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Oles Pohranytschnyj

Konzert fuer einer Grenzer* mit der Grenze

* Der Name des Autors heißt übersetzt: Der Grenzer.

© Oles Pohranytschnyj, 1997

“In einer Zeit, da der Weltimperialismus sich rüstet und anschickt, unseren jungen Staat, das erste Land in der Geschichte der Menschheit, in dem soziale Gerechtigkeit herrscht, zu vernichten und die Werktätigen daran zu hindern, ihr immerwährendes Verlangen nach einem freiem Leben und nach nichtentfremdeter Arbeit zu stillen, in dieser Zeit also versuchen gewisse Leute in diesem Saal – den unersättlichen Kapitalisten zuliebe – den Glauben des sowjetischen Volkes an die Heiligkeit und Gerechtigkeit unserer Sache und an die Unverletzlichkeit unserer Grenzen zu unterminieren... ”

So oder ähnlich begann vor gerade erst neun Jahren eine Lektorin der journalistischen Fakultät ihre Rede in der geschlossenen Versammlung an der Lviver Universität. Ein derartiges Pathos brachte damals allerdings sogar den Parteigruppenorganisator (“Partorg”) unserer Fakultät in Verlegenheit. Immerhin schrieb man schon das Jahr 1988 ...

Aber bitte, erinnert euch doch selbst zurück an jene Zeit: Abend für Abend wurden die Kleinen in den Schlaf gesungen mit einem TV-Wiegenlied über unseren Grenzsoldaten, der nicht schläft, weil er unseren friedlichen Schlaf beschützen und die Heimat bewachen muss. Nach diesem Wiegenlied wurde allen warm ums Herz, die Kinder schliefen friedlich ein, die Eltern streckten die müden Leiber vor dem Fernseher aus, um wieder einmal das Heldenepos DIE STAATSGRENZE aus der Serie “Wir baun uns unsre eigene, wir bauen uns eine neue Welt!” anzuschauen. Manche brave Kindchen hatten allerdings recht unartige Eltern, die unter der Couch eine nicht registrierte Schreibmaschine hervorzogen und sich an die Vervielfältigung antisowjetischer Verleumdungsliteratur machten. Zum Glück gab es nicht viele Elemente dieser Art, und ein einziger Wermutstropfen sollte den proletarischen Freudenbecher keinesfalls verderben...

Die Perestrojka ging schon ins dritte Jahr...

PRELUDE

Ich, POHRANYTSCHNYJ, OLEXANDR OLEXANDROWYTSCH; wurde im 49. Jahr der neueren Zeitrechnung, im 13.Jahr nach dem Tode unseres geliebten Führers Jossif Vissarionovitsch Stalin, im 2.Regierungsjahr des unsterblichen Leonid Illitsch Breshnev geboren. Und ich wurde geboren quasi am Ende der Welt, denn keine 15 Kilometer hinter dem Dorf, wo mich meine Oma großgezogen hat, entfernt, markierte der Stacheldraht nun mal das Weltende. Manchmal schien es, dass jenseits des Drahts eine abgrundtiefe Grube begänne, in die man, käme man ihr zu nah, hineinfallen könnte. Doch keiner näherte sich der Grube – wozu denn auch? Als ich sechzehn wurde, fand ich mich konfrontiert nicht nur mit meiner Volljährigkeit, sondern auch mit einem unlösbaren Rätsel: Aus irgendeinem Grunde, es bleibt mir bis heute unbegreiflich, aus welchem, ist urplötzlich, völlig unerwartet und vorzeitig Leonid Illitsch Breshnev gestorben. Die ganze uns, den Sechzehnjährigen, bekannte Welt verfiel in Trauer. Dann traten einer nach dem anderen jene hervorragenden Persönlichkeiten auf und wiederholten, jeder auf seine Weise, den Refrain: “Etwas ist faul in unserem Königsreich, meine Herren!”

TUTTI

“Über der Grenze graue Wolken. Stille im rauhen Land. Hoch überm Amur-Ufer stehn die Beschützer auf Posten.”

Das Schicksal wollte es, dass ich die Berge liebte. Aber offenkundig wollte mir das Schicksal übel, denn diese Berge erhoben sich am Ende der Welt, d.h. an der Grenze der UdSSR. Es war zu Johannis, an einem heiteren Tag, als ich mich zusammen mit meinem Bruder, einem Ornithologen (ein Mensch halt, der die Vögel beobachtet), ins Vorgebirge bei Dobromyl begab, um Vögel zu registrieren. Wir hatten keine Ausweise bei uns, wozu auch, die Vögel fragten nicht danach. Unseren Eltern hatten wir fest versprochen, am Abend zuhause zu sein, denn bei uns, den biederen Bewohnern Galiziens, ist es üblich, an Johannis gemeinsam eine festliche Abendmahlzeit einzunehmen.

