Klaus Bachmann
Ukraine, Polen und die Debatten über die Zukunft der EU Führt
die polnische Brücke ins Nichts?
© Klaus Bachmann, 2000
Im Mai des Jahres 2000 führte die weißrussische Marketing-Firma Logos im
Oblast Beresta (Belarus) eine Umfrage durch, um die Einstellung der einheimischen
Bevölkerung gegenüber Polen zu erforschen. Die Ergebnisse waren überraschend.
Beresta ist eine industrialisierte Grenzstadt, in der sowohl die Kriegs- und
Nachkriegsmigrationen bzw. Umsiedlungen ihre Spuren hinterlassen haben, als
auch die Industrialisierung, die in der Sowjetzeit von oben herab verordnet
worden war. Man hätte nun meinen können, dass eine derart zusammen gemengte
Bevölkerung für Lukaschenkos Propaganda empfänglicher sein sollte, aber, wie
es sich herausstellte, war über die Hälfte der befragten Personen Polen gegenüber
sehr positiv eingestellt, sie betrachten das polnische Transformationsmodell
als ein Vorbild für Weißrussland, und glauben, dass Polen einen richtigen Entwicklungsweg
eingeschlagen hat, auch in geopolitischer Hinsicht. Nur 20 Prozent der Befragten
fürchten eventuelle Folgen von Polens NATO-Beitritt.
Die Promotion Polens in Beresta erwies sich als erfolgreich. Nicht weniger
erfolgreich war auch die Promotion Europas, denn die Werte, die die meisten
Befragten anerkennen Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Menschenrechte und liberale
Demokratie sind die, auf denen die Idee der europäischen Integration basiert
und die sich in Opposition zu den Zielen des Regimes Lukaschenkos befinden.
Ähnliche Befragungen in der Westukraine und vielleicht sogar im Gebiet Kaliningrad
würden ähnliche Ergebnisse haben. In diesen Regionen ist die polnische Sprache
eine Art lingua franca, sie wird oft von Jugendlichen benutzt, die nie mit der
II. Rzec Pospolita zu tun hatten. Polen wird dort als ein Teil des Westens betrachtet,
aber nicht nur, dass sich dieser polnische Westen von dem amerikanischen
Westen unterscheidet, den die Ukrainer und Weißrussen in Gestalt von Seifenopern
und Sitcom-Serien aus Hollywood in ihre Häuser hereinlassen. McDonalds, Arnold
Schwarzenegger und Silvester Stallone füllen die postsowjetische kulturelle
Leere aus, aber die polnischen Radio- und Fernsehprogramme knüpfen an die besten
Traditionen der weißrussischen Volkskultur an, die trotz der Sowjetisierungsversuche
überlebt haben. Dieser Westen ist verständlicher, verwandter.
Ist Polen eine Brücke nach Osten?
Anfang der 90er Jahren versuchten die polnischen Machtorgane und polnische
Politiker Polen als eine Brücke nach Osten darzustellen. Das Land versank
in Regression und erwies sich als instabil und unattraktiv für ausländische
Investoren, zudem herrschte im Westen immer noch der Mythos vom großen Russland,
das über Nacht aus der wirtschaftlichen Schwäche auferstehen und wieder zum
großen Markt werden würde. Aber dieser Mythos verflog schnell. Nach der Perestrojka
begann die Ernüchterung, Polen dagegen wurde immer attraktiver. Nur die Legende
von der polnischen Brücke nach Osten verschwand nicht. Die Ergebnisse der Umfrage
in Beresta und die Tatsache, dass die polnische Transformation zu einem meist
unerreichbaren Vorbild in den Ländern östlich von Polen wurde, scheinen die
alte These vom polnischen Brücken-Mythos zu bestätigen. Aber nur auf den ersten
Blick.
