Andrij Pawlyschyn
Studien zur Entstehung polnisch-ukrainischer Konflikte im 20 Jahrhundert
"Der letzte Aufstand (Polen im Januar 1863) wurde für uns
zum Wegweiser für unser künftiges Handeln ... Und er hat
uns gelehrt, unsere Begriffe über die Beschränktheit des
Egoismus und des falschverstandenen Patriotismus hinaus weiterzuent-
wickeln und unsere Taten auf die Beachtung der Menschrechte zu verpflichten."
Jaroslaw Dombrowskyj, AUFRUF AN DIE EMIGRANTEN, 19.11.1865
1.
Das im folgenden Text angesprochene Problem ist für beide Nachbarvölker
scharf und schmerzhaft. Es enthält ein gefährliches explosives
Potential und wird sich noch lange Zeit auf die Gestaltung der Koexistenz,
auf die zwischenstaatlichen Beziehungen und auf die Mentalität
beider Völker auswirken. Am 21.Mai 1997 unterzeichneten die Präsidenten
Polens und der Ukraine einvernehmlich eine bilaterale Erklärung
zur historischen Versöhnung. Dieses Dokument bezeichnet einen Durchbruch
ins 21.Jahrhundert, ist aber dennoch nur einer der ersten Schritte auf
dem langen Weg, den es noch braucht, bis die Wunden vernarbt sind, welche
die durch die Konfrontation aggressiver Nationalismen und antidemokratischer
Regimes geprägten Jahrzehnte dem ukrainischen und dem polnischen
Volk geschlagen haben.
Wenn es um ihre ideologisch bestimmten Modelle ging, achteten die
Protagonisten des historischen Prozesses Leiden und Tod ihrer Landsleute
nur noch gering. Später - nach dem bewährten Muster des divide
et impera - schürten die totalitären kommunistischen Regimes
den Konflikt und zwangen den beiden Nachbarvölkern recht erfolgreich
xenophobe Propaganda-Mythen auf. Denn die mittel- und osteuropäischen
Kommunisten ließen sich keineswegs leiten vom Internationalismus,
den hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Unter der maxistischen Phrase
lag nur schlecht getarnt ein ungezügelter Chauvinismus, den sowohl
Polen als auch Ukrainer auf beiden Seiten der Grenze zu spüren
bekamen.
Der Chauvinismus ist auch heute wieder im Begriff, einen dicken Strich
durch alle Bemühungen um gutnachbarschaftliche Beziehungen zu machen.
Besonders deutlich zeigt sich das in Wahlkampfzeiten, wenn verantwortungslose
Politiker der Rechten wie der Linken Fremdenfeindlichkeit schüren.
Nehmen wir z.B. einige Begleitumstände beim Besuch des polnischen
Präsidenten Kwasniewski in der Ukraine. Die Lwiwer Zeitung WYSSOKI
ZAMOK berichtete:Unter den Mitgliedern der Delegation fehlte der
Botschafter Dr.M.Czech. Seine Absage begründete er mit dem Hinweis
darauf, daß zur Delegation als "Expertin für ukrainische
Fragen" die Senatorin von Wrozlaw, Frau Maria Berne, gehöre.
Frau Berne habe aber in der Senatssitzung vom 17.April mit starken Worten
versucht, nachträglich die "Aktion Wisla" zu rechtfertigen.
Weiterhin habe sie sich gegen die Rehabilitierung der ukrainischen KZ-Häftlinge
aus Jawozna ausgesprochen und habe diese als "Mörder"
beschimpft. Der sowjetischen Sprachregelung folgend habe sie das ukrainische
Volk aufgeteilt in einen "richtigen" Teil und "die Nationalisten".
Mit solchen Reden unterstützt Frau Berne die ukrainischen Kommunisten
in ihren Bemühungen, den Versöhnungsprozeß zu unterminieren.
Ein anderer Fall: Anläßlich einer Jubiläumsfeier zur
Erinnerung an die Proklamation eines ukrainischen Staates im Jahr 1941
mußte die ukrainischen Öffentlichkeit unangenehm überrascht
erleben, wie die heutigen ukrainischen Rechtsradikalen in Lwiw die Staatsfahne
ihrer polnischen Nachbarn demonstrativ schändeten.
2.
Die Erforschung dieses Konflikts war in der kommunistischen Zeit vollkommen
tabuisiert. Infolgedessen konnte man damals der Öffentlichkeit
in Polen und in der Sowjetunion (gelegentlich auch mit Hilfe von linken
Intellektuellen im Westen) immer wieder ungestraft gefälschte Dokumente
vorlegen. G.Orwell hat solche Zustände in seinem Roman "1984"
sehr genau beschrieben.
In Polen hatte die Wissenschaft etwas mehr Spielraum, sodaß
dort die Forscher ihr Gewissen nicht allzusehr belasten mußten.
Trotzdem, als im Jahr 1973 die beiden Militärhistoriker A.Szczensniak
und W.Szota ein methodisch völlig marxistisch-angepaßtes
Buch herausbringen wollten, DER WEG NACH NIRGENDWO. DIE AKTIVITÄTEN
DER ORGANISATION UKRAINISCHER NATIO-NALISTEN (OUN) UND IHRE LIQUIDIERUNG
IN POLEN (Verlag des polnischen Verteidigungsministeriums, Auflage 3.500),
kam es zu einer unvorstellbaren Aufregung. Das Buch wurde beschlagnahmt
und ein Großteil der schon gedruckten Auflage eingestampft. Warum?
Der polnische Publizist P.Lewizky schreibt:
"Die Hauptsünde war die Präsentation von zahlreichen
Fakten, die Licht ins Gerüchte-Dunkel der polnisch-ukrainischen
Konflikte hätten bringen können, sowie genaue Angaben über
die Zahl der polnischen und der ukrainischen Opfer. Der vielleicht wichtigste
Grund für das Verbot war wohl die Idee der Autoren, sie müßten
zeigen, daß die "ukrainischen Nationalisten nicht das ganze
ukrainische Volk sind. Damit aber in Polen weiterhin die Ukrainer als
kultur- und prinzipienlose "Haidamaken-Bandera-Banditen" dargestellt
werden konnten, wurden auch gleich mal sieben weitere für das Ukraine-Heft
der Zeitschrift ZNAK vorbereitete Texte beschlagnahmt, die der ukrainischen
Kultur, dem ukrainischen religiösen Leben, der Geschichte der griechisch-katholischen
Kirche und dem polnisch-ukrainischen Konflikt gewidmet waren. Dabei
handelte es sich natürlich um Texte, die durchaus geeignet gewesen
wären, das über viele Jahre hinweg gepflegte Stereotyp des
"Ukrainers infrage zu stellen."
