Gernot Erler
Polen Und Ukraine: Subjekte Oder Objekte Im Prozess Der Europäischen
Integration?
Offizielle Anlässe führen zu offiziellen Ansprachen. Kommen westliche
Politiker in osteuropäische Hauptstädte, dann strömen sie von
Worten des Wohlwollens über Erweiterung, Integration, das große
Europa und so fort. Das ist Diplomatie, die ankommt. Unbequeme Realitäten
finden seltener Erwähnung, sie brauchen eine andere Plattform. Ich sehe
das GESPRÄCH ÜBER GRENZEN als eine solche andere Plattform an: für
das Nichtdiplomatische, für die persönliche Sicht der Dinge, für
die ich auch alleine geradezustehen habe.
1. Der Status Polens
Polen steht gleich zweimal in der ersten Reihe. Faktisch agiert Polen schon
als NATO-Land, formal wird es am 4.4.1999, beim 50. Jahrestag der Gründung
der westlichen Allianz, zusammen mit Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen.
Und Polen gehört (zusammen mit Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und
Zypern) zu den sechs Glücklichen, mit denen die Europäische Union
als erstes Beitrittsverhandlungen aufnehmen wird. Zu dieser doppelten Privilegierung
kommt auch noch eine besondere westliche Fürsorge: Deutsche und Dänen
suchen mit den polnischen Streitkräften die praktische Zusammenarbeit,
und im "Weimarer Dreieck" finden Frankreich, Deutschland und Polen
Gemeinsamkeiten.
Diese Zuwendung kommt nicht von ungefähr, sondern hat unterschiedliche,
meist handfeste Gründe. So plagt den Westen, speziell aber die Deutschen
ein schlechtes Gewissen, genährt aus der Erinnerung an das Unrecht, das
Polen im 18. und 19. Jahrhundert erleiden mußte, an die polnischen Teilungen
und an die Verheerungen der Naziherrschaft. Aus Deutschen werden nach einem
geopolitischen Blick auf die Landkarte schnell Befürworter einer polnischen
NATO-Mitgliedschaft, bringt doch dieser Schritt dem eigenen Land die kommode
"Mittellage" und reicht die unbequeme Grenzlage weiter nach Osten
durch. Diese Gunst trifft außerdem einen Musterknaben der Transformation,
der nach Schocktherapie und rascher Privatisierung bereits beneidenswerte wirtschaftliche
Wachstumsraten erreicht. Polen stellt mit 40 Millionen Verbrauchern einen bei
nationaler Kaufkraft rasch interessanter werdenden Absatzmarkt dar, dessen Erschließung
bei der gegebenen "kulturellen Kompatibilität" (Katholizismus)
auf keine großen Widerstände stößt
Da glänzt viel Gold, das auch die wenigen Schatten überstrahlt.
Natürlich wird die EU-Erweiterung mehr Zeit brauchen, als die NATO dazu
brauchte. Außerhalb der feierlichen Versicherungen hört man viel
von langen Übergangsfristen. Besonders die Deutschen, die heute polnische
Billigarbeiter in der Landwirtschaft und auf dem Bau als treu und zuverlässig
schätzen lernen, hegen ins Irrationale sich steigernde Befürchtungen
für den deutschen Arbeitsmarkt, wäre erst die Freizügigkeit gültig.
Wird Polen erstes Neumitglied der EU, stellt sich so erbarmungslos wie in der
ehemaligen DDR nach 1990 die Wettbewerbsfähigkeitsfrage. Heute genießt
man die Flitterwochen der Vor-Beitrittsphase, mit der Ehe aber begänne
der Ernstfall.
Trotz allem: Polen genießt integrationspolitisch gesehen einen komfortablen
Status. Polen ist bereits Subjekt im europäischen Prozeß. Eine Umkehr
dieser Entwicklung erscheint völlig unwahrscheinlich.
2. Die Situation der Ukraine
Die Ukraine ist auf absehbare Zeit weder Kandidat für die NATO- noch
für die EU-Erweiterung, unabhängig davon, ob sie sich zur Einreihung
in die Warteschlangen entschließt oder nicht. Bei der NATO hätte
sie nach Polen, Tschechien und Ungarn, die ihrer Tickets schon sicher sind,
noch acht weitere Aspiranten vor sich: die drei baltischen Staaten Estland,
Lettland und Litauen, die mitteleuropäische Slowakei sowie Bulgarien, Rumänien,
Slowenien und Mazedonien aus dem Südteil Europas. Sollte der NATO-Jubiläumsgipfel
im April 1999 die zweite Runde eröffnen, die Ukraine käme auf keinen
Fall infrage. Der russische Widerstand macht den Westen schon bei den Baltenrepubliken
zögerlich. Eine Moskauer Zustimmung zu einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft
liegt außerhalb jeder politischen Phantasie.
