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Anna Veronika Wendland

Der Metropolit. Ein Versuch ueber Andrei Scheptyc'kyj

Kolossal, burgähnlich, festungsartig, gleichzeitig aber leicht, voller Grazie, fast schwungvoll ist dieser Heilige Jur. Und er schwimmt über unserer Stadt und schwimmt über unserer Jugend wie ein über den Wolken segelndes Hochzeitsschiff. Besonders begeistert er im Frühling, wenn er das üppige Grün der Parks und blühenden Obstgärten überragt, die an sanften Hängen die niedrigen Geschosse der Kathedrale umgeben. Beweihräuchert mit allen Düften der freigebigen Lemberger Primavera, schwingt sich dieser Tempel zu den Wolken empor wie ein Symbol himmlischen Triumphes über die Plagen irdischen Daseins... Und dicht daneben, auf dem Rasen des Kathedralenhügels weiden fröhlich die Pferde. Ich dachte mir, das seien die eigenen Rosse St.Jurs, des Patrons der Kathedrale, sie stärken sich auf der städtischen Wiese, doch ich irrte mich. Es waren Pferde aus dem erzbischöflichen Stall, sie zogen die Equipage Seiner Eminenz des Metropoliten Szeptycki, des Enkels von Aleksander Fredro.
Józef Wittlin: Mein Lemberg, 1946.

“Mein” Lemberg, die ukrainische Großstadt L’viv, in der ich gut eineinhalb Jahre gewohnt habe, ist längst über den Sankt-Jur-Hügel hinausgewachsen. Blickt man aber vom gegenüberliegenden Schloßberg über das Stadtzentrum hinweg, so hat man Wittlins Bild unverändert vor Augen: Die dem Heiligen Georg geweihte Kathedrale, die Bischofskirche der griechisch-katholischen Metropoliten von Galizien, schwebt über der Stadt, hält immer noch Distanz zum Getriebe der engen Straßen in der Stadtmitte. Wer sich aufmacht und den Sankt-Georgs-Berg besteigt, wird dort auch einen Teil der Obstgärten noch vorfinden, nun allerdings überrragt von einer militärischen Antennenanlage, die die sowjetischen Herrscher der Stadt beschert haben. Der Barockbau der Kathedrale, das “Symbol himmlischen Triumphes” an der städtischen Peripherie war lange Zeit auch Symbol für die prekäre irdische Lage der Lemberger Ukrainer: in der Stadt, die sie einst gegründet hatten, waren sie unter der Herrschaft polnischer Könige und österreichischer Kaiser im Lauf der Jahrhunderte an den Rand gedrängt worden. Als Andersgläubige, “Schismatiker”, mußten sie in den Vorstädten siedeln und durften keine hohen Ämter in der Stadt bekleiden; ab dem späten sechzehnten Jahrhundert waren sie “Uniaten”, die zwar formal dem Vatikan unterstellt waren, aber ihrem orthodoxen Ritus treu blieben und aus diesem Grunde nie die gleichen Rechte genossen wie die Katholiken. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die ukrainischen Bewohner Lembergs eine kleine Minderheit in einer polnischen Stadt. Aber dieses polnische Lwów war auch ihr ukrainisches L’viv, die alte Fürstenstadt “ihres” Ostgalizien, dem Teil der seit 1772 österreichischen Provinz, in dem sie die Bevölkerungsmehrheit stellten. Lemberg wurde im Zuge des allmählichen Aufschwungs ihres kirchlichen und kulturellen Lebens seit Ende des 18.Jahrhunderts zu ihrer unbestrittenen Hauptstadt, auf die sie immer wieder Anspruch erhoben. Hier konzentrierte sich die schmale ukrainische Intelligenzschicht, hier hatten die wichtigsten ukrainischen Institutionen ihren Sitz. Hier brachten im Revo-lutionsjahr 1848 nicht nur polnische, sondern auch ukrai-nische Patrioten ihre Forderungen nach Bürger- und Nationalitätenrechten vor. Ostgalizische Dorfpfarrer trugen die Lemberger Parolen in die Provinz, hielten vor ihren Bau-erngemeinden Reden, in denen sie das Frankfurter Paulskirchen-Parlament rühmten – zum Ärger und Entsetzen der polnischen Grundherren. Die Geschichte jener angeb-lich “geschichtslosen” Nation beginnt eben nicht erst 1991.

