht beitreten könnte. Die Gewaltenteilung existiert nicht, die Regierungsvertreter sind auch nach dem Amsterdamer Vertrag die EU-Legislative, die auf ihrem Heimflug in die nationalen Hauptstädte zur nationalen Exekutive mutieren, und das umsetzen müssen, was sie vorher selbst beschlossen haben.

Soziale und ökologische Politik ist bisher ganz unberücksichtigt geblieben. Im Gegensatz dazu wird aber eine Gemeinsame Außen- und Sicherheits- (sprich: Militär-) Politik entwickelt, die von der bisherigen Markt- und Währungspolitik der EU hinführt zu einer neuen gemeinsamen Hegemonialpolitik der 15 Mitgliedstaaten. Durch Sonderverträge oder -abkommen wie z.B. einer gemeinsamen militärischen Zusammenarbeit - etwa der DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BRIGADE - werden neue außenpolitische Realitäten geschaffen. Entsprechend gibt es auch innenpolitische Entwicklungen wie mit dem Schengener Abkommen.

Wer in Brüssel am Flughafen ankommt, findet einen eigenen Eingang für EU-Angehörige und einen zweiten für Menschen aus Drittstaaten. Hier wird die Entwicklung zu neuen Außengrenzen offensichtlich.

Seinen Anfang genommen hat dieser neue Grenzziehungsprozeß 1985. Damals unterschrieben die Innen- und Justizminister der Beneluxstaaten, FrankreichS und der Bundesrepublik das erste Schengener Abkommen. Dieses Abkommen sollte die Einführung des Binnenmarktes flankieren: nicht nur grenzenlos freier Austausch von Waren und Geld, auch die EG-Bürger sollten im neu geschaffenen Markt ohne lästige Zollkontrollen hin- und herreisen können.

Dieses Abkommen, das in Schengen/Luxemburg unterzeichnet wurde, bildete das Modellprojekt für die innen- und rechtspolitische Zusammenarbeit in Europa. Es wurde auf Betreiben der deutschen und der französischen Regierung abgeschlossen, ohne daß die nationalen Parlamente, die europäische Volksvertretung oder gar die Öffentlichkeit in den Mitgliedstaaten informiert oder beteiligt worden wären. Bei der Revision des Maastrichter Vertrags einigten sich die Regierungschefs zwar auf die Übernahme des Schengener Abkommens in den EG-Vertrag. D. h. die bisherige intergouvernementale Zusammenarbeit wird abgelöst. Alle Gemeinschaftsorgane sollen in Zukunft an Schengen beteiligt sein und es kontrollieren. Allerdings besteht eine großzügig bemessene Übergangsfrist von fünf Jahren. Und was noch entscheidender ist: Es wurde nicht festgelegt, in welcher Form beispielsweise das Europäische Parlament an den zukünfigen Entscheidungen im Rahmen von Schengen partizipieren wird.

Bislang sind Italien, Spanien, Portugal und Österreich dem Abkommen beigetreten. Norwegen und Island als Nicht-EU-Mitglieder sind dem Abkommen nur assoziiert, haben die Regeln aber voll anerkannt. Grundsätzlich an einem Beitritt interessiert sind auch Griechenland und die Schweiz, Großbritannien und Irland, wobei letztere bereits an der Polizeikooperation teilnehmen, dem Abkommen aber noch nicht formal beigetreten sind. Ratifizierungsabkommen laufen mit Dänemark, Schweden und Finnland. Sie mußten sich einem harten Diktat der Schengen-Staaten unterwerfen, denn sie haben keinen Einfluß auf die Formulierung und Auslegung der Schengen-Regeln. Sie sind gezwungen zu akzeptieren und umzusetzen, was die Gründungsmitglieder von Schengen beschlossen haben. Dies ist die einzige Möglichkeit, am grenzkontrollfreien Raum mit all seinen Vorteilen für den Warenverkehr teilzunehmen. Ansonsten würde die hermetisch gesicherte Außengrenze des Schengener Abkommens mitten durch die Europäische Union verlaufen, zum Nachteil derer, die draußen stehen.

