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Taras Wozniak

Modelle des polnisch-ukrainischen Zusammenseins: Rueck-und Ausblick

Wenn wir uns mit den Modellen der polnisch-ukrainischen Koexistenz beschäftigen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was gemeint ist,und um welche Art von Beziehungen es sich handelt: um zwischen-staatliche oder um zwischen-ethnische. Die Existenz zwischen-staatlicher Beziehungen setzt die Existenz von mindestens zwei Staaten voraus. Normalerweise aber gab es in dieser Region keine Staaten, bzw. wenn doch, dann waren diese in ihrer Souveränität durch die Großmächte derart eingeschränkt, daß man kaum von einer selbständigen Staatlichkeit sprechen kann (Stichwort: Die Teilungen Polens). Unmöglich konnten also die polnisch-ukrainischen Beziehungen allein durch die soziale und politische Ordnung von Staaten bestimmt werden. Über lange Perioden (z.B. DIE REPUBLIK ZWEIER VÖLKER oder die UNION DER SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIKEN) bezogen sie sich auch nicht auf ethnische Merkmale, sondern auf dynastische, standespolitische oder ideologische (imperiale und/oder kommunistische) Grundlagen. Nach und nach traten diese Grundlagen im gesellschaftlichen Bewußtsein (nicht ohne Mithilfe von Historikern und Ideologen) dann in den Hintergrund, und das jeweilige staatliche Gebilde würde künstlich nur noch mit einem der Völker identifiziert. So hat man z.B. DIE REPUBLIK ZWEIER VÖLKER nur mit dem polnischen Volk identifiziert und Litauen und andere Völker, die am Aufbau und Funktionieren dieses politischen Konstrukts beteiligt waren, unterschlagen. Noch schwieriger ist die Sache im Fall der Sowjetunion. Allerdings ist das gesellschaftliche Bewußtsein noch nicht bereit, diese politisch äußerst aktuelle Frage vorurteilsfrei zuzulassen. Halten wir jedenfalls fest: Perioden der zwischenstaatlichen Beziehungen wurden immer wieder abgelöst von Perioden einer ethnischen außerstaatlichen Koexistenz oder aber einer Periode der Okkupation, in der eines der Völker seine Staatlichkeit einbüßte.

1.

Zu den Perioden mit zwischen-staatlichen Beziehungen zählt die Zeit der Frühentwicklung beider Staaten vom 10.Jahrhundert bis 1387 - hier die KIEWER RUS unter der RURIKIDEN-Dynastie, dort das Polen der PIASTEN. Die Koexistenz fand statt zwischen den Dynastien, die ethnische Zugehörigkeit bestimmter Regionen war (besonders in den Grenzgebieten) unbestimmt labil oder gemischt. Für die gesellschaftliche und politische Strukturierung spielte das Vasallen-Lehn- System eine sehr wichtige Rolle, zunehmend aber auch der religiöse Faktor, insbesondere nach dem großen Schisma.

Zur selben Zeit gab es aber auch Perioden, in denen ein Volk oder beide Völker zugleich ihre Staatlichkeit verloren, sowie Perioden der Annexion, wobei die annektierte Seite meistens die Ukraine war. Diese Perioden waren nicht unbedingt immer durch Konflikte gekennzeichnet, und sie entwickelten sich auch nicht notwendigerweise nach dem Paradigma des gegenseitigen Nicht- Akzeptierens. Solch eine verhältnismäßig ruhige Periode war z.B. die von der POLNISCH LITAUISCHEN UNION bis zum Beginn der Gegenreformation, als noch keine übermäßige religiöse Verfolgung und auch noch keine Massenexpansion des polnischen Adels stattfanden. Erst später begann der Adel ("Adel ohne Raum") im damals noch nicht allzu großen Polen unter dem Mangel an freiem Raum zu leiden.

2.

Das Haupt-Paradigma für die Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen in der polnischen Republik war das der relativen Lebensautonomie der verschiedenen Landesteile, die nur durch eine übergeordnete Dynastie miteinander verbunden waren. Nach dem Verlöschen der JAGIELLONEN-Dynastie hingegen, die noch für religiöse Toleranz stand (nicht nur der östlichen Kirche gegenüber, sondern auch dem damals in Polen weit verbreiteten Protestantismus), kam die Zeit der Gegenreformation und mit ihr die religiöse Intoleranz und die vom Missionseifer kaum verhüllte wirtschaftliche Expansion. Es entstand ein neues Ideologem, das des Gegensatzes zwischen KATHOLISCH und ORTHODOX, das zum neuen Modell der polnisch-ukrainischen Beziehungen wurde. Dieses Modell hatte mehrere Varianten: Kampf gegen das Ost-Schisma versus Rettung des rechten orthodoxen Glaubens; das Recht der Schlachta versus das Recht der Kosaken.