Wir machen uns also auf den Weg, das Wetter ist gut, die Vögel sind lebhaft, ich fotografiere, mein Bruder macht seine Beobachtungen mit dem Fernglas. Plötzlich kreischen auf der stillen Waldstrasse die Bremsen eines Wagens. Heraus springen Männer mit grünen Hüten, MG im Anschlag, Sprechfunk am Hals, Hund an der Leine. Keine Frage, wir sind verwirrt. Aus solcher Nähe haben wir solchen Vögel noch nie gesehen. Aber diese sind überhaupt nicht verwirrt, ganz im Gegenteil, denn sie handeln nach Vorschrift: – “Ausweiskontrolle!” (sagen sie auf Russisch) und “Personalausweis! Und die Genehmigungsscheine zum Betreten der Grenzzone!” Wir zuckten verlegen die Achseln. Der Hund bewegt sich. – “Familienname?” fragte der Unterleutnant. Erst jetzt kommt mir die Absurdität der Situation zu Bewusstsein. Albern grinsend und mit steifer Zunge antworte ich: “Pohranytschnyj ...” Darauf folgt eine lastende Pause. Ich schlucke, räuspere mich, versuche es noch einmal, etwas lauter: “Mein Familienname lautet Pohranytschnyj...” Der Leutnant scheint verunsichert. Der Hund erhebt sich langsam und bleckt die Zähne.

Der Leutnant hat sich aber rasch wieder gefasst und mir angeboten, er könne ja meinem Gedächtnis mit dem Gewehrkolben etwas nachhelfen. Ich lehne das Angebot höflich ab. Mit meinem Bruder führte der Leutnant dann einen ganz ähnlichen Dialog, und allmählich schienen sich ihm, dem Leutnant, interessante Perspektiven zu öffnen. Er betrachtete mit vielsagenden Blicken unsere Kamera, steckte seine Nase in unseren Rucksack, studierte unsere Landkarte, die bunt verziert war mit diversen ornithologischen Zeichen, und plötzlich bemerkte ich, wie sich seine Brust wölbte, wie sich der ganze Unterleutnant schon auf ein neues Sternchen auf den Schulterklappen zu freuen begann...

Das Abenteuer ging dann für uns gar nicht so schlecht aus. Ich würde sogar sagen, es war recht lehrreich. Immerhin haben wir von Angesicht zu Angesicht die Grenzposten am Ende der Welt gesehen.

Zwei Monate später erschien – anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes ÜBER DIE STAATSGRENZE DER UDSSR – in unserer Universitätszeitung ein Artikel mit der Überschrift: AN DER GRENZE DIE WACHE IST JEDERMANNS SACHE! Der Artikel wollte den Leser davon überzeugen, dass dieses Gesetz die wichtigsten Grundsätze der sowjetischen Außenpolitik ausdrücke, und die Bereitschaft der Sowjetunion, an der Grenze alles zur Erhaltung eines Klimas der guten Nachbarschaft, des gegenseitigen Verständnisses und des Vertrauens zu tun, aber das Gesetz sollte auch (“...angesichts der gespannten internationalen Lage, hervorgerufen durch den aggressiven Kurs gewisser imperialistischen Kreise, der Verstärkung des nuklearen Wettrüstens und der subversiven Tätigkeit der Sicherheitsdienste der USA und ihrer Alliierten...”) die Unantastbarkeit unserer Grenzen bekräftigen.

Aber ich und mein Bruder, wir hatten uns zu nahe an das Heiligtum der Grenze, herangemacht. Es fehlten ja nur noch ein paar Kilometer... Demensprechend wurden wir auch sofort bestraft: Ich, damals ein Werktätiger, entrichtete die volle Strafe, nähmlich 10 Rubel, und mein Bruder, der Student, die Studentenstrafe, 5 Rubel. Dann brach die Abenddämmerung herein, und wir wurden aus der Zelle für Untersuchungshäftlinge (“KPS”) entlassen. Die Sowjetmenschen verzehrten friedlich ihr traditionelles Festmahl Kutja. Der Unterleutnant, nunmehr aller Hoffnung auf neuen Schmuck der Schulterklappen beraubt, blieb gleichwohl wachsam und umschlang die Krankenschwester Raja. Die Grenzen der UdSSR waren gut und sicher beschützt.

