previous article
next article
to main page

Emilia Ohar

Zweisprachigkeit in der Ukraine heute

Die Hoffnung aus den frühen Jahren der Unabhängigkeit, dass sich im Zuge des gesellschaftlichen und politischen Wandels alle Bürger dem allgemeinen und alltäglichen Studium der ukrainischen Sprache widmen würden, dass der Monolith der Russischsprachigkeit allmählich zerbröckeln würde, dass die überwiegende Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer und der ukrainischen Bürger anderer Nationalität zunehmend eine Loyalität zu ihrer Staatssprache entwickeln würde und dass schließlich die Beherrschung des Ukrainischen eine Frage des Prestiges sein würde, diese Hoffnung scheint heute zur Illusion zerronnen.

Zwar geht die ukrainische Sprache de jure in das neue Jahrtausend mit dem langerkämpften ehrenvollen Status einer Staatssprache, als Nationalsprache eines unabhängigen Staates, als die zweite unter den slawischen Sprachen (nach der Zahl der Sprachträger), mit einem ausgebildeten literarischen Standard, einer kodifizierten Rechtschreibung und mit einer angemessenen (wenn auch nicht besonders zahlreichen) ukrainischsprachigen Verlagsproduktion – gleichwohl ist sie in der ukrainischen Gesellschaft de facto nicht zur Sprache der Mehrheit geworden.

Die sprachliche Situation in der heutigen Ukraine ist wesentlich von der ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit (kollektiv und individuell) geprägt. Die kollektive Zweisprachigkeit verbreitet sich fast über das gesamte Territorium der Ukraine, und zwar asymetrisch, d.h.: Einmal geht sie über in die Diglossie (der Begriff meint eine Koexistenz zweier Sprachen, wobei das Gleichgewicht zugunsten der einen Sprache gestört ist, die dann als die “stärkere” gilt, geeignet für die höheren Funktionen im gesellschaftlichen Leben, während die andere als eine “schwache” gilt, geeignet nur für einen beschränkten Gebrauch wie z.B. die alltägliche Kommunikation), im anderen Fall endet sie damit, dass eine der beiden Sprachen fast vollkommen vertrieben wird, d.h. also mit Einsprachigkeit.

Die extreme sprachliche Polarisierung hinsichtlich Status und Gebrauch der beiden Sprachen zwischen der Westukraine (Galizien) einerseits und dem Osten (Donbas) und Süden (Krim) andererseits ist nicht nur Ergebnis historischer Entwicklungen, sondern wird auch weiterhin durch Strategie und Taktik der jeweiligen regionalen Sprachpolitik immer wieder hergestellt. In den Gebieten Donezk, Luhansk, Odessa und Mykolajiw wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1994 die russische Sprache zur offiziellen Sprache erklärt. Auf der Krim existieren drei staatliche Sprachen (Russisch, Ukrainisch, Krimtatarisch), als offizielle Sprache gilt die russische.

In den Dörfern der zweisprachigen Regionen wird auch weiterhin meistens Ukrainisch gesprochen, aber was das urbane Milieu betrifft, so kann man nur in der Westukraine eine mehrheitlich ukrainischsprachige städtische Bevölkerung finden. In den Großstädten des Südens, des Ostens und zum Teil auch der Zentralukraine ist die ukrainische Sprache praktisch abwesend. Als ihre Träger kann man Vertreter der Intelligenz bezeichnen, vor allem aus dem Schriftstellermilieu, einige Kulturschaffende und Künstler, Naturwissenschaftler oder Vertreter von entsprechenden sozialen Bewegungen und von politischen Parteien mit nationaler ukrainischer Orientierung. Den letzteren stehen in der Regel russischsprechende Vertreter der Linksparteien gegenüber.

Aber gerade in den Städten, wo sich das intellektuelle (= das Informations- und Kultur-) Produkt bildet, hat das sprachliche Regime eine wesentliche Bedeutung für die Gestaltung des Endprodukts. Im Massenbewusstsein der schon seit langem russifizierten Bevölkerung östlicher und südlicher Städte gilt die ukrainische Sprache immer noch als eine Bauernsprache, und so existieren unzählige psychologische Barrieren sowohl in der alltäglichen Kommunikation als auch im Geschäftsleben, die viele Menschen einfach nicht überwinden können.