Lemberg war aber auch immer der religöse Mittelpunkt der galizischen Ukrainer. In einer Zeit, in der die ukrainische gebildete Schicht zu neunzig Prozent aus Geistlichen bestand, spielte die “griechisch-katholische” Kirche, wie sie seit den Zeiten Maria Theresias und Josephs II. hieß, eine zentrale politische Rolle. Der Metropolit, der gleichzeitig Bischof von Lemberg war, fungierte als höchster Repräsentant der “Ruthenen”, wie die Ukrainer damals genannt wurden. Geistliche spielten bis ins zwanzigste Jahrhundert eine wichtige Rolle in der ukrainischen Nationalbewegung, zunächst als politische Führer, später, als die weltliche Intelligenz die Kleriker abzulösen begann, vor allem als Multiplikatoren und Fußsoldaten der Bewegung auf dem flachen Lande. Auch die jüngere Generation ukrainischer Aktivisten stammte zumeist aus griechisch-katholischen Pfarrhäusern. Entsprechend gerieten die ukrainischen Pfarrer und ihre Kirchenleitung des öfteren in Frontstellung zu den Behörden – und zu den galizischen Polen, die am meisten von der seit 1867 geltenden Quasi-Autonomie des Kronlandes Galizien profitierten. Dieser Konflikt eskalierte erstmals in den achziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die galizischen Landesbehörden und das Wiener Zentrum führenden politischen Aktivisten einen Hochverratsprozeß anhängten und im Verein mit dem Vatikan eine großangelegte Säuberungsaktion in der ukrainischen Kirche vornahmen – mit der Begründung, “staatsgefährliche” russophile Tendenzen bekämpfen zu müssen. Insbesondere beunruhigte die Behörden, daß sich innerhalb der Kirche eine Bewegung gebildet hatte, die für ein ausgeprägtes ostkirchliches Profil stritt, um dem übermächtigen Druck des privilegierten polnischen Katholizismus ent-gegenzuwirken. Die Zielvorstellung der “Ritusbewegung”, wie man sie damals nannte, war die Schaffung einer starken, unabhängigen ukrainischen Nationalkirche, die Fürsprecherin ihres im eigenen Land rechtlos gemachten Kirchenvolkes sein sollte. Ein zugegebenermaßen ehrgeiziges Projekt, war doch die griechisch-katholische Kirche selbst ein Zwitterwesen, eine grenzgängerische Institution: der Westkirche unterstellt, dem Ritus nach ostkirchlich; zunächst ein Produkt der Gegenreformation in der polnischen Adelsrepublik, mit Feuer und Schwert den orthodo-xen Ostslawen aufgezwungen, einst erbittert bekämpft von den Vorfahren jener Bauern und Priester, die ihr jetzt als letzter nationaler Bastion die Stange hielten. Die Mehr-heit der politisch engagierten Ukrainer, die übrigens zu jenem Zeitpunkt eher antirussisch als russophil eingestellt war, empfand die staatliche Intervention als brutale Einmischung mit dem Ziel, diese Bastion – und in ihrem Gefolge auch Schule, Sprache, Schrift – zu polonisieren und zu latinisieren. Dies wurde als große Bedrohung empfunden in einer Zeit, als die ukrainische Parlamentsrepräsentanz durch ein Klassenwahlrecht kleingehalten wurde und die Wahlen in der Regel durch eine unheilige Allianz aus Großgrundbesitz, Polizei, Justiz und Beamtenschaft zuungunsten der Ukrainer manipuliert wurden.