Das hindert die NATO keinesfalls an auffallend engen Beziehungen zur Ukraine.
Lange Zeit beherbergte Kiew das einzige Informations- und Dokumentationsbüro
des westlichen Bündnisses in einem Nicht-NATO-Land. In Kiew arbeitet ein
NATO-Verbindungsoffizier, in Brüssel eine ukrainische Militärmission
bei der NATO. Die Amerikaner stecken dreistellige Millionen-Dollar-Summen in
Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramme der ukrainischen Streitkräfte.
Kiew profitierte dabei auch von dem Preis, den der Westen für die NATO-Osterweiterung
an Moskau zahlte: Parallel zur NATO-Rußland-Grundakte wurde eine "Charta
über ausgeprägte Beziehungen" zwischen der Ukraine und der Allianz
(9.7.1997) ausgehandelt, auch wenn der ukrainische Sonderstatus gegenüber
der russischen Privilegierung mit dem "Ständigen NATO-Rußland-Rat"
doch deutlich zurückbleibt. Auf die geopolitischen Erwägungen des
Westens als Hintergrund der Sonderbeziehung komme ich noch zurück.
Was die EU angeht, verfügt die Ukraine über einen Partnerschafts-
und Kooperationsvertrag, der nach Abschluß des europäischen Ratifizierungsprozesses
noch 1998 in Kraft treten kann. Daß dies kein Kennzeichen besonderer Privilegierung
bedeutet, läßt sich daran ablesen, daß vergleichbare Verträge
auch mit anderen GUS-Staaten wie Kasachstan oder Usbekistan, aber auch mit einem
Land wie Albanien abgeschlossen wurden. Die Warteschlange für die EU-Erweiterung
bleibt auch jenseits der sechs genannten Glücklichen von eindrucksvoller
Länge, mit der Türkei als anschlußsuchendem Schlußlicht.
Einen linearen Aufarbeitungsprozeß dieser Anwartschaften wird es aber
nicht geben. Schon erzwingt Frankreich innerhalb der Union eine wachsende Zuwendung
zu seinen mediterranen Nachbarländern und sucht Verbündete gegen eine
zu einseitige Osterweiterung, die sich damit gegen die Konkurrenz einer "Süderweiterung"
wehren muß. Je konkreter die Kostenpläne für die Erweiterung
werden, desto zurückhaltender äußern sich die EU-Mitglieder
zu konkreten Zeitplänen. Daß sich die Ukraine trotz dieser eher desillusionierenden
Umstände einer gewissen Aufmerksamkeit der europäischen euroatlantischen
Strukturen gewiß sein kann, hat andere Gründe.
3. Die Rolle der Ukraine in der westlichen Globalstrategie
Die Haltung der westlichen Staaten unter Führung der USA zur Ukraine
leitet sich in erster Linie aus ihrer Rußlandpolitik ab. Wichtigstes westliches
Ziel ist es dabei, die Wiederherstellung des russischen Imperiums zu verhindern.
Aus diesem Blickwinkel entsteht auch eine Skepsis gegenüber dem GUS-Prozeß,
sofern dieser Moskau erneute Kontrollmöglichkeiten über die Nachbarstaaten
verschaffen könnte. Washington unterstützt eine Neuordnung des postsowjetischen
Raumes auf der Basis politisch selbständiger, lebensfähiger und auch
ökonomisch von Moskau unabhängiger Staaten.
Die Ukraine spielt bei dieser Perspektive, anders als etwa Belarus, die Schlüsselrolle.
Auf eine kurze Formel gebracht, lautet die Definition dieser Rolle: Wer Moskau
die Kontrolle über die Ukraine verwehrt, verhindert die Rückkehr des
Imperiums! Dieses Ukraine-Verständnis prägt die gesamte westliche
geopolitische Literatur, sehr deutlich etwa bei Zbigniew Brzezinskis Buch "Die
einzige Weltmacht" ("The Grand Chess-Board") mit seinem ausführlichen
Ukraine-Kapitel. Die Fokussierung auf die ukrainische Unabhängigkeit geht
bis zu der Erwartung, daß ihr etwaiger Verlust eine neue Phase des Kalten
Krieges auslösen würde.