Auch ist die ukrainische Sprache, obschon als offiziell und obligatorisch deklariert, keineswegs zur Arbeitssprache der Macht geworden. Der Gerechtigkeit wegen muss allerdings auch erwähnt werden, dass unser Parlament zu Beginn der staatlichen Souveränität eine pro-ukrainische Orientierung zeigte.

Im Laufe der letzten Jahre hat sich die sogenannte “Ukrainisierung” wesentlich verlangsamt. Der Staat legte in Fragen der Sprachpolitik Wert auf “Vorsicht” und war bemüht, radikale Schritte zu vermeiden. Man verzichtete z.B. auf bestimmte Forderungen wie die Beherrschung der ukrainischen Sprache als notwendige Qualifikation für einen Posten beim Staat oder als Voraussetzung zum Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft. Ein kulturpolitischer Protektionismus zugunsten der ukrainischen Sprache, vor allem der ukrainischen Verlagsproduktion, blieb aus. Es wurden keine besonderen staatlichen Strukturen gebildet, die eine Sprachpolitik verbindlich formulieren und ihre Einhaltung hätten überwachen können.

Wenn die ukrainische Sprache auf den höheren gesellschaftlichen Ebenen in Gebrauch genommen worden wäre, hätte sie sich zu einem Symbol der Macht und des sozialen Erfolgs entwickeln können, wenn die Machtelite ukrainisch sprechen würde, hätte dies als mächtiger Ansporn für die Bildung eines sprachlichen Massenbewusstseins gewirkt, besonders in dieser totalitären und post-totalitären Gesellschaft, wo die Bedeutung von allem, was mit Macht zusammenhängt, stark übertrieben wird.

Aber infolge des rein formalen Charakters der staatlichen Sprachpolitik und der passiven oder aktiven Sabotage bei der Verwirklichung des Sprachgesetzes bleiben nur wenige Orte übrig, an denen die ukrainische Volkssprache wirklich lebt – die Familie und schöngeistige Literatur, sowie einige nationale und regionale Massenmedien.

Leider bürgt die Tatsache, dass unsere Massenmedien ukrainisch schreiben bzw. sprechen, überhaupt nicht für Qualität. Viele Journalisten aus der Hauptstadt empfinden die ukrainische Sprache als Fremdsprache, mit der sie gezwungenermaßen ihr Brot verdienen. Sogar in den lwiwer Massenmedien finden sich jede Menge sprachliche Fehler.

Der konfessionelle Gegensatz in der Ukraine wird von einem sprachlichen Gegensatz begleitet: Auf der einen Seite haben wir die russischsprachige Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat), auf der anderen Seite die ukrainischsprachige griechisch-katholische Kirche, sowie die überwiegend ukrainischsprachige Ukrainische Orthodoxe Kirche (Kiewer Patriarchat) und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche.

Wenn man irgendwo denn doch einen Wandel zugunsten der ukrainischen Sprache feststellen kann, dann in der Familie, genauer gesagt: es handelt sich hier um eine Generations-Zweisprachigkeit. Die ältere Generation, die vom Lande kam, spricht auch weiter im städtischen Alltag ukrainisch, während die Kinder schon russisch sprechen. Mit der Einführung der ukrainischen Sprache in der ukrainischen Mittelschule wurde dann ein “umgekehrtes” Drehbuch möglich: Kinder von russischsprachigen Eltern können zu ihrer Sprache zurückkehren, zu der Sprache ihrer Großeltern.

Es wäre allerdings wünschenswert, dass die Dynamik der Ukrainisierung in den Mittelschulen nicht nur quantitav, sondern auch qualitativ spürbar würde. In den “neugeborenen” ukrainischen Schulen der russischsprachigen oder überwiegend russischsprachigen Städte – uns ist die Erfahrung einiger Schulen aus Kiew und Tscherniwci bekannt – herrscht eine künstliche Zweisprachigkeit: Sowohl für die Schüler, als auch für die Lehrer gilt das Ukrainische nur in der Unterrichtsstunde. Man spürt, dass es an qualifizierten Pädagogen als den realen Trägern der ukrainischen Sprache mangelt. Besonders unter den Grundschullehrern gibt es nur wenige tatsächliche Träger der ukrainischen Sprache. Es liegt doch auf der Hand, wie bedeutend die Rolle gerade eines Grundschullehrers für die Erziehung in einer Sprachkultur ist, was für eine starke und prägende Persönlichkeit gebraucht würde, und zwar aus gegebenem Anlass eine ukrainischsprachige Persönlichkeit.