Katastrophal war der Wissensstand in der Sowjetukraine. Als Informationsquelle
über die polnisch-ukrainischen Beziehungen lagen ausschließlich
brutale propagandistische Pamphlete vor, wie z.B. die von W.Bjeljajew,
J.Melnytschuk oder T.Migal. Um auch noch den Rest von Information in
diesen Büchern auf ein Minimum zu reduzieren, unterschlugen die
sowjetischen Herausgeber das wissenschaftliche Konzept, zitierten kaum
die Quellen oder manipulierten sie rundum, rissen Texte aus dem Zusammenhang
und verzichteten überhaupt auf Belege und Verweise. Ein westlicher
Wissenschaftler wird sich kaum vorstellen können, wie einem östlichen
Historiker zumute war, wenn er nach Überwindung aller bürokratischen
Hindernisse endlich ins Geheimarchiv eingedrungen feststellen mußte,
daß er den Katalog gar nicht benutzen durfte und andere Informationsquellen
auch nicht. Dann ging er entweder ratlos und unverrichteter Dinge wieder
nach Hause, oder er blieb da, eingewiesen vielleicht von einem älteren
Kollegen, der die Tricks kannte, wurde vielleicht sogar fündig
und erfur schließlich, daß er seine sämtlichen Notizen
(wenn man sie ihm nicht gleich wegnahm) zur Kontrolle einem Archiv-Beamten
unterbreiten mußte. Vielleicht wurde dann doch noch letztendlich
sein wissenschaftlicher Bericht veröffentlicht, allerdings ohne
ausführliche Fußnoten oder andere Hinweise. Das war nun mal
streng verboten, die Leser sollten weiter in Unwissenheit bleiben, eine
Überprüfung von Tatsachen blieb ausgeschlossen.
Die Studien zum selben Thema, die außerhalb von Polen und der
Ukraine, also vor allem im Exil-Milieu zustande kamen, waren leider
fast ausschließlich apologetischer Natur, d.h. sie zielten darauf
ab, jeweils die Taten der eigenen Landsleute zu rechtfertigen, Argumente
zu finden, um eine vorgefaßte Meinung zu stützen, kurz, diese
Arbeiten waren keineswegs dazu geeignet, zum Brückenschlag zwischen
den beiden Nachbarvölkern beizutragen. Wenn es um die Verteidigung
der eigenen Leute geht, werden alle emotionalen Register gezogen, aber
die Leiden und Bedrängnisse der anderen Seite werden fast vollständig
ausgeblendet. Nur in den wenigen demokratischen Kreisen des Exils war
man bemüht, den Konflikt mit anderen Augen zu betrachten und zeitgemäße
Lösungen zu diskutieren. Ich nenne hier einige Intellektuelle von
Weltrang, die sich um die polnische Zeitschrift KULTURA (Erscheinungsort
Paris) gruppierten: Jezy Hedrojz, Czeslaw Milosz, Jezy Stempowsky, Juliusz
Mieroszewsky, Josef Lobodowsky, sowie die in verschiedenen Ländern
des Exils verstreuten Ukrainer I.Lyssiak-Rudnyzkyj, B.Ossadtschuk, P.Potitschnyj,
R.Schporliuk und B.Mokryj.
3.
Eine wirklich umfassende Analyse der Problematik konnte aber erst
seit der Unabhängigkeit geleistet werden, denn seither wurden erstmals
zahlreiche Dokumente zum Thema veröffentlicht, und es kam auch
zu regen, politisch unbelasteten Kontakten zwischen den Historikern.
Hier seien vor allem die Arbeiten erwähnt von M.Papierzynska-Turek,
A.Chojnowsky, R.Torzezky, J.Missylo, T.Olschansky, I.Bilas, M.Schwahuliak,
J.Slywka, J.Kryzak, M.Lytwyn, O.Zaizew.
Allerdings gibt es natürlich immer noch jede Menge Schwierigkeiten.
Sehr schwach sind - vor allem bei den ukrainischen Wissenschaftlern
- die methodischen Grundlagen ausgebildet. Allzuviele Vorurteile müssen
noch abgebaut werden. Allzugroß ist noch die Versuchung, dem Publikumsgeschmack
nachzugeben, der nun seinerseits von den nationalistischen und kommunistischen
Mythen geprägt wurde. Ziemlich krasse Beispiele für Xenophobie
finden sich z.B. in den Publikationen des polnischen Ukraine-Hassers
Edward Prus und bei den polnischen Lemberg-Vereinen, oder auf der anderen
Seite bei den Redakteuren der Lwiwer Zeitung FÜR EINE FREIE UKRAINE
und den Rednern der verschiedenen ukrainische Para-Nazi-Organisationen
wie UNA/UNSO.
Die Radikalen in beiden Ländern lassen sich leiten von Mißtrauen
und Feindseligkeit, das einzige Gegengift gegen ihre Denkweise wären
die Wahrheit und ein vertieftes gegenseitiges Kennenlernen. Ich stimme
vollkommen mit den Ausführungen von Dr.Czeslaw Reizia überein,
der sich im Jahre 1990 bei einer Diskussion der Kunzewicz-Stiftung wie
folgt äußerte: "Der gegenwärtige miserable Wissensstand
ist ein ernstes Hindernis für eine gegenseitige Annäherung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir zerstritten auseinandergegangen,
und offenbar sind nur die Vorurteile und Beleidigungen in Erinnerung
geblieben, aber sie verdecken die guten Seiten, die schönen Traditionen
unserer Koexistenz. Uns trennten das im Bruderkrieg vergossene Blut
und der Stacheldraht an den neuen Grenzen. Über vierzig Jahre hinweg
wurden die Polen in der Ukraine und die Ukrainer in Polen in den offiziellen
wissenschaftlichen und populären Publikationen verfälscht
dargestellt. Schamlos konnten wir Halbwahrheiten schreiben, die den
alten Streit wieder heraufbeschworen und die alten Wunden offen hielten.
Jetzt geht diese schlimme Zeit ihrem Ende entgegen. Aber noch sind wir
weit voneinander entfernt.(...) Im Interesse einer künftigen guten
und freundschaftlichen Nachbarschaft müssen wir sehr genau unsere
Vergangenheit aufarbeiten, und wir dürfen uns dabei nicht nur auf
den Zweiten Weltkrieg beschränken. Wenn wir im historischen Rückblick
unter einem Rechtfertigungszwang weiterhin der jeweils anderen Seite
die Schuld zuschieben, werden wir den Dingen niemals auf den Grund kommen
und kein Vertrauen zueinander gewinnen. (...) Wir sind keineswegs schuldlos.
(...) Die Tatsache, daß die Kommunisten ihre Hand im Spiel hatten,
kann uns nicht vollkommen entschuldigen, insbesondere da ihre Verbrechen
bis heute noch nicht ermittelt und verurteilt worden sind."
Erstmals wird auch in der ukrainischen Geschichtsschreibung das Problem
von Schuld und Sühne bewußt aufgegriffen. In seinem ABRISS
DER UKRAINISCHEN GESCHICHTE von 1997 erklärt Dr.J.Hryzak die defensive
Rechtfertigungs-Haltung früherer ukrainischer Historiker zum Thema
Polenhaß und Antisemitismus damit, daß sie sich ja auch
immer gegen offizielle anti-ukrainische Idelogien, eine repressive fremde
Staatsverwaltung und ein feindseliges akademisches Establishment hätten
zur Wehr setzen müssen: "Als die schwächere Seite
hatten sie (die ukrainischen Historiker demokratischer Gesinnung.
Anm. A.P.) es schwer, von den üblichen Entschuldigungen wenigstens
zur Anerkennung einer nationalen Teil-Schuld überzugehen."