Bevor wir nun die Grenze selbst ins Auge fassen können, müssen wir durch die Grenzzone hindurch schleichen. Über diesen Streifen Land steht in einer Publikation aus jener Epoche folgendes zu lesen: “Die Grenzzone entsteht in der Regel im Bereich des Gebiets-, Stadt-, Siedlungs-, Dorf-, also irgendeines Sowjet-Territoriums, welches der Staatsgrenze der UdSSR anliegt. Die Festlegung einer Grenzzone soll eventuelle Verletzungen der Staatsgrenze der UdSSR, sowie andere damit verbundene, besonders gefährliche Verbrechen verhindern. Deshalb ist die Einreise in die Grenzzone denjenigen Bürgern, die dort nicht wohnhaft sind, strikt verboten. Eine besondere Einreisegenehmigung für die Grenzzone wird, falls triftige Gründe vorliegen, von den Meldeämtern am ständigem Wohnsitz erteilt. Die Verletzung der Vorschriften des Grenzregimes zieht administrative und strafrechtliche Maßnahmen nach sich”.

Apropos: Artikel 196 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) besagt: “Für die Verletzung der Einreise-, der Aufenthalts- und der Melde-Bestimmungen im Grenz- bzw. Sperrgebiet wird, falls derselbe Verstoß im Laufe des Jahres schon einmal administrativ bestraft worden ist, eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe bis zu 100 Rubeln verhängt”.

Natürlich könnte man nunmehr Betrachtungen anstellen über die merkwürdige Tatsache, dass den Sowjetmenschen ein Jahr Freiheitsentzug nur 100 Rubel wert gewesen sein soll, aber dazu vielleicht ein andermal mehr.

ZWEITER SATZ

“Wunderbar ist diese Welt!” würde der Kosakenhauptmann MYKOLA ULASSOWYTSCH ZABRJOCHA sagen. Einerseits bedarf alles, was es auf dieser Erde gibt, einer Definition, Erläuterung, Ausdeutung, d.h. einer gewissen Ab- und Umgrenzung. Andererseits kennen wir gleichzeitig den unstillbaren Drang nach Integration und Kommunikation. Für unsere Zwecke interessiert allerdings nur der erste Teil des Problems, das Bedürfnis des Menschen nach Abgrenzung.

“Da sprach Abraham zu Lot: Lass doch nicht Zank sein zwischen dir und mir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Gebrüder. Stehet dir nicht alles Land offen? Scheide dich doch von mir. Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten; oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken” (1. Mose, 13,8).

Also haben ABRAHAM und LOT ihre Besitztümer gegeneinander abgegrenzt. Beide ruhten in Gottes Hand, aber früher oder später musste das Bedürfnis nach einer Scheidung aufkommen, denn “das Land mochte es nicht ertragen, dass sie bei einander wohneten; denn ihre Habe war groß, und konnten nicht bei einander wohnen” (1.Mose, 13, 6). Die einzige Garantie für eine friedliche Abgrenzung den Sippen des Abraham und des Lot war der gute Wille der beiden Männer. Aber sie waren ja bekanntlich Gerechte.

In PLATONS weisem Alterswerk DIE GESETZE sagt Zeus, der Hüter der Grenzen: Keiner darf den Stein berühren, der sein Eigentum von dem des Nachbarn trennt. Mit gewissen Einschränkungen könnte man behaupten, dass es die Grenze als eine Form der Abgrenzung in unterschiedlicher Gestalt schon immer gegeben hat. Im Fall von Abraham und Vetter Lot handelt es sich um eine freiwillige Abgrenzung. In der hellenischen Welt (und das gilt bis heute) haben wir es mit einer herkömmlichen Abgrenzung zu tun. Aber der erste Arbeiter- und Bauernstaat hatte eine grundsätzlich neue Form der Abgrenzung herausgebildet, nämlich DIE STAATSGRENZE DER UDSSR. Dass eine derartige Kreation in die Welt kam, kann man so oder so erklären, zum Beispiel auch so: Als “das junge Sowjetland” an seiner Idee von der Weltrevolution fast schon erstickt wäre, hat man, um das bereits Erworbene zu festigen, die reinen Seelen des Proletariats mit Hilfe eines undurchlässigen Zauns vom Schmutz der imperialistischen Welt geschieden, bevor dann der nächste Marsch gegen den Weltimperialismus angetreten werden konnte.