Die Erfahrungen mit der ukrainischen Sprache, die die Kinder in der Schule machen, werden ausserhalb des Klassenzimmers praktisch gar nicht unterstützt, weil das soziale Umfeld der Schüler russisch bleibt.

Im offensichtlichen Kontrast zu den Verhältnissen, die an solchen Schulen (Kiew, Tscherniwci) herrschen, stehen Lviver Schulen, die ebenfalls in ihren Klassen mit russischsprachigen Kindern erst vor kurzem Ukrainisch als Unterrichtssprache eingeführt haben. Die Bedingungen, unter denen die Kinder mit der ukrainischen Sprache umgehen lernen, sind vergleichsweise sehr viel komfortabler: Der Unterrichtsstoff wird in einem guten Ukrainisch übermittelt, die Schüler werden außerhalb der Schule in einem ukrainischen Umfeld weitergebildet, die in der Schule erworbenen Kenntnisse gehen schließlich in entsprechende sprachliche Fertigkeiten und in feste Sprachgewohnheiten über.

Allerdings erwartet die jungen Leute dann auf der Straße ein anderes Phänomen, das “Surzhyk” (vergleichbar dem pariser “Franglais”), das sich ziemlich schnell in der gesamten Ukraine ausbreitet. Dieser Virus hat nicht nur den Süden und Osten infiziert, wie man zunächst annehmen könnte, sondern auch den Westen: “...Reden wir über unser Piemont, diese Bastion von allem Super-Ultra-Radikal-Nationalistischen... Eigentlich sollte hier doch mit der ukrainischen Sprache alles in Ordnung sein. Aber leider...” – Es stellt sich heraus, dass der Mythos von der Reinheit der Sprache in Galizien tatsächlich nur ein Mythos ist. In Gestalt der “Avantgarde” kam “das galizische Dorf, das Dorf im Dorf, und das aus dem Dorf stammende Lumpenproletariat, in der Stadt. Jedes vierte, fünfte Wort bei dieser Bevölkerungskategorie im Lviver Gebiet ist ein russisches Wort” (Illia Lemko).

Der Großteil der Träger der ukrainischen Sprache beherrscht die Literatursprache unzureichend, denn die meisten gebrauchen die Literatursprache nicht von Kind auf, sondern kommen entweder von einer ukrainischen nichtliterarischen Sprache (Mundart) oder von der russischen Sprache her, vielen fehlt es an einer entsprechenden sprachlichen Praxis außerhalb von Familie oder Arbeitsplatz. Dazu kommt, dass es manchmal durchaus kompliziert ist, aus der bunten Palette von möglichen Varianten die korrekte (normative) Wahl zu treffen.

Die offiziell anerkannte Variante der ukrainischen Literatursprache ist nur bei einem kleinen Teil der ukrainischsprachigen Bervölkerung in Gebrauch. Verschiedene Kreise der Träger der ukrainischen Sprache zeigen divergierende Einstellungen (mal zögerlich, mal schwankend bis verzweifelnd) zu bestimmten Normen, was denn nun letztendlich als “echt ukrainisch” oder einzig richtig gelten soll. Die Aktivierung von sprachlichen und sprachbildenden Prozessen, die manchmal sehr stürmisch und nicht durchdacht abgelaufen sind (Rückwendung zur Sprache der 20er, 30er Jahre, oder zur Sprache der ukrainischen Diaspora), hat nicht nur positive Veränderungen bewirkt, sondern auch zu Schwankungen in der Rechtschreibung der Literatursprache beigetragen, zu einer allgemeinen Instabilität (als Beispiel kann man hier den Buchstaben “¥” erwähnen, der zwar 1990 wieder eingeführt wurde, der aber immer noch in den gedruckten Texten fehlt), und als Resultat zur Verschlechterung der sprachlichen Kultur sowohl in der mündlichen als auch der schriftlichen Kommunikation.