Für das ausgeprägte strategische Interesse des Westens an einer
Entwicklung der Ukraine zu mehr Selbständigkeit und Emanzipation von Moskau
gibt es zahlreiche Belege. Kein GUS-Staat erhält so viel westliche, vor
allem amerikanische Unterstützung bei der militärischen Ausrüstung
und Ausbildung. Auffallend viele Übungen (Manöver) und andere Aktivitäten
mit ukrainischer Beteiligung oder auf ukrainischem Boden finden im Rahmen der
"Partnerschaft für den Frieden" (PfP) und des Euroatlantischen
Partnerschaftsrates (EAPC) statt. Vielfältige Bemühungen richten sich
auf das Ziel, die Ukraine von den russischen Energielieferungen, die Kiew nur
mit großer Verzögerung bezahlt, unabhängiger zu machen. Öl
und Gas aus dem Kaspischen Raum sollen hier eine Rolle spielen. Und schließlich
investiert die EU große Summen in das TRACECA-Programm, um eine "Neue
Seidenstraße" zwischen West und Ost mit Leben zu füllen
ein transkontinentaler Transportkorridor, der Rußland meidet, die Ukraine
aber einbezieht.
Die westliche Unabhängigkeitsdoktrin findet ihr Echo in der Ukraine,
wobei aber die Grenze zwischen Emanzipation von und Antiposition gegen Moskau
gelegentlich überschritten wird. Immer häufiger ist jetzt die Rede
von sogenannten "Strategischen Allianzen", wenn ein paar Länder
ihre Politik besser gegen den großen russischen Bruder koordinieren wollen.
Ernster zu nehmen ist die GUAM, eine sich zunehmend auch formale Strukturen
gebende Kooperation der Länder Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien
mit deutlich antirussischem Akzent. Die Besorgnis der Moskauer Strategen über
diese neue "Südachse" (Juznaja Osð) wächst und läßt
die vertrauten russischen Einkreisungsphobien wieder aufleben.
Rußland hat bis heute den "Verlust" der Ukraine mental nicht
verkraftet. Umfragen belegen, daß die Separierung des slawischen Bruderlandes
noch immer zumindest als "unnatürlich" empfunden wird. Deshalb
erscheint der Freundschaftsvertrag zwischen den beiden Nachbarn vom 31.5. 1997,
der am 14.1.1998 in Kiew ratifiziert wurde, so wichtig, obwohl er nicht jede
Versuchung in Moskau eliminiert hat, diverse ökonomische Abhängigkeiten
der Ukrainer politisch zu nutzen. Es zeichnet sich ab, daß Moskau auf
eigene "Strategische Allianzen" setzt, um seine Interessen, z.B. beim
Kampf um die Öl- und Gasvorkommen im kaspischen Becken, besser durchsetzen
zu können. Diese politische Zergliederung des postsowjetischen Raumes kann
leicht zu erheblichen Spannungen führen.
Die westliche Ukraine-Rußland-Politik weist Widersprüche auf und
trägt z.T. egoistische Züge. Während die EU auf Integration und
die Schaffung eines gewaltigen Binnenmarktes setzt, wendet sie sich im Bereich
der ehemaligen Sowjetunion gegen eine politische und ökonomische Integration
bzw. Reintegration das mögliche Wiedererstarken der Ex-Weltmacht
Rußland dabei fest im Auge. Auf der anderen Seite bleibt das Angebot an
die östlichen Transformationsstaaten, sich dem europäischen Integrationsgeleitzug
anzuschließen, ausgesprochen selektiv. Konkrete Zusagen für die EU-Erweiterung
haben bisher nur fünf osteuropäische Reformstaaten: neben den drei
doppelten Aspiranten Polen, Tschechien und Ungarn noch Estland und Slowenien.
Alle anderen, darunter die Ukraine, müssen sich mit jenen wohlwollenden
und unverbindlichen Stereotypen über ihre langfristigen Europazugehörigkeiten,
die von den Sprechern der Weststaaten immerzu wiederholt werden, abfinden. Aus
all dem folgt: Die Ukraine kann derzeit anders als Polen kaum als Subjekt der
europäischen Politik gelten, wohl aber als Objekt, in dem sich verschiedene
westliche Interessen überschneiden.