Dabei fühlten sich nicht nur Bauern und Stadtbürger benachteiligt, sondern auch die genuine ukrainische Kosaken-Führung, die damals die oberen Schichten der ukrainischen Gesellschaft repräsentierte und noch nicht der kulturell- religiösen Assimilation zum Opfer gefallen war.

Die Beziehungen des ukrainischen Kosakenstaates unter CHMELNYZKYJ und der Republik Polen in der kurzen Zeit zwischen 1648 und 1667 waren nach dem Vasallen-Lehn-System, so wie man es in diesem Staat verstand, aufgebaut. Aber dem königlichen, "von Gott gegebenen" Recht hatte die ukrainische Gesellschaft nichts entgegenzusetzen außer den Standes-Privilegien des Kosakenvorstandes und des ukrainischen Adels, die allerdings ihrer Meinung nach sowohl vom König als auch von der römisch-katholischen Kirche verletzt worden waren. Das Modell dieser zwischenstaatlichen oder vielmehr para-quasi-zwischenstaatlichen Beziehungen richtete sich nach einem monarchistischen und (spezifischen) Standesparadigma, das zu verletzen selbst Bohdan Chmelnizkyj keinen Mut fand. Er konnte weder das heilige Monarchen-Recht usurpieren, noch wie Cromwell dem König den Kopf abhacken, noch die ukrainische Gesellschaft zu einer Ständerepublik emanzipieren, welche damals die Ukraine hypothetisch durchaus hätte werden können. Im Gegenteil, er suchte immer weiter nach einer Union mit einem legitimen "von Gott eingesetzten" Monarchen, denn er war im Grunde kein Reformator, sondern wirklich nur ein Rebell im Rahmen eines traditionellen Paradigmas. Deshalb suchte er auch eine Rechtfertigung für seine Rebellion in Form einer neuen Unterwerfung unter "seinen rechtmäßigen orthodoxen" Souverän. Die Betreuung durch den Moskauer Zaren gedachte er mit einem Vertrag zu regeln, den er ähnlich wie den Vertrag mit dem König der Polnischen Republik verstand, demnach sich der König und die Untertanen gegenseitig den Treueschwur leisten. Chmelnizkyj stieß aber auf eine typisch asiatische Despotie, denn der Zar verpflichtete sich niemandem gegenüber und zu gar nichts.

3.

Für lange Zeit blieb der Gegensatz Katholisch/Orthodox auf dem größten Teil des ukrainischen Territoriums aktuell. Aber letzten Endes führte dieses Paradigma nicht nur zu den CHMELNIZKIJ-KRIEGEN, sondern gab auch den Anstoß zur Teilung Polens, und nachdem die Aussichtslosigkeit dieses Gegensatzes für eine Form der Koexistenz unübersehbar wurde, begann man nach einem neuen Paradigma, einem Modell zur Rettung Polens sowie der polnisch-ukrainisch- litauischen Einheit zu suchen. Man sprach vom Aufbau einer Republik nicht mehr zweier, sondern dreier Völker, d.h. also unter Einschluß der ruthenischen, ukrainischen Komponenten. Auf die vormalige Föderation der polnischen Krone mit dem litauischen Großfürstentum sollte nunmehr eine Dreier-Föderation folgen. Diese Idee tauchte immer mal wieder auf, verschwand in der Versenkung, kam wieder ins Gespräch, aber niemals ist daraus ein staatlicher Ansatz zur Rettung des Landes geworden. Schließlich endete diese Periode im Jahr 1795 mit der endgültigen Teilung der Polnischen Republik. Gewinner war die Gegenreformation der römisch-katholischen Kirche, Verlierer das staatliche Interesse der Polnischen Republik.

Ein besonderer Versuch, die polnisch-ukrainischen Beziehungen irgendwie anders zu entfalten und den Widerspruch Katholisch/Orthodox aufzuheben, war die UNION (Brest, 1595, u.a. initiirt von dem Fürsten Ostrosky), welche je nach den verschiedenen Perioden ihrer fast 400jährigen Geschichte als gelungenes oder mißlungenes Modell gelten kann. Es gab sehr viel guten und sehr viel bösen Willen.