Eine ganz ähnliche Interpretation des Sachverhaltes bietet auch die unbestreitbare Autorität des Jossif Vissarionovitsch Stalin an: “Die Existenz selbst der unbedeutenden Sowjetrepubliken, stellt für den Imperialismus eine tödliche Bedrohung dar... Hieraus ergibt sich die Unvermeidbarkeit des Kriegs zwischen den großen imperialistischen Staaten und den Sowjetrepubliken...” Und in seinem Artikel PERSPEKTIVEN vom Dezember 1921 meint der VATER DER VÖLKER, die Bourgeoisie könne “ihre” Arbeiter nicht brechen, solange Russland nicht gezähmt sei. Die Bourgeoisie bereite sich gründlicher als jemals zuvor auf ene neuerliche Offensive vor, weshalb der Aufbau und der Schutz der UdSSR unbedingt notwendig seien. Stalin selbst hat am klarsten die inneren und äußeren Motive dargelegt, die das Regime (das gleichzeitig die Überwindung aller bisherigen Grenzen proklamierte!) zur globalen Autarkie und zum Abbruch aller Beziehungen mit der Außenwelt bewogen haben.

DRITTER SATZ

Nach all den Repressalien der 30er und 40er Jahre und den “ethnischen Säuberungen” in der Nachkriegszeit wurde schließlich im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet eine ENTEIGNUNGSZONE gebildet. Beiderseits der Grenze entstand eine sogenannte STERILE DICHTUNG, welche die gegenseitige Anziehung auf ein Minimum reduzieren sollte. Außerdem pflegte das Sowjetregime zur psychologischen Unterstützung der gewaltigen Grenzbefestigungen sorgsam die alten hässlichen nationalen Klischees: Für Ukrainer mit mehr proletarischer Gesinnung wurde der Mythos vom BOURGEOISEN POLEN aus den 20er und 30er Jahren aufbereitet; für die mehr national engagierten Ukrainer genügte schon die Erwähnung des Krieges von 1919/20 und der späteren SANIERUNG und PAZIFIZIERUNG. In den 40er und 50er Jahren hat man dann den Stacheldraht an der Grenze zusätzlich mit Erinnerungen an die polnisch-ukrainischen Kriegs- und Nachkriegs-Kämpfe und an die Operation WEICHSEL noch einmal psychologisch aufgeladen. Nicht zu vergessen, dass sehr viele Menschen, die kraft ihrer intellektuellen Potenz und Beweglichkeit nach Wegen zu Verständigung und Annäherung hätten suchen können, entweder getötet oder deportiert waren und also spürbar fehlten.

Für einen Durchschnitts-Ukrainer war es nicht leicht, in der damaligen Situation klare Orientierung zu finden. Einmal hörte er von der üblichen Sowjetpropaganda, die Polen seien Feinde, weil HERREN, SCHLACHTA, GROSSGRUNDBESITZER oder auch einfach WEISSE und also KONTERREVOLUTIONÄRE, ein andermal erfuhr er von seinen älteren Landsleuten (meistens Sympatisanten der ukrainischen nationalistischen Guerilla- und Untergrundbewegung), die Polen seien uns prinzipiell feindselig gesonnen und überhaupt, sie hätten uns doch “Peremyschl und Jaroslav weggenommen...”

CODA

Als vor beinahe dreißig Jahren, so erinnert sich der russische Publizist Andrej Fadin, Tausende Sowjetmenschen ohne die geringste Ahnung von der politischen Situation, ja, vom Leben überhaupt, einem herrischen, aber kläglich begründeten Befehl gehorchend, die Grenze der damaligen Tschechoslowakei (die man von Kind auf als brüderlich und verbündet kannte) überschritten, diente den Polit-Offizieren (die eine hermetische Ideologie zusammen zu flicken und mögliche eventuelle Zweifel an Befehlen zu zerstreuen hatten) als Hauptargument weniger die übliche These vom SCHUTZ DES SOZIALISMUS, als vielmehr die knallige Formel: “Wenn wir es nicht tun, dann machen es die anderen!”.

Man sagte den blutjungen Soldaten aus der vordersten Staffel, sie würden schon bei Prag auf westdeutsche und amerikanische Panzer stoßen. Alle Zeugen der damaligen Ereignisse bestätigen, dass die Formel ihren Zweck durchaus erfüllte.

Ein Klima von internationaler Verständigung und Toleranz wird über viele Generationen hin herausgebildet, aber es genügen dann wenige unüberlegte Schritte, um das Erreichte wieder zugrunde zu richten. Da zeigt sich dann, was für eine wunderbare INTERNATIONALE FREUNDSCHAFT das war – ein Koloss, hohl, und auf tönernen Füßen.

(aus dem Ukrainischen von Chrystyna Nazarkewytsch)

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N12 / 1998

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1997