So sah die Situation im Lande aus, als Roman Graf Szeptycki, Sproß einer ukrainischstämmigen polnischen Adelsfamilie, Doktor der Rechte und Reserveoffizier, sich zur Verwunderung seiner Verwandschaft entschloß, Priester zu werden – und außerdem zur griechisch-katholischen Kirche, zum “Glauben der Vorfahren” zu konvertieren. Der Vorfahren? Genau das war der Streitpunkt in der Familie Szeptycki. Romans Mutter war eine Tochter des berühmten polnischen Dramatikers Aleksander Fredro, nach dem übrigens bis heute in Lemberg eine Straße benannt ist; einer seiner Brüder wurde polnischer General. Väterlicherseits allerdings konnte sich Roman auf leuchtende Vorbilder berufen: schon im achtzehnten Jahrhundert hatte die Familie hohe Würdenträger der ruthenischen Kirche hervorgebracht. Der spätere Metropolit sagte stets, er habe zeit seines Lebens in beiden Welten gelebt: in der geliebten und vertrauten polnischen Kultur seiner unmittelbaren Familie, in der ukrainischen seiner ostgalizischen Umgebung und “seines” Kirchenvolks. Die Ukrainer wiederum, in deren Kreis Roman Szeptycki mit seiner Konversion zurückkehrte, quittierten seine Grenzüberschreitung zunächst mit tiefem Mißtrauen. “Polnischer Graf” nannten sie ihn, als er – nun schon unter dem Ordensnamen Andrej – innerhalb des Basilianerordens Karriere machte, im Alter von vierunddreißig Jahren bereits auf einen Bischofsposten berufen wurde und 1901 schließlich das Metropolitenamt antrat. Später sollte ein einflußreicher Petersburger russischer Nationalist in einem Artikel der Londoner TIMES schreiben, der galizische Metropolit sei “ein ehemaliger Kavallerieoffizier”. Man nannte Titel und Vorleben nicht von ungefähr: Szeptytcki galt vielen zunächst als polnischer Agent, der die ukrainische Kirche von innen heraus auf die gewünschte Linie bringen sollte.

Zwar bewies der Grenzgänger auf dem Sankt-Georgs-Berg immer wieder durch sein energisches Eintreten für ukrainische Belange, daß er im Zweifelsfalle für die ihm anvertrauen Gläubigen, gegen seine Familien- und Klassensolidarität zu entscheiden bereit war. Andererseits war sein Verhältnis zur ukrainischen Nationalbewegung bis zum Ersten Weltkrieg fragil. Der Metropolit war nicht willens, seine in tiefer Frömmigkeit wurzelnden Wertvorstellungen der Raison einer Nationalidee zu opfern. Als im April 1908 des galizische Statthalter Andrzej Potocki durch die Kugel eines jungen ukrainischen Nationalisten starb, war Szeptycki der einzige ukrainische Würdenträger, der durch seine Verurteilung das Schweigen brach und die klammheimliche Freude störte, die sich in der Nationalpartei breitgemacht hatte – Anlaß für etliche, ihn als Apostaten zu brandmarken. Auch in kirchlichen Belangen entschied er nicht immer nach dem Gusto der Nationalukrainer: anstatt die immer noch bedeutende, besonders in der älteren Generation der Geistlichkeit starke russophile Strömung innerhalb der Kirche mit allen Mitteln zu bekämpfen, propagierte er die Aussöhnung der politischen Lager und verbot ukrainisch-nationalgesinnten Pfarrern, in Gemeinden von russophieln Amtsbrüdern um Anhänger zu werben – Anlaß für schlimmste Vorwürfe seitens der Nationalisten.