Nach der Teilung Polens transformierten sich die polnisch ukrainischen Beziehungen in die Beziehungen zweier Ethnien ohne Titel zu zwei Weltmächten, nämlich Russßland und sterreich. Und auf den genuin ukrainischen Territorien verwandelten sich die polnisch-ukrainischen Beziehungen in Beziehungen zwischen zwei Ständen, nämlich zwischen der polnischen Schlachta und den ukrainischen Bauern, was dann schließlich zum neuen Paradigma wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war die Mehrheit der ukrainischen Schlachta schon kulturell polonisiert, deshalb wurden auch die ursprünglich ukrainischen Geschlechter schon als polnische wahrgenommen. Die polnischen und ukrainischen Unterschichten (die eigentliche ethnische Mehrheit) hatten untereinander keinen so breiten wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kontakt wie der Adel, sie waren sich fremd und weit voneinander entfernt, und diese Fremdheit wurde nun häufig von beiden Seiten her als Konflikt wahrgenommen und als Konflikt instrumentalisiert. So konnte in jener Periode der Gegensatz zwischen Kosaken/Bauern auf der Ukrainischen und Magnaten/Schlachta auf der polnischen Seite zum Modell werden.

Im 19.Jahrhundert haben die damalige ukrainische Literatur und die Volkstums- Ideologie dieses Modell breit ausgewalzt. Gleichwohl können wir schwerlich diesen Gegensatz schon als einen ethnischen benennen, denn die Mehrheit der Schlachta, obwohl kulturell polonisiert und konfessionell katholisiert (was damals dasselbe war) und dem Land der Vorfahren entfremdet, war dennoch patriotisch "pro-ukrainisch" eingestellt, allerdings eher im territorialen Sinne. Aber der kulturell-religiöse Riß zwischen der Schlachta und den Bauern hatte sich schon ganz grundsätzlich in einen ethnischen Bruch verwandelt, nur daß die Schlachta in ihrer Blindheit diese Entwicklung nicht wahrnehmen wollte und nie verstanden hat, warum die Aufstände der polnischen Schlachta gegen den Zarismus in der Ukraine scheitern mußten.

Mit gewissen Einschränkungen können wir den sozialen Konflikt als einen ukrainisch-polnischen bezeichnen, obwohl man die damalige ukrainische Gesellschaft auch in gewissen Elementen als eine bi- oder tetra-kulturelle verstehen könnte, mit ihren ukrainisch-, polnisch- und damals auch schon russischsprachigen Komponenten.

Jedenfalls hat die sogenannte "polnische" Schlachta in der Ukraine nichts von dem gespürt, was sich in der ethnischen Problematik der neuen Zeiten versteckte, und sie konnte überhaupt nicht die Abneigung begreifen, die ihr aus dem in seiner uralten ethnischen Identität, in seiner Sprache und in seinem Boden verwurzelten Bauernstand entgegenschlug. Trotz aller aufgeklärten Belesenheit war sie nicht bereit, das wahrzunehmen, was die deutschen Romantiker und später auch die Charkower Professoren "den Geist des Volkes, der Sprache und des Bodens" nannten. Sie hat ganz generell die ukrainische nationale Renaissance nicht akzeptiert und wurde folglich aus dem Ukrainertum ausgeschlossen.

4.

Es kamen die modernen Zeiten und die nationalen Ideen, die sich auf die Stereotypen des zwischennationalen Massenbewußtseins stützten. Um die Jahrhundertwende begann das Konstrukt oder Mythologem des Ethnos als Überwert der Einheit zu funktionieren, vielleicht das einzige (denn die Mythologeme des Monarchen, des Souverän, und bei manchen Völkern auch das des gemeinsamen Gottes waren vergessen), das die Hoffnungen jedes Einzelnen noch zu verwirklichen versprach.

Der Kollektivismus wurde verabsolutiert samt seinem wichtigsten Einheits- prinzip, dem sprachlich-kulturellen Faktor. Dementsprechend transformierten sich auch die polnisch-ukrainischen Beziehungen. Zunächst wurden sie para- zwischen-ethnische und dann wirklich zwischen-ethnische, d.h. sie wurzelten tatsächlich in den Stereotypien des Massenbewußtsein.

Innerhalb dieses Paradigmas haben sie sich von der Mitte des19.Jahrhunderts bis heute entwickelt, jedoch in ständig wechselnden Situationen, denn die Ukraine und Polen erlangten und verloren immer wieder ihre Staatlichkeit, wobei der Faktor des Massenbewußtseins und der Massenmanipulation immer stärker wurde. Verschiedenartige Ideologeme haben das Massenbewußtsein beider Völker immer intensiver beeinflußt (und auch die Modelle der polnisch- ukrainischen Koexistenz geprägt), zuerst das Mythologem des VOLKES, dann das des NATIONALSTAATES und erst dann das der POLITISCHEN NATION.