4. Die Funktion der Grenze zwischen Polen und der Ukraine
In der westlichen Erweiterungsstrategie soll Polen eine wichtige Rolle übernehmen.
Aus Warschau sollen die politischen Signale und die konkreten Kooperationsangebote
kommen, um die prinzipielle Westorientierung Kiews aufrechtzuerhalten, ohne
eine konkrete Integrationsoption westlicherseits öffnen zu müssen.
Hierin liegt in der Tat eine beachtliche Chance für die Ukraine, die heute
bereits von der Brückenfunktion Polens in politischer, ökonomischer
und kultureller Hinsicht profitiert. Ob diese Nabelschnur nach Europa auf Dauer
funktioniert, hängt allerdings vom Charakter der Grenze zwischen Polen
und der Ukraine ab. Wie sich aber die heute sehr durchlässige polnisch-ukrainische
Grenzsituation weiter entwickeln wird, läßt sich derzeit noch nicht
präzise vorhersagen. Drei Faktoren werden dabei eine maßgebliche
Rolle spielen.
Da gibt es einmal die militärischen Implikationen der NATO-Osterweiterung.
Das künftige Allianzmitglied Polen verfügt schon heute über wirksame
Grenzschutzanlagen und die dazugehörige militärische Infrastruktur
- nur leider an den "falschen" Grenzen, nämlich den westlichen,
die früher die Blockgrenze zwischen NATO und Warschauer Pakt darstellten.
Das soll jetzt anders werden. Der in der Öffentlichkeit wenig beachtete
militärische Teil der NATO-Erweiterung sieht vor, Verteidigungsanlagen,
Infrastruktureinrichtungen und sensible Überwachungsanlagen an die Ostgrenzen
zu verlegen bzw. dort zu errichten. Solche Anlagen, nunmehr die Außengrenzen
des westlichen Bündnisses repräsentierend, erfordern Schutzmaßnahmen,
die kaum mit durchlässigen oder gar offenen Grenzen zur benachbarten Ukraine
zu vereinbaren sind.
Paradoxerweise hängt die Grenzdurchlässigkeit auch davon ab, wie
sich das Verhältnis des Westens zu Rußland weiterentwickelt. Sollten
die Moskauer Interessen bei der NATO-Erweiterung oder im Zuge eines anderen
aktuellen Konflikts zu wenig beachtet werden nd entstünde dadurch eine
Verschlechterung der Beziehungen des Westens zu Rußland, dann würde
dies sehr schnell die Handhabung des polnisch-ukrainischen Grenzverkehrs verändern.
Paradox ist dies insofern, als das sich u.a. aus Mißtrauen gegen Rußland
speisende westliche Interesse an einer emanzipierten und westorientierten Ukraine
selbst sabotiert, wenn sich eine positive Zusammenarbeit mit der Russischen
Föderation nicht aufrecht erhalten läßt.
Und schließlich könnte der polnisch-ukrainische Grenzverkehr auch
Opfer der westlichen Angst vor Armutsflüchtlingen werden. Schon heute drängt
die Bonner Regierung in Warschau auf strengere Grenzkontrollen und liefert folgerichtig
das Equipment und Know-how für eine notfalls auch hermetische Abriegelung.
Will Polen in den mit dem Stichwort "Schengen" gekennzeichneten inneren
Kreis der EU aufgenommen werden, dann wird es auch unter Inkaufnahme zahlreicher
eigener Nachteile in der Grenzregion die deutschen Erwartungen erfüllen
müssen.
Die Betrachtung dieser Grenz-Entwicklung und ihrer Implikationen zeigt: Die
äußerst lebendige Austauschsituation, von der beide Länder
in den letzten Jahren profitiert haben, ist bedroht und läßt
sich nur aufrechterhalten und weiterentwickeln im Rahmen einer politischen
Gesamtkonzeption für den europäischen Integrationsprozeß,
der alle Transformationsstaaten umfaßt und die Interessen Rußlands
in fairer Weise berücksichtigt. Bis heute gibt es ein solches Gesamtkonzept
bedauerlicherweise nicht einmal in seinen Grundzügen.
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1998
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