Aber jetzt, nach der vollständigen Unabhängigkeit der Ukraine
und Polens, habe sich die Situation grundlegend gewandelt. Hryzak fährt
fort: "Die ukrainische Geschichtsschreibung hat heute einen formal
ganz anderen Status als früher. Dies gibt Anlaß zur Hoffnung,
daß die Historiker ihre defensive Haltung aufgeben und zur abwägenden
Faktenanalyse übergehen. Momentan wagen sie es noch nicht, diesen
wichtigen Schritt zu machen, aber früher oder später wird
es soweit sein, denn nur die kritische Analyse des nationalen Erbes
und die Anerkennung der nationalen Schuld kann als Beweis für moralische
Kraft gelten, und nur so kann dann auch ein Vertrauen in die ukrainische
Geschichtsschreibung zurückgewonnen werden."
Für mich persönlich wurde ein Gespräch mit dem bekannten
polnischen Historiker und Publizisten Tadeusz Andrzej Olszansky zu einem
großen intellektuellen Erlebnis. Er war in Polen einer der ersten,
die sich von den üblichen nationalen Stereotypen verabschiedeten.
Ich zitiere die Schlußworte aus seinem Bestseller GESCHICHTE DER
UKRAINE IM 20.JAHRHUNDERT, mit denen ich voll und ganz übereinstimme
und die ich jedem, der an einer polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit
interessiert ist, ans Herz legen möchte: "Nach dem Zweiten
Weltkrieg sind in Polen und in der Ukraine neue Generationen herangewachsen,
die keine persönliche Verantwortung für die Tragödie
der 40er Jahre tragen. Aber sie tragen die Last der Verantwortung für
die Zukunft ihrer Völker, also auch für die Vergangenheit,
aus der sich diese Zukunft herleitet. Diesen Generationen, anders als
den damals unmittelbar Beteiligten, wird es leichter fallen, um eine
Annäherung und die Entwicklung der polnisch- ukrainischen Beziehungen
zu ringen. Sie arbeiten daran, wenn auch langsam. Wenn es aber um eine
Annäherung an Andere geht, muß man bei sich selber anfangen,
ungeachtet der eigenen Frustration und der persönlichen Leiderfahrung,
durch die Überwindung von Haß und Hochmut. Man muß
bei sich selber anfangen mit der Erkenntnis der eigenen, wenn auch noch
so geringen Schuld, mit der Austreibung von Haß und Hochmut aus
dem eigenen Herzen. Aus diesem Grund entstand dieses Buch, und deshalb
erlaubt sich der Autor, ein Pole, der nach dem Krieg zur Welt kam, dieses
Buch zu beschließen mit einer persönlichen Deklaration: Er
verzeiht alle Kränkungen, die seinem Volk angetan worden sind,
und bittet, alle Beleidigungen zu verzeihen, die sein Volk anderen zugefügt
hat."
4.
Der polnisch-ukrainische Konflikt hat eine jahrhundertealte Geschichte,
die bis ins 10.Jahrhundert zurück reicht. Im 14.Jahrhundert nutzte
der polnische Staat eine Schwächung des Rus, durch die Mongolotataren
aus und betrieb seine Expansion in die ethnisch ukrainischen Länder.
So konnte er dort seine Vorherrschaft aufrichten und bis zur Teilung
Polens am Ende des 18.Jahrhunderts den größten Teil des Territoriums
der heutigen Ukraine kontrollieren.
Das Schicksal der Ukraine, eines christlichen Landes, das gleichwohl
unter der Parole der Heidenmission erorbert wurde, ähnelt dem Schicksal
der von den Franzosen eroberten Provence. Allerdings, die Ukrainer konnten
im Gegensatz zum Languedoc den Untergang vermeiden, sie bewahrten ihre
Geschichte und ihre einzigartige Identität. Hier sei erinnert an
die Adels-Demokratie der Rzecz Pospolita, an die ukrainischen Kosaken,
jene Heldengestalten des Ostens, an die tief in die Vergangenheit zurückreichende
ukrainische Volkskultur, oder an die kämpferischen nationalen christlichen
Kirchen - die orthodoxe (ab 988) und die griechisch-katholische (ab
1596).
Die fast tausendjährige Geschichte der offiziellen Beziehungen
zwischen Polen und Ukrainern ist leidvoll und voller Konflikte. Ich
stimme voll überein mit Professor I.Lyssiak-Rudnyzkyj von der Universität
Alberta, der in seinem Essay POLNISCH-UKRAINISCHE BEZIEHUNGEN: DIE LAST
DER GESCHICHTE erklärt: "Über einen langen Zeitraum
waren die polnisch-ukrainischen Konflikte (...) für beide Völker
katastrophal. Der polnisch-ukrainische Konflikt war auch der Hauptgrund
für den Verlust der nationalen Eigenständigkeit sowohl der
Ukraine als auch Polens, in zwei verschiedenen Epochen, zuerst im 17.
und dann noch einmal im 20.Jahrhundert." Weiter fragt der Autor
nach der Verantwortung beider Konfliktparteien und belastet zunächst
die polnische Seite mehr, weil "Polen seit Ende des Spätmittelalters
im großen und ganzen weiter entwickelt war als die Ukraine",
was durch die unterschiedliche geopolitische Lage zu erklären
sei. Und weiter schreibt er: "Wenn ich die Hauptverantwortung
für die katastrophale Entwicklung der polnisch-ukrainischen Beziehungen
den Polen anlaste, möchte ich keineswegs die Ukrainer freisprechen.
Auch sie haben reichlich Fehler zu verantworten."
Das alles betrifft gewissermaßen die moderne Geschichtsperiode.
Aber die Konflikte, die im 20.Jahrhundert aufkeimten, waren schon in
der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts von den polnischen Neo-Romantikern
gesät worden, namentlich von dem polnischen Geographen Winzent
Pol. Zwischen 1840 und 1852 schuf dieser eine Ritter-Rhapsodie mit dem
Titel MOGORT, wo zum ersten Mal der Begriff KRESY politisch aufgeladen
auftaucht, und zwar als Bezeichnung für die nach einem angeblich
historischen Recht zu Polen gehörigen Territorien in der Ukraine,
Weißrußland und Litauen.
Der Historiker und Literaturwissenschaftler Jazek Kolbuszewsky schreibt
in seinem Werk KRESY: "MOGORT und DAS LIED VON UNSERER ERDE
waren für viele Jahre die populärsten Bücher von Pol.
Ohne Übertreibung kann man sagen, daß diese Bücher etwa
bis 1922 die volkstümliche Auffassung von einer künftigen
wiedergeborenen Rzecz Pospolita wesentlich mitgeprägt haben."
Die Hauptgedanken Pols wurden später von dem Nobelpreisträger
Henrik Sienkiewicz (QUO VADIS?) in seinem xenophoben Roman MIT FEUER
UND SCHWERT weiterentwickelt. Dieses ist bis heute ein polnischer Super-Bestseller
geblieben und wird auch gegenwärtig noch an den polnischen Schulen
als obligatorische Lektüre verwendet. Der Roman von Sienkiewicz
ist durchaus spannend geschrieben, vielschichtig, bunt, und er erinnert
formal an die Dumas-Epen. Der politische Unsinn aber, Modelle für
eine Konfliktlösung in Gestalt einer Feuer-und-Eisen-Kur anzubieten,
und die Glorifizierung des blutigen Jeremija Wyschnywetsky, der seine
Karriere nach Janitscharenart durch Verrat an Volk und Glauben macht,
nur um die Macht für seinen Sohn Michal Korybut-Wyschnywetsky zu
gewinnen, das alles nahm viele künftige reale Leiden und Not vorweg.