Aber zunächst noch einmal zurück zu den ursprünglichen Mythologemen vom Anfang des Jahrhunderts. In der Ukraine wurde die Idee eines "klassenlosen" ukrainischen, vorwiegend bäuerlichen Volkes, das von den "Fremden" ausgebeutet werde, entwickelt und propagiert. So entstand schließlich der Mythos von der KOSAKENNATION, die im Inneren völlig konflikfrei sei, und die sowohl Polen als auch Rußland als den ganz anderen Gesellschaften mit einer vollkommen anderen Struktur gegenüber stünde. Dieses Mythologem wird zum Massenmythologem und findet Zustimmung und Wiederhall in der ukrainischen kulturell-politischen Oberschicht. Ja, mehr noch, es wird in bestimmten Etappen dominierend und schließlich auch wirksam. Und weiter richten sich die polnisch-ukrainischen Beziehungen nach dem Paradigma der damals modischen sozial-emanzipatorischen Lehre, d.h. gefordert wird Befreiung als parallel stattfindende nationale & soziale Befreiung eines arbeitsamen Volkes von seinem nationalen & sozialen Ausbeuter.

Daneben und häufig mit denselben Mitteln wurde allerdings auch ein komplett anderes Modell geschaffen, das der in Polen nicht sonderlich akzeptierten SLAWOPHILIE, wobei sich daran auch so herausragende Persönlichkeiten aus dem früheren Paradigma beteiligt hatten wie Taras Schewtschenko. Dieses Modell sollte aus einer künftigen slawischen Föderation freier Völker hervorgehen. Da in dieser Föderation Plätze sowohl für Polen als auch für die Ukraine reserviert waren, würden sich also die Beziehungen der beiden Nationen im Rahmen der Föderation entwickeln. Das Modell der Slawophilen wurde nur von einem sehr kleinen Kreis von Intellektuellen der KYRILL-UND-METHODIUS- BRUDERSCHAFT vertreten, es hatte so gut wie keine Zukunftschancen, war jedoch durchaus interessant, weil es ein eigens entwickeltes und auf die Zukunft gerichtetes politisches Modell war, das erstmals wieder nach den früheren Transformations-Plänen (von der Republik zweier Völker zur Republik dreier Völker) den zweiten Versuch darstellte, ein politisches Modell zwischen- staatlicher Beziehungen für eine gesamte Region zu konzipieren, in der Polen und die Ukraine als Bestandteile enthalten wären.

5.

Modern und nun im eigentlichen Sinne zwischenstaatlich wurden die Beziehungen Polens zur WESTUKRAINISCHE VOLKSREPUBLIK (WUVR) und zur UKRAINISCHEN VOLKSREPUBLIK (UVR) in den Jahren 1917 bis 1920. Leider nahmen sie im Falle der WUVR sehr schnell die Form von militärischen Auseinandersetzungen an. Im Falle der UVR hingegen erkennen wir Beispiele einer ziemlich erfolgreichen zwischenstaatlichen Kooperation mit Polen, aus der die Ukraine freilich, im Gegensatz zu Polen, kaum Nutzen zog. Erstaunlicherweise gelang es bekanntlich der polnischen Regierung, für die Annexion der Westukraine (WUVR) die Zustimmung der ostukrainischen Regierung (UVR) zu erlangen Gleichwohl können wir feststellen, daß erstmals die polnisch-ukrainischen Beziehungen in etwa dem Modell moderner zwischenstaatlicher Beziehungen (gleichbleibende Subjekte des internationalen Rechts) entsprachen, und die UVR mußte nun die Beziehungen zu ihren Minderheiten - also auch zu den Polen in der Ukraine - und die Beziehungen zu den Nachbarn - also auch zur Polnischen Republik - regeln.

In dieser Periode entwickelten sich in der Ost- und der Westukraine zwei verschiedene Modelle der polnisch-ukrainischen Beziehungen, im Westen ein völkisch-ethnisches Modell, das sich allerdings nicht zum staatlichen verfestigen konnte, im Osten (UVR) eher ein zwischenstaatliches. Im Verhältnis zu den nationalen Minderheiten entschied sich die Ukrainische Volksrepublik sofort für das Prinzip der national-kulturellen Autonomie, und man kann sagen, in dieser Periode gab es dort keine bedeutenden polnisch-ukrainischen Konflikte ethnischer Natur. Im Bereich der Außenpolitik ist es trotz des polnisch-ukrainischen Krieges in Galizien gelungen, eine Union zwischen der UVR und Polen zu verwirklichen. Aber nach dem Scheitern der UVR, nach der Gründung einer ephemeren UKRAINISCHEN SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIK im Osten und nach dem Verlust von genuin ukrainischem Territorium an Polen im Westen, kam es wieder zu ganz anderen Modellen der polnisch-ukrainischen Beziehungen.