Dieses Vorgehen Andrej Szeptyckis war die Konsequenz aus einem Grenzgang ganz anderer Art. Szeptycki gehörte nicht zu jenen, die die ostkirchliche Bewegung unbesehen als prorussisch – weil pro-orthodox – verdammten. Er sah in der Stärkung des ostkirchlichen Profils seiner Kirche vielmehr einen Weg, um auch die Orthodoxen Gläubigen jenseits der galizischen Ostgrenze, in den unter russischer Herrschaft befindlichen ukrainischen Gebieten zu erreichen. Seine große Vision war die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit der Ukraine – die der nationalen Einigung vorausgehen sollte und außerdem ein Ansatzpunkt zur Überwindung der jahrhundertelangen Glaubensspaltung zwischen Ost- und Westkirche sein sollte. Allerdings bezeichnete er seine “Orthodoxie” als Orthodoxie der Glaubensinhalte, die mit der Bürokraten- und Staatskirchen- Orthodoxie Rußlands nichts gemeinsam habe. In Verfolgung seiner Vision überschritt Szeptycki auch ganz real existierende Grenzen: er reiste 1908 inkognito ins Russische Reich, um dort für seine Idee zu werben. Später mußte er die russische Grenze gezwungenermaßen nochmals überschreiten: die russischen Besatzer Galiziens deportierten ihn im September 1914 in ein russisches Kloster, weil sie um seine Rolle als geistlicher und geistiger Führer der galizischen Ukrainer wußten und ihn als Unruhestifter in der neuerworbenen Provinz fürchteten.

Erst jetzt, in der Zeit des Großen Krieges, gelang es Metropolit Szeptycki, die letzten Vorbehalte der ukrainischen Bewegung gegen ihn zu zerstreuen. Deren großes Ziel – die Errichtung eines geeinten unabhängigen Staates aus den ukrainischen Territorien Österreich-Ungarns und des russischen Reiches – unterstützte er nun vorbehaltlos. Als die Ukrainer angesichts der Übermacht wechselnder Gegner militärisch-politisch schon gescheitert waren, verfolgte der Metropolit eine rastlose Reisediplomatie, um die Rechte der Ukrainer insbesondere bei den Alliierten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Als die Dnjepr-Ukraine im Bürgerkrieg zerrissen wurde und die Regierung der galizischen Westukrainischen Volksrepublik längst ins Exil gedrängt war, erfüllte der Metropolit wiederum die Funktion eines Führers und Fürsprechers aller Ukrainer, die weit über seine konkreten kirchlichen Kompetenzen hinauswies. Dieser Rolle blieb er auch treu. als die polnische II.Republik ihre Herrschaft über Ostgalizien stabilisierte, allen Versprechungen zum Trotz dort die Rechte der ukrainischen Bevölkerung sukzessive beschnitt und ihre Politik auch mit Militärterror durchsetzte. Daneben focht Septycki aber immer wieder für eine polnisch-ukrainische Aussöhnung. Und erneut war er der “Rufer in der Wüste”, der angesichts der Gegenterror-Akte ukrainischer Nationalisten die Verkommenheit einer Idee anprangerte, die alle moralischen Bedenken über Bord warf, wenn dies nur der nationalen Sache diente. Der OUN-Parole NACIJA NAD USE! (Die Nation über alles!) hielt er sein Predigtwort: DU SOLLST NICHT TÖTEN! engegen.

Die Momente jedoch, in denen Szeptycki den Grenzgang aufgab und Partei wurde, waren auch die dunlen Augenblicke in seinem politisch-religiösen Leben. Sein übernationales Denken und sein christlicher Glaube bewahrten ihn nicht vor schwerwiegenden Fehleinschätzungen. Szeptycki hatte immer politischen Loyalitäten ihre Grenzen zugewiesen, sich politische Einmischung in Kirchendinge verbeten – sein Selbstverständnis war nicht das eines Politikers. Allerdings hielt er diese Linie, zum Schlechten für seine Kirche, nicht immer durch. So stand auch für ihn, den Adels-Konservativen, in der Kriegs- und Nachkriegszeit der Hauptfeind links, was ihn dazu verleitete, verhängnisvolle Koalitionen zu befürworten. 1918 hatte er das von deutsch-österreichischen Militärs in der Dnjepr-Ukraine installierte reaktionäre Skoropadskyj-Regime unterstützt, weil es ihm der vielversprechende Ansatz für den Aufbau einer ukrainischen Eigenstaatlichkeit zu sein schien. Daß es keinerlei Rückhalt in der geschundenen Bevölkerung hatte, erkannte er nicht. In den dreißiger Jahren äußerte er sich mehrfach zu den politischen Vorgängen im fernen “Westen” – aber nicht dem Aufstieg Nazideutschlands galt seine Besorgnis, sondern der Tatsache, daß auch gemäßigte Kräfte antifaschistische Bündnisse mit