Die Freizügigkeit an den Binnengrenzen soll aber nicht die freie Fahrt für Straftäter, insbesondere aber für Flüchtlinge oder Migrantinnen bedeuten: sie werden zunehmend als Gefahr für die innere Sicherheit der Schengenstaaten dargestellt. Um den SICHERHEITSVERLUST wettzumachen, waren deshalb von vornherein Maßnahmen beschlossen worden, die die EU-Außengrenzen zu einer HARTEN GRENZE machen sollten. In SCHENGENLAND hat jeder Staat weniger Grenzen im bisherigen Sinne, ist aber zugleich für mehr Grenzen mitverantwortlich und muß sich im Interesse seiner Sicherheit für mehr Grenzen interessieren: die Oder-Neiße-Linie ist auch die Grenze Frankreichs, seine neue Ostgrenze geworden, Deutschland muß sich dafür interessieren, was in Ceuta am spanisch-marokkanischen Flüchtlingszaun passiert, alle interessieren sich für die Grenzen Italiens mit Schengenland und was zwischen Italien und Albanien vor sich geht.

Vor diesem Hintergrund wurde ein gemeinsames Visum für sog. DRITTAUSLÄNDER eingeführt, und die Liste der Staaten, deren Bürger ohne Visum einreisen dürfen, wird gemeinsam festgelegt. Die gemeinsamen strikten Visaregelungen führen dazu, daß nur sehr begrenzt Menschen aus anderen Teilen der Welt in das Schengener Vertragsgebiet einreisen können. Darüber hinaus wurde die Rechtshilfe in Strafsachen und Auslieferungen erweitert und die Geschäftswege vereinfacht.

Angeglichen hat sich auch der Standard der Außengrenzkontrollen. Vorreiter dabei ist die BRD. Ihre Außengrenzen, also die deutsch-polnische und die deutsch-tschechische Grenze, werden mit einem massiven Einsatz von Bundesgrenzschutz, bayrischer Polizei und Zoll gesichert. Über 10.000 PolizistInnen und Zollbeamte stehen inzwischen an den deutschen Ostgrenzen. Bereits im Sommer 1996 schwärmte man beim Grenzsschutzpräsidium Ost von der HÖCHSTEN GRENZPOLIZEILICHEN DICHTE IN GANZ EUROPA. An den offiziellen Grenzübergängen und auf den Flughäfen werden die Reisenden sortiert in BürgerInnen der EU und von Drittstaaten. Letztere müssen eine peinlich genaue Kontrolle über sich ergehen lassen. Stichproben werden jedoch auch bei den EU-Staatsangehörigen gemacht. Da trifft es insbesondere Menschen, die nicht dem Aussehen mitteleuropäische DurchschnittsbürgerInnen entsprechen. Sie sind grundsätzlich verdächtig, illegal einwandern zu wollen, mit Drogen zu dealen oder sonstige Missetaten aus dem Katalog der Organisierten Kriminalität zu planen.

Nach dem selben Muster verfährt der Bundesgrenzschutz und die Länderpolizei bei der Auswahl der Kontrollierten innerhalb des 30 km tiefen Binnengrenzraums im Westen der BRD. In dieses Gebiet wurde nach dem Abbau der Grenzkontrollen die Überwachung in Form eines SICHERHEITSSCHLEIERS verlagert. Darüber hinaus soll nach den Vorstellungen von Bundesinnenminister Kanther die Bahnpolizei in Zukunft auf dem gesamten Bundesgebiet eingesetzt werden und Kontrollen durchführen. Die Feindbilder der kontrollierenden Beamten werden zum Maßstab; die VISUELLE GESAMTKONTROLLE kann jederzeit zur Kriminalisierung führen. Wer nicht dem Durchschnittstyp entspricht, wer dunkelhäutig ist (wie ein Flüchtling) oder gebrochen deutsch spricht (wie ein Ausländer) läuft wachsende Gefahr, verfeinerten Formen von Repression zu unterliegen.

Verfälschend ist es daher, wenn durch das populäre Motto der ÖFFNUNG DER SCHLAGBäUME und des FREIEN PERSONENVERKEHRS suggeriert wird, Schengenland bestehe aus einer großen Familie. Die nationalen Grenzen sind in Europa optisch nahezu verschwunden, sie haben sich jedoch vervielfacht und unsichtbar ins Landesinnere verschoben.

Polizeizusammenarbeit.

Dieser Prozeß wurde durch eine Intensivierung der länderübergreifenden Polizeizusammenarbeit flankiert. Das Schengener Abkommen ist das erste multilaterale Abkommen, das die Zusammenarbeit im Polizeibereich regelt und den Mitgliedstaaten dabei Einschränkungen eigener nationaler Souveränitätsrechte abverlangt. So erlaubt es, daß mutmaßliche StraftäterInnen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg beobachtet werden dürfen. Der Radius dieser POLIZEILICHEN NACHEILE und die Befugnisse der PolizistInnen auf dem Hoheitsgebiet der benachbarten Schengenländer regeln zusätzliche bilaterale Polizeiabkommen.