Nachdem der Aufstand im Westen gescheitert war, begann sich dort vor dem Hintergrund aufsteigender faschistischer Tendenzen in ganz Europa die nationalistische Ideologie zu etablieren, und zwar auf der ukrainischen wie auf der polnischen Seite. Der junge ukrainische Nationalismus entschied sich für ein extremes Modell des totalen Kampfes nicht nur gegen den Staat, sondern auch de facto gegen das polnische Volk. So wurde es zumindest auf der Ebene der Ideologeme verkündet. Allerdings versuchten die Parteien der Mitte auch im Rahmen der polnischen Verfassung und mit Berufung auf internationales Recht zu agieren - immerhin verstieß die Regierung ständig und recht brutal gegen die Prinzipien der galizischen Autonomie.

Ein Teil der polnischen Gesellschaft lehnte die ukrainischen Bestrebungen nach Autonomie oder Selbstverwaltung grundsätzlich und ganz entschieden ab, aber die weitsichtigeren und nüchternen politischen Denker, insbesondere aus dem Lager der Pilsudski-Anhänger, versuchten, ein angemessenes Modell, das der JAGIELLONISCHEN POLNISCHEN REPUBLIK zu entwickeln. Aber man vergaß, die potentiellen Adressaten - Ukrainer, Weißrussen, Litauer - über dieses interessante Angebot zu informieren, und letztendlich wurde es ja auch nicht realisiert. Gewonnen hat leider in beiden Lagern, wie an den anderen Orten in Europa auch, das extremistische Modell.

6.

Zur selben Zeit entstand in der Sowjetukraine ein Konfliktmodell auf der Basis der Klassenzugehörigkeit, d.h. die Beziehungen wurden interpretiert nach dem Paradigma der Gegensätze Kommunismus/Kapitalismus bzw. Proletariat/Bourgeoisie, obwohl auch gewisse ethnische Elemente mit im Spiel waren, wenn man z.B. an die Rede von den "Weißpolacken" denkt. Natürlich handelt es sich hier nur um den Teil eines größeren Konstrukts von Beziehungen, nämlich zwischen der Sowjetunion und Polen, zwischen dem angeblich klassenlosen sozialistischen Staat, der weltweit die kommunistische Revolution betrieb auf der einen Seite, und dem "Marionettenstaat der polnischen Herren" auf der anderen Seite. In der ersten Zeit wurde der nationale Aspekt dieses Gegensatzes nicht allzusehr betont, erst später begann man, das Messianische der Idee von der Weltrevolution mit der Formel vom großen russischen bzw. dem "großen sowjetischen Volk" zu verknüpfen, wobei dann Stalin "russisch" und "sowjetisch" ganz bewußt gleichsetzte. Auf der polnischen Seite hingegen wurde von Anfang an der nationale Aspekt betont, das nationale Anderssein, das Polen von Russen und Ukrainern trenne.

Unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg dann zog (mit durchsichtigen Absichten) die Sowjetpropaganda gleich und begründete den Kriegseintritt mit der nationalen Unterjochung der Ukrainer und Weißrussen in der Polnischen Republik.

Von 1939 bis 1944 befanden sich sowohl Polen als auch Ukrainer vollkommen in der Gewalt von Besatzungsmächten und waren nur teilweise Subjekte realer Politik. Die polnische Gesellschaft erlebte die Niederlage Polens als Tragödie und bezichtigte die Ukrainer des Verrats (obgleich schwer auszumachen ist, worin dieser Verrat eigentlich bestanden haben sollte), ja, die Bezeichnung "Ukrainer" wurde quasi zum Synonym für "Verräter", "Bolschewiken-Helfer", "Nazi-Helfer", wie es gerade zu passen schien, und schließlich, nach Beginn des ukrainischen bewaffneten Widerstands gegen Nazis und Bolschewiken, ganz einfach zum Synonym für "Bandit". Spontan wächst zwischen den beiden Völkern (und nicht nur zwischen den politischen Klassen!) eine folgenschwere Entfremdung.

Ein Teil der Ukrainer hegte tatsächlich die illusionäre Hoffnung auf die Restauration des ukrainischen Staates unter deutschem Protektorat, und als diese Erwartung endgültig enttäuscht war, gingen sie in eigener Sache zum Partisanenkrieg über und gründeteten die Ukrainische Aufständische Armee (UPA). Im Gegensatz dazu richteten die polnische Exilregierung in London und die polnische Landesarmee ihre Bemühungen auf die Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1939 und entfalteten mit diesem Ziel ihren eigenen Widerstand auf ukrainischem Territorium. Die Folge: Ein Partisanenkrieg zwischen der polnischen Landesarmee und der ukrainischen UPA in dem von den Deutschen besetzten Territorium. Gleichzeitig führten aber beide Untergrundarmeen auch noch Krieg gegen die Deutschen und gegen die Bolschewiken. In diesen heillosen und unübersichtlichen Krieg aller gegen alle wurde zunehmend die Zivilbevölkerung verwickelt, und es kam zu blutigen "ethnischen Säuberungen".