Kommunisten ins Auge fassen könnten, was der Metropolit entschieden ablehnte. Hitlers Regime galt als das kleinere Übel. Das war noch verständlich angesichts der weiten Entfernung von Deutschland und vor dem Hintergrund der Nachrichten aus der sowjetischen Ukraine, wo das Stalin-Regime Millionen von Bauern in eine Hungerkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes trieb und eine ganze Generation ukrainischer Intelligenzler liquidierte – was die linken Unterstützer der Sowjetunion im Westen kalt ließ. Es wurde unverzeihlich, als die deutsche Invasion im Juni 1941 das seit 1939 sowjetisch besetzte Ostgalizien überrollte. Nun konnten alle Ukrainer, die Augen hatten zu sehen, Klarheit über den Charakter der deutschen Herrschaft erlangen.

Auch Szeptycki begrüßte die Deutschen als Befreier, wie die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Bald mußte er die Erfahrung machen, daß moralische Appelle die ukrainische Gesellschaft nicht aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der galizischen Juden aufrüttelten. Seine zornige Beschwörung des alttestamentarischen DU SOLLST NICHT TÖTEN! vermochte nicht zu verhindern, daß Ukrainer zu “willigen Vollstreckern” der deutschen Mörder wurden. Es blieb beim riskanten, aber wirkungslosen Versuch, gegen den Judenmord zu protestieren und um die Nichtverwendung ukrainischer Polizeikräfte in deutschen “Aktionen” zu bitten. Sezptyckis unbestrittene Verdienste bei der Rettung von Juden und Polen stehen im Schatten seiner Versuche, die erträumte ukrainische Staatlichkeit und Kircheneinheit auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal Nazideutschlands zu verbinden. Seine ersten Avancen gegenüber den Besatzern zeugen von der Fehleinschätzung, der viele Ukrainer erlagen, wenn sie vermeinten, daß die repressive deutsche Ukrainepolitik mit Zwangsarbeiter-Deportationen, Massenmord, Aushungern der Städte, Ausplündern des Landes nur einem “Versehen” entsprang, auf das man die deutsche Führung aufmerksam machen könnte.

Als der Untergang absehbar war, blieb Szeptycki bei seiner Zweckkoalitions- Aussage. Und so wurde der kirchliche Segen für die Aufstellung der später an der Front verheizten ukrainischen Waffen-SS-Division “Galizien” – feierlich ausgesprochen während eines Gottesdienstes in der Georgskathedrale – zum üblen Symbol einer Verirrung, der letztendlich auch der große Metropolit erlegen war. Seine Welt, in der das Wort eines Metropoliten noch etwas auszurichten vermochte, war längst zusammengebrochen; letztes Fanal dieses Zusammenbruchs war der Blutrausch der letzten Kriegsmonate, als polnische und ukrainische Partisanen verschiedener Provinienz zwischen den Fronten ihre eigenen Rechnungen aufmachten – um den Preis tausender Todesopfer unter der (diesmal vorwiegend polnischen) Zivilbevölkerung. Szeptycki erlebte noch die sowjetische Besetzung Lembergs im Juli 1944, die er zuletzt, ähnlich wie die Installierung der polnischen Herrschaft über Ostgalizien nach 1918, als notwendiges Übel und Garantie für ein Ende der blutigen Anarchie guthieß. Sie wurde zum Anfangspunkt für eine neue Runde “ethnischer Säuberungen”, in deren Verlauf das Grenzland Galizien, das Szeptyckis Heimat gewesen war, endgültig unterging.