Die Polizeikooperation macht vor den Außengrenzen Schengens nicht halt. Die BRD hat schon 1991 mit Polen ein Abkommen zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität abgeschlossen; 1995 folgte das nächste über die Zusammenarbeit der Polizei- und der Grenzschutzbehörden. Der BGS vermittelt der polnischen Grenzpolizei Informationen über die Bewegung von Flüchtlingsgruppen und damit Tips für gezielte Kontrollen und Razzien auf polnischer Seite. Auch aufgrund der technischen Aufrüstung - Wärmebildkamaras gehören inzwischen zur Standardausrüstung - gelingt es nur noch einem winzigen Bruchteil aller Flüchtlinge, über die deutsch-polnische Grenze zu kommen. Auf der polnischen Seite werden jährlich zwischen 10.000 und 15.000 Personen durch Festnahme an der Grenzüberschreitung gehindert.

Länderübergreifende Sonderkommissionen zur Bekämpfung von Drogenschmuggel und internationalen Kfz-Verschiebungen stehen inzwischen auf der Tagesordnung. Die Standards der Schengen Zusammenarbeit werden damit weit über das eigentliche Vertragsgebiet hinaus ausgeweitet, ohne daß die kooperierenden Staaten die Möglichkeit hätten, Einfluß auf dessen Gestaltung zu nehmen.

Sichere Drittstaaten.

Auch bei der Änderung des Asylrechts im Juli 1993 wurde Polen nicht gefragt, obwohl die Neuregelung gravierende Auswirkungen auf das Land hat. Seitdem schiebt die BRD Flüchtlinge, die über einen SICHEREN DRITTSTAAT einreisen, sofort in diesen zurück. Als sicheren Drittstaat definiert die BRD inzwischen sämtliche Nachbarstaaten sowie alle EU-Staaten. Voraussetzung dafür, daß die BRD-Nachbarländer Flüchtlinge zurücknehmen sind RÜCKÜBERNAH-MEABKOMMEN.

Ein solches Abkommen wurde mit Polen im Mai 1993 abgeschlossen. Polen verpflichtete sich, Asylsuchende aus Deutschland zurückzunehmen, die - mutmaßlich - durch Polen gereist waren. 1993, im ersten Jahr war die Anzahl noch auf 10.000 asylsuchende Flüchtlinge begrenzt, für die Folgejahre gab es kein oberes Limit mehr. Polen erhielt hierfür vom reichen Deutschland bis Ende 1994 120 Millionen Mark. Diese wurden für die RüCKüBERSTELLUNG von geflohenen Menschen in die Herkunftsländer, für die Schaffung eines zentralen Erfassungssystems für Ausländer-Daten und insbesondere für die technische Ausstattung von Polens Ostgrenzen zu Litauen, Bjelorußland und zur Ukraine verwendet.

Deutschland hatte auch noch für die eigene Industrie gesorgt. Denn gemäß dem Abkommen hatte Polen die Hälfte der technischen Geräte auch noch deutschen Herstellern abzukaufen, wie der damalige Innenminister Seiters ganz offen erläuterte. Damit wurde nicht nur die einheimische Industrie gesponsert, sondern auch die Kompatibilität der Technik gesichert. In der Kooperation mit Polen, so betonen dann auch Vertreter des Bundeskriminalamts und des brandenburgischen Landeskriminalamts, ließe sich heute zum Teil schon mehr machen, als mit den westlichen Partnerpolizeien der Schengenländer.

Die Anrainerstaaten mußten ihrerseits sicherstellen, daß sie nicht auf den Flüchtlingen sitzenblieben und schlossen deshalb Folgeabkommen mit ihren jeweiligen Nachbarländern. Polen hat nach seinem Abkommen mit den Schengen-Staaten solche Abkommen mit Tschechien, der Slowakei, der Ukraine, Rumänien und Bulgarien abgeschlossen. Diejenigen illegalen Einwanderer, die Polen von der BRD übernehmen muß, werden so in ihre Transit- oder Herkunftsländer rückbefördert.

Das schnelle BGS-Abschiebesystem konnte der polnische Grenzschutz inzwischen jenseits aller Öffentlichkeit und parlamentarischen Kontrolle kopieren. In der BRD heißt dies: 48 Stunden -Arrest beim BGS - innerhalb dieser Zeit organisiert der BGS die Abschiebung über den Flughafen Berlin/Schönefeld. Kein Haftrichter, kein Anwalt, kein Arzt, keine Verwandten oder Freunde sehen die Verhafteten. Andere werden nach Polen RüCKGESCHOBEN. Dort werden sie z.T. wiederum für 48 Stunden von der dortigen Grenzpolizei in Haft genommen und in dieser Zeit in die Ukraine oder ins Baltikum DURCHBEFÖRDERT.