Das Modell der Beziehungen war in jener Zeit fast ausnahmslos ein harter ethnischer Kampf, verschärft durch das Bewußtsein der Aussichtslosigkeit, denn beide, sowohl die Polen als auch die Ukrainer, konnten in der Tat in geopolitischer Hinsicht über nichts mehr wirklich selbst entscheiden. Die politischen Fühungen unternahmen nichts mehr, um nach einer Verständigung zu suchen, und sie orientierten sich auf die entgegengesetzten Pole des damaligen globalen Widerspruchs: Die Polen auf die westlichen Alliierten und die Sowjetunion, die nationalistischen Ukrainer zuerst auf Deutschland und dann im Grunde nur noch auf sich selbst, und die Ost-Ukrainer, soweit sie sich noch als Ukrainer verstanden, angesichts der deutschen Greueltaten dann doch wieder auf die UdSSR. In den polnisch ukrainischen Grenzgebieten tobte ein zwischen- ethnischer Konflikt, der unzählige Opfer kostete. Dieses damals gültige Modell schloß die Idee der Koexistenz aus. Ganz gewiß ist dieser Konflikt nicht ohne Zutun von außen zustande gekommen (Deutschland, UdSSR), aber der Geist des Konflikts war keineswegs ein externer - in diesem Grenzgebiet selbst herrschten die nationalistischen Stimmen, und auch das Kriegsende änderte nichts wesentliches an dieser Situation.

7.

Die antiukrainischen Stimmungen im angeblich "internationalistischen" Nachkriegspolen und der fortdauernde ukrainische Widerstand (UPA) führten schließlich zu jenen "ethnischen Säuberungen" - hier die AKTION WISLA (WEICHSEL), dort die Aussiedlung der Polen nach Westen, schließlich die Vertreibung der Ukrainer, die zum größten Teil loyale polnische Bürger waren, aus ihren ethnischen Gebieten in die ehemals deutschen Gebiete Schlesien, Pommern usw., und noch im Jahre 1949 wurden Ukrainer verübergehend im ehemals deutschen KZ Auschwitz/Jaworzno interniert. Zur gleichen Zeit dann die endgültige Aussiedlung der gesamten polnischen Bevölkerung aus der Ukraine. Die einen flohen vor dem bolschewistischen Regime nach Westen, die anderen wurden gewaltsam nach Sibirien und Mittelasien deportiert und dort denationalisiert und russifiziert.

Schließlich war es dann soweit, daß kein gemischtes Grenzgebiet mehr existierte, wo Polen und Ukrainer hätten miteinander in Kontakt kommen können. Die Grenzen der UdSSR schlossen sich endgültig für die nächsten fünfzig Jahre, und die polnisch-ukrainischen Beziehungen wurden im Rahmen der sowjetisch- polnischen Beziehungen unter der strengen Aufsicht Moskaus als Beziehungen zweier "brüderlicher" Staaten modelliert.

Im Exil hingegen kam es nach den blutigen Kämpfen der 40er Jahre zu den ersten Dialogversuchen, u.a. dank der polnischen Zeitschrift KULTURA und der ukrainischen SUCHASNIST. Besonders interessant war damals das Konzept eines polnischen politischen Denkers im Exil, Juliucz Miroszewski, der die

künftig möglichen Beziehungen untersuchte zwischen Polen und einem künftig von der russischen Herrschaft befreiten Raum, den er ULB nannte - UKRAINE-LITAUEN- BIELORUS. Sein Konzept setzt keine Revision der Nachkriegsgrenzen Polens voraus, denn er verstand wohl, daß es künftig unmöglich sein würde, Realpolitik auf nationalistischer Grundlage zu betreiben.

In beiden Ländern entstanden Untergrundbewegungen der Dissidenten, die das Problem der zwischen-ethnischen Beziehungen neu, nämlich pluralistisch und demokratisch betrachteten, und schließlich wurden auch alle revanchistischen Pläne, die verlorenen Territorien betreffend, ad acta gelegt. Letzten Endes stand keine polnische oder ukrainische Idee zur Debatte, sondern eine größere, die allgemeine europäische. Außerdem hatte Polen, nachdem es die "Grenzgebiete" im Osten verloren und die "wiedergewonnenen Gebiete" im Westen erhalten hatte, im Grunde seinen geopolitischen Status gewechselt und war aus einem osteuropäischen zu einem mitteleuropäischen Land geworden.