Der große Metropolit starb im November desselben Jahres, und seine Beisetzung wurde der letzte öffentliche Auftritt seiner Kirche, die kurz darauf von den sowjetischen Behörden verboten wurde. Tausende von Blutzeugen, von Deportierten und Schikanierten sind die Bilanz der langen Verfolgungszeit, die nun einsetzte und die erst vor einigen Jahren mit der Legalisierung der griechisch-katholischen Kirche endete. Es war ungefähr zur gleichen Zeit, als ich zum ersten Mal nach Lemberg kam. Gerade hatte der russisch-orthodoxe Klerus, der 1946 die Kirche Szeptyckis beerbt hatte, die Gebäude auf dem Sankt-Georgs-Berg räumen müssen; ähnliche Szene spielten sich im ganzen Land ab, begleitet von schweren Zusammenstößen zwischen orthodoxen und griechisch-katholischen Gläubigen. Das sture, selbstgerechte Beharren auf liebgewordenen Pfründen und das fehlende Unrechtsbewußtsein der russischen Orthodoxie, die sich zum willigen Instrument der sowjetischen Repressionspolitik in Galizien hatte machen lassen, kennzeichnete das eine Lager. Nicht weniger unversöhnlich waren die gerade aus den Katakomben aufgestiegenen Grekokatholiken, deren viele nun nach Vergeltung für das angetane Unrecht riefen. Auch jetzt gab es keinen Spielraum für Grenzgänger, und auch gegenwärtig weist nicht viel darauf hin, daß sich Orthodoxie und griechisch-katholische Kirche in Galizien näherkommen könnten. Die nonkonformistischen Versuche Szeptyckis, Grenzen einzureißen, sind größtenteils vergessen; heute ist der “polnische Graf” eine westukrainische National-Ikone, und seine heftigen Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Bewegung sind allenfalls Thema für die Fachliteratur.

Die Zeit der Doppelidentitäten und Grenzexistenzen scheint unwiderruflich vorbei. Alte Grenzen mögen 1989 oder auch 1991 gefallen sein – die neuen stehen schon und erfüllen ihre Aufgabe. In absehbarer Zeit wird die Ostgrenze der Festung Europa vermutlich zwischen den Partnerstädten Przemysl und L’viv verlaufen, nahe der alten Demarkationslinie zwischen dem Ost- und Westteil k.k.Galiziens, mitten durch Szeptyckis einstige Metropolie. Grenzgänger mit eigenen Geschichten und Schicksalen, die von Galizien noch nie gehört haben dürften, werden an ihr aufgehalten und in “sichere Drittstaaten” abgeschoben werden. Unendlich schwer fällt das Beharren auf Grenzüberschreitung in einer solchen Zeit. Szeptyckis Welt ist nicht mehr, es sei denn, sie lebe in der Vorstellung und vielleicht auch in der Arbeit einiger Weniger weiter – die immer zwischen den Stühlen sitzen werden. Ihnen bleibt einstweilen nur, wie Józef Wittlin den Geist des Unwiederbringlichen zu beschwören. Der polnisch- jüdische Schriftsteller imaginierte die längst nicht mehr lebenden Bewohner seiner Stadt Lemberg-Lwów-L’viv als Teilnehmer einer Schatten-Prozession auf der berühmten Flaniermeile zwischen Oper und Mickiewicz-Denkmal: “Im Tod verbrüdert, haben sich Feinde untergehakt wie Freunde... Die schweigsamen Schatten schieben sich bis ans Stadttheater, drehen um und fließen auf die Akademicka-Straße. Und so ohne Unterlaß: voran und zurück, voran und zurück – bis ins Unendliche – bis ans Ende aller Tage.” Unschwer erkennen wir in der Menge den ukrainischen Metropoliten Andrej, den polnischen Konvertiten Roman Graf Szeptycki.

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N12 / 1998

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1997