Solange noch die harten Diskussionen um die ukrainische Rechtsschreibung andauern (das zieht sich jetzt schon zehn Jahre hin), richten sich die Verleger je nach Gusto und Präferenz nach der Rechtsschreibung von 1960 oder 1990 oder 1993 oder 1928. Die Wörterbücher, die in den letzten Jahren in der Ukraine herauskamen, sind nicht imstande, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie orientieren sich jeweils an unterschiedlichen terminologischen sprachlichen Traditionen, etwa an einem extremen Purismus und Verzicht auf jegliche Fremdwörter (ausgenommen die altgriechischen oder lateinischen), oder an einer politischen Überkorrektheit gegen das Russische oder an Internationalismus und “Europäertum” etc. Einige erinnern eher an historisch-terminologische Untersuchungen als an ein Lexikon.

Das alles erfolgt unter den Bedingungen einer harten Konkurrenz zwischen den beiden Sprachen. Sie werden auf der Skala der gesellschaftlichen Kulturwerte gegeneinandergestellt, manchmal in extremen Formen, wenn z.B. die im Laufe von einigen imperialistischen Jahrhunderten ausgebildete Stereotype Wasser auf die Mühle des russischen Vorurteils leiten (- dass die russische Sprache älter sei als andere ostslawische Schwester-Sprachen, dass sie eine besonders “intelligente” Sprache sei usw.). Derweil gilt die ukrainische Sprache im Massenbewusstsein immer noch als eine in einem bestimmten Sinne künstliche Sprache, oder als Sprache der Sprachkünstler, oder als eine Volks- und Bauernsprache, als eine Sprache, die komplizierte abstrakte Bilder und Kategorien nicht wiedergeben könne, weil ihr dazu die Mittel fehlten.

Sehr zutreffend und ziemlich bitter äußerte sich Mykola Rjabtschuk über die Segmentierung und Atomisierung der ukrainischen Gesellschaft. Er bezeichnet die Ukraine als einen “kulturellen Splitter des Imperiums” und schreibt: “Dieser Splitter besteht aus Regionen, die bis jetzt auf kultureller Ebene kaum mehr verbindet als das koloniale Kleinrussland-Bewusstsein; sie sprechen verschiedene Sprachen, nicht nur im unmittelbaren, sondern auch im übertragenen Sinn des Wortes; sie benutzen verschiedene semiotische Systemcodes, verschiedene geschichtliche und kulturelle Mythen; sie lesen verschiedene Bücher, hören verschiedene Musik, schauen verschiedene TV-Sendungen an, abonnieren verschiedene Zeitungen... Das Problem liegt nicht darin, dass es soviel “verschiedene” gibt, sondern dass es keine “dieselben” gibt, nichts Gemeinsames, was verbindet, was einen gemeinsamen Diskurs ermöglichen würde, einen gemeinsamen kulturellen Code, ohne den es eigentlich gar keine einheitliche Nation geben kann. Heute haben wir verschiedene Regionen, verschiedene Städte und Dörfer, die zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Bedingungen in die Sowjetunion gekommen sind, die eher ein Sowjetismus als ein Ukrainismus miteinander verbindet. In der Tat können sie bis heute keinen gemeinsamen Kultur- und Informationsraum bilden, leben in verschiedenen Welten und sprechen, wenn nicht verschiedene Sprachen, so doch auf verschiedenen Wellenlängen”.

Abschließend ein weiteres Zitat von Mykola Rjabtschuk. Er schreibt, dass die soziologischen Untersuchungen der letzten Jahre einen Fortschritt im politischen Bewusstsein der ukrainischen Bevölkerung feststellen, die sich “immer mehr mit der Ukraine und immer weniger mit Russland identifiziert“, und er wirft die Frage auf: “Wird sich diese politische Identifizierung auch in eine kulturelle verwandeln können?” Wir wagen es, diese Frage auszuweiten: Werden Politik und Kultur in der Ukraine irgendwann auch wirklich ukrainisch? Wir kennen das Beispiel Irland, und wir kennen das irische Drehbuch. Demnach würde die Sprache der Metropole auch in Zukunft die Sprache der ehemaligen Kolonie bleiben.

(aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriw)

up


N12 / 1998

12

1998