8.

Ein neues Stadium in der Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen begann mit dem Zerfall der UdSSR und seines Satellitensystems. Schon Anfang der 80er Jahre nahmen die Dissidentengruppen untereinander Kontakt auf, wobei die Initiative von den Polen ausging, deren Startbedingungen nun mal bedeutend besser waren. Gekrönt wurde der Versöhnungsprozeß nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung dadurch, daß die Republik Polen als erster Staat überhaupt den neuen ukrainischen Staat anerkannte, und seither können sich die Beziehungen nun endgültig auf einer zwischen-staatlichen Basis entwickeln.

Nunmehr müssen sich beide Staaten über ihren Status und ihre Orientierung in der heutigen Welt klar werden. Die Republik Polen hat das sofort getan. Sie hat sich als mitteleuropäischer Staat definiert und für die europäischen Organisationen und die NATO entschieden. Die Ukraine war gesellschaftlich und politisch zu ähnlichen Entscheidungen noch nicht bereit. Stattdessen wurde, nach russischem Muster und auch aus Trägheit, die eurasische Entwicklungsvariante diskutiert, und erst in der neueren Zeit begann man mehr oder weniger konkret, von einer eindeutigen Integration der Ukraine in die

europäischen Strukturen zu sprechen - immer vorausgesetzt, das wäre in absehbarer Zukunft überhaupt möglich. Aus einer politischen Novität könnte so die Ukraine zu einem der wichtigsten Glieder der mitteleuropäischen Politik werden. Allerdings weiß heute noch niemand, welchen Status das Land innerhalb dieser allgemeinen Strukturen haben könnte. Für die nächsten Jahre wird es wohl auf eine "besondere Art von Partnerschaft" hinauslaufen, was immer das dann konkret bedeuten mag.

Zunächst sollte die Ukraine wenigstens ihre Bewegung in Richtung Europäische Union mit anderen mitteleuropäischen Staaten, also auch mit der Republik Polen, synchronisieren und so die neue Form der polnisch-ukrainischen Beziehungen herausfinden und ausgestalten. Nach dem endgültigen NATO-Beitritt Polens und dem Beitritt zur EU, der zu erwarten steht, sollten sich diese Beziehungen nicht mehr bilateral, sondern im Rahmen von NATO und EU entwickeln. Zu Zeit scheinen beide Länder noch souverän zu sein, aber später wird Polen einen Teil seiner Souveränität an die europäischen Strukturen delegieren und somit seine Politik, also auch die Modelle der polnisch- ukrainischen Zusammenarbeit, mit jenen abstimmen müssen. Andererseits, falls einmal (eine sehr ferne Perspektive) die Ukraine beitritt, dann wäre so etwas wie ein Tandem Polen/Ukraine vorstellbar.

Zur Zeit scheint die Kooperation zwischen beiden Ländern auf Regierungsebene sehr gut zu funktionieren, obwohl beide Seiten offensichtlich verschiedene Ziele verfolgen. Für die Ukraine ist die Zusammenarbeit mit Polen eine ganz reale, durch wirtschaftliche und menschliche Kontakte bestätigte

Alternative und ein Schutz vor russischem Einfluß, und (verglichen mit den Kontakten zu anderen mitteleuropäischen Ländern) man kann sagen, in diesem Fall kann die Quantität der polnisch ukrainischen Projekte tatsächlich in eine neue Qualität umschlagen.

9.

Im Gegensatz zum tatsächlichen Stand der Zusammenarbeit steht es ziemlich schlecht um ein ausformuliertes Konzept, um einen Entwurf auch für eine absehbare Zukunft. Beide Seiten handeln eher situativ, weil sich offenbar die politischen Realitäten in der Region zu schnell verändern.

Es gab allerdings schon einige Versuche, den Gesamtrahmen für die Zusammenarbeit der beiden Länder zu konkretisieren, ich nenne die VISHEGRAD- INITIATIVE, die Idee vom OST-SCHWARZMEER-BOGEN, die ZENTRALEUROPÄISCHE INITIATIVE oder das KONZEPT DREIER MEERE. In allen diesen Modellen war Polen ein zentrales Glied und so eine Art Anführer Mitteleuropas. Und im Laufe der Zeit hat Polen, wo fast alle internationalen nach Osten gerichteten Aktivitäten ihren Sitz haben, diesen Anspruch auch tatsächlich ausgefüllt und ist zum führenden Koordinator der ganzen Region geworden.