Polen ist inzwischen ein zentraler Brückenkopf für die Schengenländer geworden. Die polnische Regierung reicht der ukrainischen Regierung in modifizierter Form das Know How und den Druck weiter, den sie selbst von der EU bzw. den Schengener Vertragsstaaten erfahren hat. Sie organisiert Fortbildungskurse für die Ukraine, sie organisiert die Weitergabe des Schengener Know How speziell für dieses Nachbarland, das nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben hat. Erst im Juli 1997 hat das ukrainische Parlament die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Das Land hat in den letzten fünf bis sechs Jahren mehrere hunderttausend Flüchtlinge vorübergehend und zum Teil auch dauerhaft aufgenommen. Es gibt aber keine funktionierende Flüchtlingsgesetzgebung, keine entsprechende Verwaltung, kein Ausländerrecht.

Das Gesetz FüR FLüCHTLINGE von 1993 knüpft einen legalen Flüchtlings-Aufenthaltsstatus an gänzlich unrealistische Bedingungen. So müssen Flüchtlinge, die illegal die Grenze überschritten haben, innerhalb von 24 Stunden ihren Antrag gestellt haben, die übrigen innerhalb von drei Tagen. Da sich für viele Flüchtlinge erst nach einiger Zeit herausstellt, daß die Weiterflucht vorerst unmöglich ist, gibt es für sie dann keine Legalisierungsmöglichkeit. Obwohl hunderttausende Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Kaukasus und Tadschikistans in die Ukraine gekommen sind, haben 1996 gerade einmal 1161 Flüchtlinge ihren Status legalisieren können.

Nichtsdestotrotz avancierte die Ukraine 1996 zu einem - in der Sprache der europäischen Abschiebebehörden - VIERTSTAAT. Die Liste der SICHEREN DRITTSTAATEN an der Ostgrenze (Polen und Tschechien) wurde um die Ukraine erweitert. Seit 1996 gibt es systematische Abschiebungen aus der BRD über Polen in die Ukraine. Neben dieser länderübergreifenden Koordination der Grenzschutz- und Polizei-Operationen bei Abschiebungen hat die deutsche Bundesregierung mit der Ausstattung des westukrainischen Grenzschutzes und der Polizei der Stadt und Region Kyïv begonnen. Sie werden seit Herbst 1996 mit Fahndungstechnik aus der BRD ausgerüstet.

ähnlich wie hintereinandergestellte Dominosteine umfallen, hat sich das Migrationsproblem auf die einzelnen Staaten ostwärts von Deutschland übertragen. Ein Land nach dem anderen hat seine Grenzen angesichts der Flüchtlinge aus dem jeweiligen Nachbarstaat geschlossen. Auf jeden osteuropäischen Staat wurde das komplette Abschottungssystem übertragen, vorfinanziert und notdürftig an nationale Gegebenheiten angepaßt. Selbst wenn ein Land wollte, könnte es aus diesem Netz nicht aussteigen. Dann nämlich hätte es alle Folgen der europäischen Abschottung zu tragen.

Perspektiven

Im Rahmen des Gipfels der EU-Staats- und Regierungschefs wurde nun auch der Weg für Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn und Estland freigemacht, Beitrittsverhandlungen zum Schengener Abkommen zu führen. Mit diesem Beitritt würde sich die heutige Schengengrenze dann an die Grenzen zu Rußland, Weiürußland und der Ukraine verschieben. Bis dahin werden zwar noch einige Jahre vergehen, dennoch laufen gerade in Polen verstärkte Anstrengungen, den Anforderungen genüge zu leisten. Als EU-Aspirant ist es zu einer Art Musterschüler der Schengener Vertragsstaaten avanciert. Der frühere polnische Außenminister Bartoszewski hat bereits jetzt um deutsche Hilfe bei der Sicherung der polnischen Ostgrenze gebeten.