Czeslaw Milosz, ebenfalls ein Nobelpreisträger aus Polen, schreibt
in seiner GESCHICHTE DER POLNISCHEN LITERATUR: "Sienkiewicz,
Ideal ist ein frommer, gesunder, katholischer Soldat, unbelastet von
übermäßiger Reflexion, geübt im Fechten, Saufen
und in der Liebe. Boleslaw Prus, der Sienkiewicz einer bissigen Kritik
unterzog, hat darauf hingewiesen, daß der Krieg, der dem Helden
zum Hauptberuf wird, ein ganz und gar märchenhafter ist. Köpfe
und Hände werden abgeschlagen, die Leichenberge wachsen an, aber
das Blut fließt dann doch nur wie Rübensaft..."
Diesem Roman haben wir das Stereotyp des Ukrainers zu verdanken, eines
gemeinen Wesens, getrieben von "Blutdurst, Haß, Rachsucht
und Verrat", für den keine Strafe jemals hart genug sein kann.
5.
J.Daschkewytsch, ein hervorragender ukrainischer Kenner der Materie,
weist in seiner Analyse des polnischen extremistischen Nationalismus
ganz überzeugend nach, daß wir in unerer modernen Geschichte
Phänomene erkennen, die bereits im 16. und 17.Jahrhundert entstanden
sind, und die sich dann im18. bis ins 20.Jahrhundert entfalten, und
zwar unter dem Einfluß von katastrophalen Faktoren des Massenbewußtseins
in der politischen Klasse, deren wichtigste sind:
1. Die territoriale Expansion gen Osten mit dem Ziel einer Herrschaft
Polens mit "Feuer und Schwert" und "von Meer zu Meer".
2. Das spezifisch polnische Modell des lateinischen Katholizismus,
das die anderen christlichen Bekenntnisse östlich des polnischen
ethnographischen Territoriums völlig ignorierte, sogar die Katholiken
mit griechischem Ritus.
3. Eine besonders absurde Variante des Rassismus, der sogenannte SARMATISMUS,
der die polnische Elite nicht aus dem Slawentum, sondern genetisch aus
der persischen (= sarmatischen) Aristokratie herzuleiten versuchte.
Daraus entstand dann das Konzept eines auserwählten Aristokraten-
(Herren-) Volkes, das über die minderwertigen Massenmenschen herrschen
sollte.
Die Idee der römisch-katholischen Mission und der militant-kolonialistischen
Kulturträgerfunktion wurden am Ende des 19.Jahrhunderts zur politischen
Ideologie der polnischen Nationaldemokraten, an deren Spitze R.Dmowsky
stand, während die polnischen Sozialisten ein Programm der "politischen"
Assimilierung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft propagierten,
das dann wiederum von Marschall J.Pilsudsky, dem Begründer des
modernen polnischen Staates, übernommen wurde.
Das Programm der polnischen Nationaldemokraten verkündete eindeutig
und kompromißlos die Strategie des totalen Krieges gegen alles,
was ukrainisch hieß. Die polnische Rechte wollte die Existenz
eines ukrainischen Volkes sowieso nicht anerkennen, noch nicht einmal
den Begriff "Ukrainer" - den hätten nur die trickreichen
Österreicher in die Welt gebracht, als ein Mittel im Kampf gegen
die Freiheitsbestrebungen der Polen. So war es denn auch in der Zwischenkriegszeit
ganz offiziell verboten, das Wort "Ukrainer" und seine Ableitungen
zu verwenden. Stattdessen wurde das Wort "Ruthene" vorgeschrieben.
Der geistige Vater des modernen polnischen Nationalismus R.Dmowsky
schreibt in DIE GEDANKEN EINES MODERNEN POLEN (1905): "Was die
Ruthenen betrifft, so gibt es im Interesse unserer nationalen Zukunft
nur zwei Möglichkeiten, nämlich 1.)entweder werden alle Ruthenen
(oder zumindest ein Teil von Ihnen) Polen, oder 2.) sie bleiben eigenständig
und werden ihrer selbst bewußt, damit sie sich nicht nur gegen
uns, sondern auch gegen die Russen wehren können. (...) Wenn die
Ruthenen zu Polen werden sollen, dann müssen sie eben polonisiert
werden. Wenn sie aber eigenständig werden sollen, d.h. auch lebensfähig
und kampfbereit, dann muß man sie dazu zwingen. Dann müssen
sie sich im Kampf härten lassen, weil sie von ihrer Natur her passiver
und fauler sind als wir. (...) Dort, wo wir unsere Kräfte zum zivilisatorischen
Werk stärken können, indem wir andere Elemente verschlingen,
verbietet uns das kein Gesetz, im Gegenteil, wir sind dazu verpflichtet,
es zu tun."
Paradoxerweise inspirierte gerade diese polnische Aggressivität
die weitere Ausformung des ukrainischen Nationalbewußtseins. Der
polnische Historiker A.Frischke berichtet zum Beispiel in der Zeitschrift
WIK von einem Gespräch mit W.Janiw, einem führenden Mitglied
der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) in den 30er Jahren.
Der ukrainische Politiker aus dem nationalistischen Lager erzählte,
sein Polnischlehrer habe besonders großen Einfluß auf die
Bildung seiner patriotischen Gefühle gehabt, weil er nämlich
die Schüler mit Zitaten von Adam Mizkiewicz dazu anhielt, ihre
Heimat zu lieben. Die ukrainischen Kinder hätten dann allerdings
in Gedanken das Wort "Polen" durch das Wort "Ukraine"
ersetzt.
6.
Die polnischen Sozialisten Ludwig Innländer, Ignatiusz Daszynsky,
Ignatiusz Moszizky, Jusef Pilsudsky, Leon Wassylewsky u.a. traten durchaus
für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung auf, sahen aber
nach ihrer sozialistischen Weltanschauung die einzige realistische Chance
in einer freien Föderation der ehemaligen Völker der Rzecz
Pospolita.
Den Entwurf für eine solche Föderation hatte der Kapuziner
Iszdor Kajetan Wyslouch in seinem Buch EINIGE ANMERKUNGEN ZUM SOZIALISMUS
entwickelt. Er schreibt: "Der Sozialismus verneint den Eroberungspatriotismus,
der nach Vergrößerung der eigenen Heimat auf Kosten der anderen
strebt." Er schlägt stattdessen die Neugründung eines
polnischen Staates vor, der sich föderativ mit Litauen und Rus'
(=Ukraine) verbinden würde, und da sie alle zusammen teilhätten
an der Föderation der "Völker Europas", hätten
sie so die "Möglichkeit, den Imperialismus mit vereinten
Kräften zu schlagen. Auf dem harten Weg zur Unabhängigkeit
werden Polen, Litauer, Ruthenen, Tschechen, Kroaten, Slowenen, Finnen,
Letten, Georgier, Armenier, Tataren u.a. dank der Föderation ihres
Rechtes auf eine eigenständige nationale Entwicklung bewußt."
An dieser Stelle sollte natürlich die Tatsache in Erinnerung
gerufen werden, daß politische Projekte nicht immer der praktischen
Politik entsprechen. Die gerechten Forderungen nach Selbstbestimmung
aller Nationen und ihrer freien Entwicklung haben damals bekanntlich
auch solche politischen Monster wie W.Uljanow-Lenin und J.Stalin verkündet.