Jedoch ist es der mitteleuropäischen Region nicht gelungen, sich als eine geopolitische Einheit auszuformen, und so begann denn zwischen dem Westen und Rußland das Einflußzonen-Spiel.

Solange Polen pragmatisch agiert und sich in Richtung NATO und EU bewegt, nimmt es für Mittel- und Osteuropa die Rolle eines Lotsen nach Westen ein. Manchmal allerdings versucht Polen im Westen eine Art übereifriger Promotor für die ukrainischen Interessen zu spielen, was, wenn der Bogen überspannt wird und Polen schon heute im Namen jenes (gedachten) Tandems spricht, durchaus zu Mißverständnissen in der Ukraine führen kann. Aber dieses möglicherweise künftige Modell kann nur dann effektiv sein, wenn jeder Partner darin seine souveräne Rolle spielt.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollten wir uns darauf einstellen, daß Polen sowohl der NATO als auch der EU beitritt, aber noch vor dem polnischen Beitritt sollte die Ukraine den besonderen breiten und höchst realen Kontakt mit Polen deutlich machen und für die Zukunft auf einen besonderen Status hinarbeiten. Die Form dieser besonderen Partnerschaft sollte weitgehend mit realen Inhalten aufgefüllt werden, so sollte man beispielsweise auch m.E. zwischen Polen und der Ukraine eine besondere Grenzordnung ausarbeiten.

Die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Polen und der Ukraine und die Synchronisierung ihrer Bewegung in Richtung Westen könnte zum ausbaufähigen Modell der polnisch-ukrainischen Beziehungen von heute werden, und allein die Tatsache, daß wir schon über gemeinsame militärische und wirtschaftliche Organisationsformen verfügen, macht einen künftigen Sonderstatus der Ukraine in Beziehung zur NATO und EU dringlich und wahrscheinlich, denn für einen schnellen Beitritt fehlen zur Zeit noch die materiellen Voraussetzungen.

Als Vermittler ukrainischer Interessen könnte Polen im neuen Europa einen originellen Platz finden, müßte dann allerdings auch das Gewicht seiner Ostpolitik vergrößern. Denn seine Lotsenrolle in der Region und die konkreten politischen Aufgaben, die aus NATO - und EU-Beitritt resultieren, zwingen

Polen dazu, auch seine Beziehungen nach Osten (Ukraine, Litauen, Weißrußland, Rußland) definitiv zu regeln und auszubauen. Dazu kommen die wirtschaftlichen Überlegungen, denn in Zukunft werden die Märkte und die Rohstoffquellen des Ostens noch attraktiver werden, als sie es heute schon sind. Viele

Interessen Polens liegen also (trotz der gegenwärtigen populären Begeisterung für den Westen) im Osten. Daraus ergibt sich ein neuerliches Ungleichgewicht in der Beziehung zur Ukraine. Denn Polen sucht und entwirft Modelle der Zusammenarbeit, wirkt also eher offensiv, und die Ukraine eher defensiv.

Wir wollen indes die anderen Köche nicht vergessen, denn mit der Herstellung von Modellen der Zusammenarbeit in dieser Region sind natürlich auch Deutschland, Rußland und die USA beschäftigt, aber namentlich und in besonderem Maße die ehemaligen Staatssekretäre Kissinger und Brzezinski. Ihre Aktivitäten haben dazu geführt, daß ein besonderer KISSINGER-BTZEZINSKI-FAKTOR entstand, der die Gestaltung von Modellen polnisch-ukrainischer Existenzals Element der globalen Geopolitik sowohl innerhalb der beiden Länder als auch weltweit aktiv beeinflußt.

Bleibt uns noch abschließend ein Hinweis auf die gefährlichen Varianten künftiger polnisch-ukrainischer Beziehungen.

1. Wenn sich die Ukraine bei rein formaler Behauptung ihrer Unabhängigkeit tatsächlich wieder in einen Satelliten Rußlands zurückverwandeln würde, bliebe von dem Modell polnisch-ukrainischer Beziehungen praktisch nur noch ein untergeordnetes Element des neuen Ost-West-Gegensatzes übrig.

2. Für den Fall, daß die Ukraine zu einer Pufferzone zwischen Rußland und der NATO würde, wären die Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen auf die Ebene von unbestimmt mobilen, lokalen und situativen Verträgen reduziert. Ein derartiges Modell wäre gefährlich wegen seiner Instabilität. Zwangsläufig ergäben sich wirtschaftliche Probleme, und die daraus resultierende Unzufriedenheit würde sich fraglos früher oder später entladen.

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N12 / 1998

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1997