Der Fahndungs und Flüchtlingsabwehrraum Europa wächst zusammen und perfektioniert sich. Zugleich bildet Schengen den Prototyp für ein KERNEUROPA, wie es der Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion Wolfgang Schäuble bereits 1994 gefordert hatte. Die wirtschaftlich mächtigen Staaten geben die Geschwindigkeit und Richtung der Integration vor, die anderen haben nur die Möglichkeit, hinterherzuhecheln oder sie werden abgehängt, und das zu ihrem Nachteil. Das heute sich formierende Kerneuropa hat eine zwiebelförmige Struktur: Ausgehend vom Zentrum gruppiert sich Schale um Schale der Rest. Die äußeren Schalen dürfen partizipieren: am Mythos Europa - an Menschenrechten und Demokratie vollständig; am Wohlstand schon weit weniger. So entsteht eine sorgfältig strukturierte Ordnung, deren Grenzen eben nicht nur an den Außenrändern der EU verlaufen, sondern vom Zentrum aus schichtweise nach außen fortgesetzt wird. Während die Beitrittsaspiranten zur EU sich noch Hoffnungen machen können, am Wohlstandskuchen zu partizipieren, sieht es für die ehemaligen Staaten der Sowjetunion finster aus. Sie erfüllen nichtsdestotrotz im Kerneuropamodell eine unverzichtbare Funktion: die der migrationspolitischen Pufferzone. Sie sind unverzichtbar, gerade im Hinblick auf Tendenzen, die Schutzzonen auch über Grenzen hinaus bis in die Ukraine oder nach Marokko hinein auszubauen.

Organisierte Kriminalität als neues Feindbild kreist sonderbarerweise um ein Bild von GOSSENKRIMINALITÄT, bestehend aus Autodieben, MENSCHENSCHMUGGLERN, Drogendealern und illegalen Einwanderern. Die organisierte Kriminalität kommt aber keineswegs am Rande der Gesellschaft vor, sondern bewegt sich auf den Konzernetagen der Multinationalen Konzerne oder auch in Politikerkreisen. Interessanterweise läßt aber beispielsweise die Europolkonvention diesen Bereich außen vor. Ihr Wirkungsbereich umfaßt nicht den illegalen Waffenhandel und die Korruption, wohl aber den illegalen Drogenhandel, den illegalen Handel mit nuklearen Substanzen, die Schleuserkriminalität, den Menschenhandel und die Kraftfahrzeugkriminalität. Damit orientiert sich das in der Europol-Konvention gezeichnete Bild der ORGANISIERTEN KRIMINALITÄT direkt an den Ängsten des kleinen Mannes: Die Angst, daß das Auto als Symbol des sozialen Status - von polnischen Autoschmugglern entführt werden könnte; die Angst, daß der libanesische oder albanische Asylbewerber den Kindern Drogen verkaufen könnte, die Angst vor durch Schlepperbanden eingeschmuggelte illegale Einwanderer, die "uns" die Arbeit wegnehmen. Kurz: die Angst der kleinen Leute vor einer ungewissen Zukunft und vor sozialem Abstieg, verkörpert durch Ausländer, Arme und Ausgegrenzte aller Art.

Dieses Bedrohungsbild liefert die öffentliche Rechtfertigung einer umfassenden VORBEUGENDEN Überwachungstätigkeit, die sich zuallererst gegen schwache gesellschaftliche Gruppen richtet, die aus der LEGALEN sichtbaren Gesellschaft immer mehr ausgegrenzt werden. Schon allein die Wahl der in der Europol-Konvention aufgelisteten Kriminalitätsformen suggeriert, daß Ausländer von vornherein verdächtig sind. Diese Verknüpfung von Kriminalität und Ausländersein ist umso schlimmer, als die Europol-Konvention den Aufbau einer elektronischen Datenbank vorsieht, in der auch hochsensible Daten unschuldiger Personen gespeichert, bearbeitet und ausgetauscht werden dürfen. Ausländer, und insbesondere Flüchtlinge werden die ersten Opfer des neuen europolizeilichen Eifers sein. Doch dabei wird es nicht bleiben. Die Strategen er INNEREN SICHERHEIT bedrohen auch die Sicherheit waschechter EU-Bürger.

Die Alternative zu dieser Entwicklung kann nur sein, die Idee des Staatenverbundes aufzunehmen und sie auf Gesamteuropa anzuwenden. Eine sich entwickelnde demokratische Staatlichkeit mit regionalen Eigenständigkeiten für den gesamten europäischen Raum läßt meines Erachtens keine neuen Mauern nach Außen wachsen und verhindert im Innern Überwachungstätigkeiten und den Schnüffelstaat. Nur durch ein demokratisches, soziales und ökologisches Zusammenwachsen in Ganz-Europa kann der Frieden zukünftig gesichert werden.

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N12 / 1998

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1998