Aber weder im unabhängigen Polen, wo J.Pilsudsky und seine Parteifreunde
regierten, noch in der Sowjetunion, wo der proletarische Internationalismus
mit seiner Behauptung des Selbstbestimmungsrechtes offizielle Ideologie
war, wurden diese politischen Programme verwirklicht. Im Gegenteil,
diese Regimes verhielten sich kraßrepressiv gegen die untergeordneten
Nationen. Das Ausmaß der Repression war recht unterschiedlich,
aber die Tatsache der Repression bleibt bestehen.
7.
Die ukrainischen Eliten im Westen wie auch im Osten der Ukraine waren
sehr viel kleiner und schwächer als die polnischen (im Westen)
bzw. die russischen (im Osten). Sie verfügten im Gegensatz zu den
Polen über keine Tradition der Staatlichkeit, und im sozialen Raum
konnten sie sich nur auf die Bauern stützen. Nationalität
fiel im Grunde mit Klassenzugehörigkeit zusammen. Fast alle Ukrainer,
mit Ausnahme einer schmalen Intelligenzschicht, waren Bauern. Die Gutsbesitzer
und die Beamten hingegen waren Polen bzw. Russen, die Kaufleute hauptsächlich
Juden. Unter solchen Umständen wurde jede Nationalbewegung zur
Klassenbewegung, deren Anführer auf Agrarreform und die Befreiung
der Bauern zu pochen hatte.
Die Regierung des russischen Reiches setzte alle Mittel ein, um eine
institutionelle Strukturierung der Ukrainer zu verhindern. Hier sei
an die Repressalien gegen die Kyrill-und-Methodius-Gesellschaft, insbesondere
auch gegen Taras Schewtschenko, erinnert, an das Verbot der Zeitschrift
OSNOWA, an den WALUJEW-UKAS von 1863 und an den EMSER UKAS von 1876,
die das ukrainische Verlagswesen völlig verboten. (Man erlaubt,
DAS KAPITAL von Karl Marx auf russisch zu drucken, und man verbot zur
selben Zeit den Druck einer Bibel in ukrainischer Sprache!) Das Ziel
derartiger Maßnahmen war, die Bildung von ukrainischen Fachleuten
in den freien Berufen zu verhindern, weil sie in der Zukunft eine ukrainische
politische Klasse hätten bilden können.
Professor R.Sporliuk von der Harward University schreibt: "Will
man die Entwicklungstendenzen von damals verstehen, muß man
berücksichtigen, daß das ukrainische Volk nach polnischer
Ansicht ein Teil der polnischen politischen Nation war, während
nach russischer Ansicht alle Ukrainer eigentlich Russen waren. So wurden
die Ukrainer weder von der höchstentwickelten Nation in Ostmitteleuropa
ohne Staat (Polen - A.P.), noch vom stärksten Staat, dem Reich
ohne Nation (Rußland - A.P.) anerkannt."
8.
Einige wenige Intellektuelle aus dem urbanen Milieu (u.a. W.Antonowytsch,
M.Drahomanow, I.Franko, M.Hruschewskyj), die sich im Lager der Sozialisten
oder der Volkstümler sammelten, vertraten die Ansicht, der demokratische
und soziale Staat sei auch durch ethnographische Faktoren zu definieren.
Und weil die Ukraine seit Jahrhunderten auf einen eigenen Staat hatte
verzichten müssen, wurde "das Volk" als ethnographisch-kulturelle
Ganzheit zum Kriterium. Und seit im Jahre 1895 der junge Sozialist J.Batschynsky
sein Buch UKRAINA IRREDENTA veröffentlicht hatte, stellten sich
die ukrainischen Eliten die Zukunft ihres Volkes vor als die einer Nation
im Raum "vom San bis zum Don".
Natürlich lebten auch die Ukrainer mit ihren Klischees, vor allem
mit den Polen-Stereotypen. Bei der Ausbildung einer nationalen Identität
spielt die Abgrenzung von den Nachbarvölkern eine große Rolle.
Und was die Polen betrifft, so fand die Abgrenzung auf der konfessionellen,
der kulturellen und der sozialen Ebene statt. Diese Grenze war sehr
scharf gezogen, viel schärfer als gegen die Russen. Infolgedessen
waren auch die Spannungen sehr viel schärfer.
Als positive Archetypen dominierten in den ukrainischen kollektiven
Phantasien die Figuren der Kosaken und der Haidamaken, die in Verteidigung
des orthodoxen Glaubens (15.-18.Jhdt.) dem polnischen Adel erbitterte
Kämpfe lieferten. Besonders beliebte Gestalten aus diesem historisch-legendären
Kontext blieben fast 200 Jahre lang Taras Bulba aus der gleichnamigen
Erzählung von Mykola Gogol (1832) und Gonta aus dem Versepos DIE
HAIDAMAKEN von Taras Schewtschenko (1841). Beide literarischen Helden
töten ihre eigenen Kinder, weil sie Polen wurden. Im ersten Fall
hat sich der Sohn des Taras Bulba aus Liebe zu einer schönen Polin
bewußt zum Frontwechsel entschieden, im zweiten Fall besteht die
"Schuld" der Kinder nur darin, daß ihre Mutter Polin
ist. Der von den Dichtern dargestellte tragische Konflikt ist vor allem
sozialer und konfessioneller Natur und richtet sich nicht gegen die
Polen, sondern gegen diejenigen, die ihre Identität wechseln, gegen
Opportunisten, Renegaten, Konvertiten. Besonders deutlich wird es bei
Gogol, der seinen Helden schließlich in einen Kriegszustand mit
der ganzen opportunistisch gestimmten Umwelt versetzt und in einem ungleichen
Kampf seinen Tod sterben läßt, und wir erkennen den gogolschen
Fatalismus und seine Ablehnung der von Taras Bulba repräsentierten
Werte. Der berühmte ukrainische Autor verbrachte bekanntlich seine
wichtigsten Lebensjahre in Rom und Petersburg - man wird ihm wohl kaum
blinden Haß auf Katholiken oder gar einen ukrainischen Antiimperialismus
anlasten wollen...
Während Gogols Erzählungen allen Lesern im (russischen)
Original zugänglich waren, konnten die (ukrainischen) Werke von
Taras Schewtschenko bis zur Russischen Revolution von 1905 nur in kopierten
Manuskripten oder im Ausland gedruckten und nach Rußland geschmuggelten
Exemplaren verbreitet werden. Lediglich im (polnischen) Galizien konnte
man Schewtschenkos Werke frei studieren und propagieren. Dort wurde
er dann allerdings auch von interessierten Kreisen für die Verschärfung
des polnisch-ukrainischen Gegensatzes instrumentalisiert, indem man
sein Genie verkleinerte und seine visionär-mythologische Dichtung
dem politischen Tagesbedarf anpaßte. Zu recht sagt der große
ukrainisch-amerikanische Schriftsteller W.Barka: "... im Poem
DIE HAIDAMAKEN gibt es keine aus Haß und Verachtung genährte
"Theorie der Gewalt". Im Gegenteil, Schewtschenko dauern die
Menschen. Ihn schmerzt das vergossene Blut (...) er plädiert für
die Brüderlichkeit unter den Menschen, die Kinder eines Vaters
sind..." Die "blutige" romantische Athmosphäre
(zum größten Teil erfunden, wie auch die Geschichte des Gonta.