Die These von der polnischen Brücke, über welche die westlichen Investoren
nach Osten wandern, um den reichen russischen Markt zu erobern, erwies sich
als falsch. Weder ist jener Markt reich, noch ist Polen der Weg, der zu ihm
führt. Die einzige Branche in Polen, in der es eine relevante statistische Korrelation
zwischen den Kapitaleinlagen der ausländischen Investoren und dem Export nach
Osten gibt, ist die verarbeitende landwirtschaftlichen Produktion, aber auch
dieses Geschäft erlitt einen schweren Schlag durch die russische Krise von 1998
danach begann der Exportumfang drastisch abzunehmen. Die riesigen Investitionen
in Polen wurden nicht gemacht im Hinblick auf die osteuropäischen Märkte, sondern
für den polnischen und (nach Polens EU-Beitritt) den europäischen Markt. Aus
diesem Grund reexportiert Fiat den größten Teil seiner Produkte aus Polen
in die EU, und Daewoo versuchte nicht einmal, seine Autos aus Polen in
die Ukraine zu exportieren, sondern baute lieber ein neues Werk im ukrainischen
Zaporizhia. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist heute halb so groß wie das
der Benelux-Länder, häufige unkalkulierbare Änderungen in der Zollpolitik, die
Gefahr einer neuerlichen plötzlichen Entwertung des Rubels, unkoordinierte und
oft gegen den Markt gerichtete Wirtschaftspolitik einiger postsowjetischer Länder
all das macht diese östlichen Märkte nur für Spekulanten attraktiv. Wenn Polen
hier auch der Weg ist, dann nur der Weg, der ins Nichts führt.
Polen ist auch keine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten. Es verbindet
den Osten mit dem Westen, aber in der Gegenrichtung gibt es kaum Bewegung. Die
Stimmungen in den USA und im Westeuropa haben sich zwar verändert, aber nicht
dank der polnischen Diplomatie (obwohl diese einiges versucht hat), sondern
weil die Ukraine auf Kernwaffen verzichtete und bereit war, das AKW Tschernobyl
zu schließen. Polen ist ein Anwalt der Ukraine in der EU, aber die polnischen
Vorschläge, die Ukraine in die Europäische Konferenz aufzunehmen und ihr, ähnlich
wie der Balkan-Region, die Perspektive der Mitgliedschaft zu geben, rufen
immer mehr Verärgerung bei den deutschen und französischen Diplomaten hervor.
Sie meinen, dass die höheren Instanzen in Helsinki das Problem der Grenzen Europas
für die nächsten Jahrzehnte gelöst haben.
Sich der EU anschliessen oder ihr beitreten?
Während der Verhandlungen über eine gemeinsame EU-Außenpolitik hatte Polen
keinerlei Vorbehalte, dafür einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Besorgt war
man vielmehr wegen der Geheimstrategien gegenüber der Ukraine und Russland sowie
wegen der ungeschriebenen Regeln und Traditionen. Die Eurokraten führten in
Fragen der Außenpolitik ausgerechnet den Aspekt an, der in Weißrussland, in
Russland und in der Ukraine die unangenehmsten Assoziationen hervorruft! Als
sich noch niemand in Polen Gedanken machte, was die Übernahme des Schengen-Abkommens
in das Amsterdamer Dokument bedeutet, wussten die Menschen in den ukrainischen
Grenzdörfern schon, dass man die Grenze schließen würde. Die laut verkündete
Gemeinsame Ukraine-Strategie der EU fand nur einen Tag lang Resonanz in der
ukrainischen Presse bis es klar wurde, daß das Land den Status des Beitrittskandidaten
wieder einmal nicht bekommen hat.
Über die Folgen der Anwendung des Schengen-Abkommens an der polnisch-ukrainischen
Grenze wird schon seit langem diskutiert. Es wurden sogar Konzepte erarbeitet,
die verhindern sollten, dass die visumspflichtigen Grenzen gleichzeitig Grenzen
zwischen Wohlstand und Armut sein würden, und zwar durch Festlegung einer grenzüberschreitenden
Übergangszone, wo im Rahmen von Hilfsprogrammen sowohl Mittel der polnischen
Zentralregierung als auch der EU investiert werden sollten. Vielen Menschen
zwischen Lviv und Luzk ist klar, dass für die Probleme der regionalen Zusammenarbeit
nur dann Lösungen gefunden werden, wenn Polen und Ukraine selbst die Initiative
ergreifen, kooperieren und die Zusammenarbeit auf die Zeit nach der EU-Osterweiterung
ausweiten.