Tatsächlich hatte er gar keine Söhne.) diente dem Dichter
vielmehr als Hintergrund und Kontrast für seinen idealistischen
Aufruf zur Brüderlichkeit zwischen allen Nationen, gedacht in einem
föderativen Staat mit lokaler Selbstverwaltung.
Anti-polnische Stimmungen wurden auch oft ungewollt verstärkt
von den Historikern aus der Schule der "Volkstümler"
wie M.Kostomarow, W.Antonytsch, P.Kulisch, M.Hruschewskyj, die zur sogenannten
"organischen" Bewegung in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts
gehörten. Deren eher "defensive" Polenfeindschaft paßte
nun wieder der Zarenregierung hervorragend ins Konzept, die in der Ukraine
mit allen Mitteln antipolnische und antikatholische Stimmungen anheizte
und ständig die Gefahr einer polnischen nationalen Befreiungsbewegung
beschwor, insbesondere nach den Aufständen von 1830/31 und 1863.
Die polnischen Eliten im östlichen (russisch beherrschten) Teil
der Ukraine pflegten eher einen regionalen Patriotismus, der sich nicht
nur in der Poetisierung der ukrainischen Heimat ausdrückte (S.Hoszczynsky,
J.Slowazky, J.Iwaschkewytsch), sondern durchaus auch in politischen
Programmen, die auf eine Befreiung vom Joch des russischen Imperialismus
hinausliefen. Die politischen Konzepte etwa von Sadyk-Pascha und Franziszek
Duchinsky legten damals Fundamente für den Bau des ukrainischen
Nationalbewußtsein.
Die Geschichte der ukrainischen Nationalbewegung ist auch ohne die
in der Ukraine geborenen Wolodymyr Antonowytsch, Tadej Rylskyj, Borys
Posnanskyj, Wjatscheslaw (Wazlaw) Lypynskyj undenkbar. Um den letzteren
gruppierte sich die patriotisch gestimmte Gemeinde der "römisch-katholischen
Ukrainer", zu der u.a. Josyp Jurkewytsch, Franziska Wolska und
Ludwig Siedlezky gehörten. Ihr Publikationsorgan war die Kyjiver
Wochenzeitschrift PRZEGLAD KRAJOWY (1909).
Gleichzeitig entstand aber auch gerade im russischen Reich das Konzept
des schon erwähnten R.Dmowsky. Dieser Politiker und Ideologe des
polnischen Nationalismus war beeinflußt von der russischen imperialistischen
Idee, und er blieb auch sein Leben lang ein fanatischer Russophile.
Seine Einstellung zur ukrainischen Frage war identisch mit der russischen:
"Sowas gab es nicht, gibt es nicht, kann es nicht geben."
9.
Ein ernster ideologischer und politischer Konflikt in der Frage der
polnisch- ukrainischen Koexistenz entstand zwischen den polnischen und
ukrainischen Eliten auf dem Territorium von Österreich-Ungarn,
wo die freie Ausübung politischer Tätigkeit von der liberalen
Verfassung der Monarchie garantiert war. Zwar war die Bevölkerung
in Galizien und Wolhynien formell dem Kaiser untertan, aber nach 1867
war es den Polen gelungen, die lokale Selbstverwaltung an sich zu ziehen.
Vor Gericht, in Schulen und Behörden wurde Polnisch als offizielle
Amtssprache eingeführt. An der Spitze der Statthalterei und des
Wiener Ministeriums für Galizien standen polnische Politiker.
In der Westukraine (wie auch in den von Rußland besetzten Gebieten)
hatte der nationale Konflikt seine tiefen sozialen Wurzeln. Die Führung
in Wirtschaft und Politik lag bei polnischen oder zumindest polonisierten
Kreisen, und deren Interesse zielte darauf ab, in Ostgalizien Voraussetzungen
für eine künftige Wiedervereinigung des in drei Teile zerspaltenen
polnischen Staates zu schaffen.
Im ukrainischen Milieu vollzogen sich nun aber sozusagen spiegelverkehrt
ganz ähnliche Prozesse: Die galizischen Ukrainer bemühten
sich (mit materieller Unterstützung der Ostukrainer) eine Ausgangsbasis
für den Aufbau einer ukrainischen politischen Nation zu schaffen.
Damals dominierten populistisch- sozialistische und "volkstümelnde"
Ideen, und so entstanden die Radikale Partei (1890), die National-Demokratische
Partei (1899) und die Sozial-Demokratische Partei (1899).
Ihrer Unversöhnlichkeit und Unnachgiebigkeit in der sozialen
Frage entsprach ihre Härte in der nationalen Frage, und die Feindseligkeiten
steigerten sich nach und nach zum Äußersten. Zu Beginn des
Ersten Weltkrieges jedenfalls waren die Parteien sowohl politisch als
auch militärisch für die kommenden Kämpfe gerüstet,
und von da an entlud sich der Konflikt gewaltsam und bestimmte die ganze
erste Hälfte des Jahrhunderts. Wir wollen uns hier auf die Beschreibung
der wichtigsten Etappen beschränken.
10.
Die erste Etappe (1918 bis 1923) ist charakterisiert durch scharfe
Konfrontation, das heißt konkret
- Die fast gleichzeitige Ausrufung sowohl eines ukrainischen als auch
eines polnischen Staates auf ein und demselben Territorium im posthabsburgischen
Raum,
- darauf folgend der ukrainisch-polnische Krieg,
- die Besetzung der Westukraine durch die polnische Armee,
- die totale Zerschlagung des ukrainischen bewaffneten Widerstandes.
Auf beiden Seiten sehen wir verantwortliche und bis in die staatsrechtliche
Ebene hinein durchstrukturierte Organisationen. In jenen Jahren stand
der polnischen Regierung eine Regierung des westukrainischen Volksrepublik
(WUVR) gegenüber, zuerst im Land selbst, später im Exil. Die
Volksrepublik der Ostukrainer (UVR) aber entwickelte Gemeinsamkeiten
mit der polnischen Regierung. Sie unternahm zusammen mit den Polen einen
großen Feldzug nach Kyjiv, erreichte aber ihr Ziel nicht und trat
wieder von der Bühne ab. Entscheidend für den Ausgang des
Konflikts waren externe Faktoren, nämlich die Interessen der Siegermächte
des Ersten Weltkriegs. Die polnische offizielle chauvinistische Propaganda
ignorierte diese Faktoren und opferte hunderttausende Polen im großen
politischen Spiel um die Erdöl-Region Boryslaw und das fruchtbare
Ackerland in Galizien und Wolhynien.
Die Niederlage der galizischen Ukrainer im polnisch-ukrainischen Krieg
hatte katastrophale Folgen für die Zukunft der ukrainisch-polnischen
Beziehungen in dieser Region. Der amerikanische Historiker Frank Sysyn
bemerkt sehr zutreffend: "Die Polen demonstrierten der in der
österreichischen Tradition aufgewachsenen ukrainischen Intelligenz,
daß nach polnischer Ansicht die Völker nicht mithilfe von
Recht und Gesetz, sondern nur mit Gewalt den Siegerringen können.
(...) Das hat die Ukrainer davon überzeugt, daß ihnen als
letztes Mittel nur noch die Gewalt, ja, auch der Terror bleibt."
11.
Die zweite Etappe (1923-1939) ist ein Kampf mit ungleichen Waffen
zwischen dem polnischen Staat und dem ukrainischen Widerstand in Galizien
und Wolhynien. Polen besetzte die Stadt Vilnius und verschlechterte
damit für die gesamte Dauer der Zwischenkriegszeit seine Beziehungen
zu dem unabhängigen Staat Litauen. Durch Einführung eines
Polizei-Regiments in West-Weißrußland und in der Westukraine
war Polen gezwungen, in diesen Gebieten gewaltige Polizei-, Gendarmerie-
und Militär-Einheiten zu stationieren, deren Aufgabe es war, die
inneren Probleme des Staates gewaltsam zu lösen. Das wirkte sich
natürlich äußerst negativ auf die innenpolitischen Verhältnisse
aus und erinnerte an eine autoritäre Diktatur. Die polnischen territorialen
Ansprüche gegenüber sämtlichen Nachbarn und die vollkommen
ineffiziente Außenpolitik erzwangen letztendlich den Ausbau eines
unangemessen großen und teuren Gewaltapparates, was wiederum den
Staatshaushalt überlastete und wirtschaftliche und soziale Reformen
lähmte und so das alltägliche Leben für die einfachen
Leute ständig verschlechterte.
Die polnischen Politiker tragen für die Verhältnisse in
der zweiten Rzecz Pospolita von 1918-1939 eine besondere Verantwortung.
Sie waren nicht in der Lage, für die "ukrainischen Probleme"
Lösungen zu finden, und sie führten ihre Heimat in die nationale
Katastrophe. Sie haben die durch internationales Recht garantierten
Minderheitsrechte mißachtet, und sie haben rücksichtslos
die Polonisierung und die erzwungene Bekehrung zum römischen Katholizismus
vorangetrieben, was die polnisch-ukrainischen Beziehungen vor allem
im orthodoxen Wolhynien und in Cholm zuspitzten. Eine breite Palette
von Repressalien wurde eingesetzt: Die Verfolgung von Andersdenkenden,
Verhaftung wegen abweichender Ansichten in politischen, religiösen
und nationalen Fragen, Folter und gesetztwidrige Hinrichtung, Mißbrauch
des Prinzips der "kollektiven Verantwortung", angewandt auf
die nationalen Minderheiten.
12.
Als ein weiterer konfliktverursachender und -verschärfender Faktor
muß an dieser Stelle der in den 20er Jahren entstandene ukrainische
Nationalismus genannt werden, der Hand in Hand mit dem polnischen Chauvinismus
auf dem Weg zu den blutigen Kämpfen und zu soviel menschlichem
Leid voranschritt. J.Armstrong hat den Entstehungsprozeß des ukrainischen
Nationalismus untersucht, und er betont, daß er hier "zu
einer Erb- und Schutz-Reaktion gegen fremde nationalistische Phänomene
wurde". Und in der Tat, die ukrainischen Nationalisten waren
ein perfektes Spiegelbild der polnischen Nationalisten.
Wortführer dieser Ideologie wurde der aus der Ostukraine zugewanderte
D.Donzow. Er verkündigte einen extremen Individualismus und voluntaristichen
Amoralismus. In seinen Werken wimmelt es von Blut-Visionen und Exterminations-
Phantasien. J.Armstrong schreibt, die Lehre Donzows sei so etwas wie
ein integraler Nationalismus mit der Verherrlichung von "Aktion,
Krieg und Gewalt als dem höchsten Ausdruck der biologischen Lebenstüchtigkeit
einer Nation." Dabei ist Donzows Stil durchaus unwissenschaftlich,
journalistisch zugespitzt, subjektiv, und seine Begeisterung für
den italienischen Faschismus wurde bereits in den 30er Jahren einer
scharfen Kritik aus Kreisen der ukrainischen Demokraten und Katholiken
unterzogen.
Im Sommer 1920 wurde eine "Ukrainische Militärorganisation
(UWO) gegründet, aber unter dem Einfluß von Donzow revidierte
ein Teil der UWO-Mitglieder schon bald seine Meinung und verkündete
1929 bei einem Kongreß in Wien die Gründung der ORGANISATION
DER UKRAINISCHEN NATIONALISTEN (OUN). Die OUN orientierte sich an den
damals in Mitteleuropa modernen Organisationsmodellen wie z.B. der kroatischen
USTASCHA, der rumänischen EISENGARDE oder der polnischen OHP. Ihre
Taktik: Aufläufe, Straßenkampf, Attentate gegen die Besatzer.
So sollte schließlich eine revolutionäre Situation herbeigeführt
werden. Terror wurde ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Die Opfer
des Terrorismus waren Polen, Ausländern, ukrainische "Verräter".
In gewisser Hinsicht kann man allerdings auch sagen, daß dieser
Terror auch von der politischen Polizei inspiriert war. Diese war recht
gut über die Aktivitäten der OUN informiert und provozierte
gern eine Zuspitzung der polnisch-ukrainischen Beziehungen, um dann
die ukrainische Bewegung insgesamt und engültig zu zerschlagen
und in den Augen der Ukrainer diskreditieren zu können.
Eindeutig verurteilt wurde die Grausamkeit der OUN-Terroristen von
den legalen ukrainischen politischen Kräften und von der griechisch-katholischen,
also der ukrainischen National-Kirche. Ihr Metropolit Andryj Scheptyzkyj
brandmarkte sie in einem Hirtenbrief als "gemeine Mörder,
Verbrecher und Feinde des Volkes".
Noch dramatischer war indes in der Sowjetukraine die Lage der polnischen
Minderheit, die in der zweiten Hälfte der 30er Jahre praktisch
einem Genozid zum Opfer fiel. Ursache dafür waren allerding keine
nationalen ukrainischen Interessen, sondern die stalinistische Politik
der Kommunistischen Partei.Die Beziehungen zwischen Polen und der UdSSR
hatten sich in der Zwischenkriegszeit zunehmend verschlechtert. Sie
waren völlig von den geopolitischen und ideologischen Interessen
der Sowjetunion einerseits und den Interessen der europäischen
Großmächte andererseits determiniert.
Obwohl die demokratischen Reformen, die in der heute unabhängigen
Ukraine durchgeführt wurden, der polnischen Minderheit in der Ukraine
wieder Gelegenheit gibt, ihre eigene Kultur zu pflegen und ihren konfessionellen
Kultus auszuüben, kann das geschehene Unrecht nicht wiedergutgemacht
werden. Unsere Öffentlichkeit weiß noch viel zu wenig über
diese polnische Tragödie, aber das Schicksal der polnischen Minderheit
auf ukrainischem Boden muß für uns genauso wichtig sein wie
das der ukrainischen Minderheit in Polen.
13.
In dem durch die stalinistische und nazistische Repression äußerst
geschwächten ukrainischen politischen Milieu machte sich während
des Zweiten Weltkriegs die utopische Vorstellung breit, die totalitären
Ungeheuer würden sich im Krieg gegenseitig so sehr schwächen,
daß auf ukrainischem Boden eine offene Situation entstehen könnte,
ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg. Man wollte also Vorkehrungen
treffen, um die günstige Situation diesmal nicht zu verpassen.