Wenn die EU-Erweiterung etwas mehr sein soll als der Anschluss der Nachbarländer
an die EU, wenn sie der Anfang einer wirklichen europäischen Einigung und der
Überwindung der Teilung in Ost und West sein soll, kann sie nicht darauf basieren,
dass die bisherige Politik einfach weitergeführt wird, nur unter Einschluss
einer größeren Zahl von neuen Mitgliedsländern, die sich dann eben anpassen
müssen. Vielmehr bedarf es dann einer offenen Union, eines viel größeren Interesses
für Mittel- und Osteuropa und des Verzichtes auf viele bequeme Mythen und Stereotypen,
wie z.B. auf die Legende, dass Kosowo sich überall wiederholen könne und dass
die EU-Erweiterung die Übertragung des westeuropäischen Wohlstandmodells auf
den Osten sei und ein Mittel, diese Region zu stabilisieren. Wenn die Vereinigung
der Region erfolgreich sein soll, dann müssen die neuen Mitglieder der EU tatsächlich
beitreten und nicht aufgenommen werden, dann müssen in sie bewußt in die
EU hinein gehen, und nicht eines Morgens aufwachen und bemerken, daß sie sich
innerhalb dieser Struktur befinden. Dies bedarf einer aktiven Politik, guter
Vorbereitung und der Beteiligung an den Debatten der Union. Eine tatsächliche
Mitgliedschaft bedeutet nicht nur, dass die Standards erreicht werden, nicht
nur eine leistungsfähige Wirtschaft und Verhandlungsfähigkeit, das bedeutet
auch Prestige, ein guter Markenname und das, was die Wirtschaftswissenschaftler
den vergleichenden Vorteil nennen: unter Bedingungen der freien Konkurrenz hat
jedes Land mindestens ein Produkt, das es besser herstellen kann, als die anderen.
Könnte es in Polen möglicherweise die Osteuropapolitik sein?
Dem Osten den Rücken kehren?
Es sieht so aus, als sei Polen als Anwalt der Ukraine an einer Kreuzung stehen
geblieben. Es ist nicht gelungen, das Versprechen einzulösen, dass nach dem
Beitritt Polens zur EU seine Ostgrenze genau so offen bleiben wird, wie bisher
(Präsident Kwasniewski in Kiew). Die Schließung der Grenzen, die Einführung
des Visaregimes, die Ausrüstung der Grenzer mit Nachtsichtgeräten, Landrovern
und den modernsten Kommunikationsmitteln werden von Brüssel und von den besonders
interessierten westlichen EU-Ländern finanziert. Für eine spätere neuerliche
Öffnung dieses Vorhangs (billige Visa, mehr Konsulate, zusätzliche Arbeitsplätze)
würde Polen ohne Zweifel zahlen müssen. Zwar ist Polen für eine erweiterte NATO-
und EU-Osterweiterung eingetreten, aber kann man tatsächlich verlangen, dass
Polen gegen die eigenen Interessen diese Forderungen aufrecht erhält?
Polen ein zweites Österreich?
Eine derartige Variante ist auch in Polen möglich, denn das, was Polen heute
für die Ost-West-Kontakte leistet, tat in den 80er Jahren Österreich. Wien hielt
die Grenzen für viele Länder des Ostblocks offen, trat als Vermittler im politischen
Dialog auf, diente als neutraler Ort der Begegnung für Geschäftsleute, Wissenschaftler,
Politiker, oder auch für die im Bürgerkrieg stehenden Seiten und last not least
für die Spione. Die österreichischen Forschungsinstitute galten als sehr kompetent
in Sachen Balkan, Ungarn, Rumänien. Dort, wo die anderen nur den Ostblock
bemerkten, entdeckten die Österreicher die Spuren des Habsburgerreiches, der
jahrhundertelangen türkischen Herrschaft, der Verwüstung des I. Rzecz Pospolita
und des Ungarischen Reiches. Dann brach der Kommunismus zusammen, öffnete sich
der Eiserne Vorhang, zerfiel Jugoslawien. Auf einmal stellte sich heraus, dass
die Forderung der Zeit keineswegs hieß, das im Laufe der Jahre errungene Vertrauen,
das Wissen und die Kontakte für den Aufbau einer neuen Ordnung zu nutzen, sondern
es ging darum, das Land vor Einwanderung und Phobien zu schützen, und die verrosteten