In Erwartung eines Dritten Weltkrieges ignorierte man vollkommen die
schlichte Tatsache, daß die ukrainische Position irgendwie in
Übereinstimmung gebracht werden müßte mit dem neuen
komplizierten geopolitischen Kontext. Denn bekanntlich zählen in
der Politik zunächst einmal die Interessen der Großmächte
und nicht irgendwelche moralischen Erwägungen.
Die Verantwortung für die durch die ukrainische nichtkommunistische
Widerstandsbewegung in Galizien und Wolhynien ausgeübte Politik
lag großenteils bei der illegalen Leitung von OUN und UPA (UKRAINISCHE
AUFSTANDSARMEE), die 1943 umbenannt wurde in UKRAINISCHER ZENTRALER
BEFREIUNGSRAT. In diesen Rat wurden verschiedene politische Gruppierungen,
also nicht nur die Anhänger von Stepan Bandera, aufgenommen.
Im Sommer 1943 erreichten die antipolnischen Aktivitäten der
UPA ihren Höhepunkt. Obwohl keine dokumentarischen Beweise für
den planmäßigen Charakter dieser "ethnischen Säuberungen"
in Wolhynien und Galizien vorliegen, erlaubt uns der Verlauf der Ereignisse,
einige Schlußfolgerungen zu ziehen. Es gab von ukrainischer Seite
einen gezielten Druck auf die einheimische polnische Bevölkerung.
Man wollte sie zur Umsiedlung auf ethnisch polnisches Territorium zwingen.
Aus mehreren Gründen erreichte diese Aktion ein sehr großes
Ausmaß an Brutalität:
- Zum einen spielte auf beiden Seiten die Unnachgiebigkeit in der
Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Konfliktgebiete eine Rolle.
- Dazu kam verschärfend, daß der Kampf Züge sowohl
eines Konfessions- und Glaubenskrieges (römisch-katholisch gegen
orthodox), als auch eines Bauernkrieges annahm.
- Zur blutigen Härte der militärischen Aktion kamen hinzu:
Haß und Vergeltung, Nachbarschaftsrache und die besondere Mordbereitschaft
für "das eigene Stück Land". Der Widerstand der
UPA dauerte bis Ende der 40er Jahre und endete Anfang der 50er. Nachdem
die endgültige Grenzlinie zwischen Polen und der UdSSR entlang
der früheren Curzon-Linie feststand, kämpfte die UPA auch
noch hinter dieser Linie in polnischen Gebieten mit ukrainischer Minderheit.
Sie wollte dort die eigenen Leute schützen vor Überfällen
durch Militär oder Sicherheitskräfte oder polnische antikommunistische
Einheiten oder auch ganz einfach durch Kriminelle.
Im Jahr 1947 holte dann die polnische Regierung zum entscheidenden
Schlag gegen die UPA aus: Die gesamte ukrainische Bevölkerung im
östlichen Grenzgebiet wurde unter Anwendung brutaler Gewalt in
die vormals deutschen Gebiete West- und Nordpolens umgesiedelt. Alles
sozialen und nachbarschaftlichen, ja sogar die Familienbeziehungen sollten
endgültig zerrissen werden. In dieser Art und Weise also "löste"
Polen sein Problem mit der ukrainischen Minderheit.
Während des deutsch-sowjetischen Krieges gewann die Sowjetunion
in den Polen, die in der Westukraine lebten, unfreiwillige Alliierte,
denn die Partisanen der ARMIJA KRAJOWA (AK) und die polnischen Gemeinden
mußten mit den sowjetischen Partisanen zusammenarbeiten. Die Polen
lieferten Personal, Nahrungsmittel und Informationen und bekamen von
den Roten im Gegenzug Waffen und militärische Unterstützung
bei ihren Überfällen auf ukrainische Dörfer und auf Einheiten
der UPA. Die polnische Untergrundbewegung - obwohl antikommunistisch
- wurde von ihrer Leitung dazu vergattert, sich den Roten Partisanen
gegenüber ("die Alliierten unserer Alliierten") loyal
zu verhalten. Die Partisanen der AK hatten meistens keine Alternative,
denn ihre (polnischen) Dörfer lagen mitten im Kampfgebiet. Der
einzige Ausweg war Flucht. Diese vertriebenen Polen kamen später
wieder zurück und rächten sich (mit der Begründung einer
ukrainischen Kollektivschuld) grausam an der ukrainischen Bevölkerung
von Cholm, Pidliaschja, Nadsianja, Lemkiwschtschyna. Die roten Partisanen
(geführt von sowjetischen Sicherheitskräften) und gewisse
Strafkommandos provozierten häufig Konflikte zwischen Polen und
Ukrainern. Später dann, nach dem Krieg, bedienten sich die Sondereinheiten
des Innenministeriums der UdSSR derselben üblen Methoden. Das Ziel
dieser Provokationen war immer die Diffamierung der ukrainischen nationalistischen
Bewegung bei der Bevölkerung. Massenhaft durchsetzten auch Agenten
der sowjetischen Politischen Polizei den ukrainischen Unterdrund, vor
allem um die Unterstützer in der Bevölkerung herauszufinden.
Auf der anderen Seite Nazi-Deutschland: Die ukrainische nationalistische
Bewegung war für die Nazis nur als Mittel für andere (eigene,
mörderische) Zwecke interessant. Alle Versuche der Ukrainer, politisch
selbständig zuhandeln, wurden brüsk abgebügelt. Gleichwohl
kam aus dieser furchtbaren Epoche ein nationales Stereotyp als Ergebnis
einer rassistischen Betrachtungsweise in die Welt, das besagt, alle
Ukrainer seien ein und derselbe Typ, d.h. die unbestreitbaren von Randgruppen
begangenen Verbrechen werden einem ganzen Volk angelastet. Aber Verbrecher
gibt es bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Man sollte also
besser sowohl die allgemeine als auch die pathologische Kriminalität,
die im Rahmen eines totalen Krieges ausbrachen und ihren Spielraum fanden,
genau unterscheiden von der bewußten politischen Absichtserklärung.
14.
In jeder Phase des Konflikts waren die Polen sehr viel besser organisiert
und besser ausgebildet. Sie verfügten über einen Apparat und
die notwendigen Beamten und Militärs, d.h. sie konnten zielbewußt
und kontinuierlich nach einem klar umrissenen Modell handeln.
Die Ukrainer dagegen verloren immer wieder ihre zahlenmäßig
sehr schwache Elite, worauf bei ihnen auch immer wieder chaotische Zustände
herrschten. Diese Tatsachen muß man berücksichtigen, wenn
man die allseits verbreiteten Halbwahrheiten und Manipulationen am historischen
Material aufklären will.
Nach den Umsiedlungen und Deportationen entwickelte sich der polnisch-ukrainische
Konflikt von seiner "heißen" Phase zum "Kalten
Krieg". Aber dessen Kriegsgeschichte wird erst heute und nur nach
und nach aufgearbeitet, und es wird noch Jahre dauern, bis man ein neues,
für beide Völker akzeptables Konzept der Vergangenheitsbewältigung
auf der Grundlage von Demokratie, Toleranz und Achtung der Menschenrechte
entwickeln kann. Wollen wir hoffen, daß wir dann auch das Buch
über die polnisch-ukrainischen Konflikte endgültig zuschlagen
können.
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11
1997
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