österreichischen Flugzeuge konnten nicht verhindern, dass der Luftraum verletzt
wurde durch jugoslawische MIGs, die in der Luft waren, um das unabhängige Slowenien
zu bombardieren. Etwas ist kaputt gegangen in dieser Situation: Österreich führte
Visa für Polen und schärfere Regeln für Ausländer ein, gab dem Druck Bayerns
nach und akzeptierte kurzentschlossen das Schengener Abkommen. Den Völkerfrühling
und den Triumph der österreichischen Vision von Mitteleuropa (die nichts mit
dem deutschen Konzept vom Anfang des Jahrhunderts zu tun hatte!) empfand Österreich
als Neuauflage des Strums der Türken auf Wien. Seine Politologen und Historiker
untersuchten die jahrhundertealten nationalen Konflikte auf dem Balkan, der
österreichische Forschungsbeitrag auf dem Gebiet der ethnischen Minderheiten
in Jugoslawien bleibt bis heute bedeutender als der jugoslawische (!), aber
als Jugoslawien in ethnischen Säuberungen, Grenzkämpfen und gegenseitigen Angriffen
verblutete, stand Österreich hilflos daneben. Die Friedensmissionen und Verhandlungen
wurden von schwedischen Politikern geführt, von Spaniern und Amerikanern, deren
Wissen über die historischen Hintergründe des Konflikts und der ethnischen Beziehungen
sich oft als ungenügend erwiesen. Dass die Rolle der EU in Jugoslawien heute
als eine endlose Serie von Niederlagen und Misserfolgen bewertet wird, ist nicht
nur der fehlenden Einheitlichkeit in der europäischen Außenpolitik und der militärischen
Schwäche der EU geschuldet, es ist auch ein Ergebnis fehlender Kompetenz.
So oder so ähnlich könnte es auch mit Polen gehen. Polen wird noch auf lange
Zeit als Netto-Benefiziant vom EU-Budget abhängen, seine Transitkorridore befinden
sich im miserablen Zustand, und das, was manche polnische Politiker in Westeuropa
anbieten wollten die neue Evangelisierung und die christlich-katholische Moral
erweckt dort eher gemischte Gefühle. Unbestreitbar ist Polen ein größerer
Markt als Österreich, aber die Vorteile, die sich daraus ergeben, werden schon
seit langem von den EU-Experten genutzt. Kann man sich denn vorstellen, dass
Polen als EU-Mitglied für die Ukraine und Weißrussland die gleiche Rolle spielen
würde, wie Spanien für Lateinamerika, Frankreich für Nordafrika, Großbritannien
für die USA?
Europäischer Osten oder polnische Randgebiete?
In Polen gibt es eine Reihe von guten wissenschaftlichen Instituten und einige
Universitäts-Lehrstühle, die sich mit Osteuropa beschäftigen. Zur Zeit folgt
eine Tagung über die polnisch-ukrainischen Beziehungen auf die andere, und in
den Regalen der wissenschaftlichen Buchhandlungen liegen Stapel von Büchern,
die der Geschichte der Grenzgebiete gewidmet sind, den polnisch-weißrussischen
und polnisch-ukrainischen Schlachten und der Befreiung von Tabus und Lügen in
den bilateralen Beziehungen. Aber viele Autoren beabsichtigen auch heute noch,
die Berechtigung der uralten polnischen imperialen Bestrebungen zu untermauern
und die bösen Absichten der Ukrainer, Russen und Weißrussen aufzudecken, anstatt
eine objektive Analyse der Ursachen und Folgen des Konflikts zu geben. Sogar
Autoren, die von diesem Schema abweichen, kommen nicht ohne national-ethnische
Sichtweise aus und unterscheiden sich von ihren Opponenten nur dadurch, dass
sie den Schlüssel anders herum drehen und in ihren Büchern den damaligen Bestrebungen
der Ukrainer, Weißrussen und Litauer mehr Verständnis entgegen bringen. Ein
großer Teil der Bücher, die sich mit Weißrussland, der Ukraine und Russland
beschäftigen, sind Werke, die sich ganz selektiv nur für das interessieren,
was in den Grenzgebieten polnisch war und ist für ein besseres Verständnis
der heutigen Ukraine und Weißrusslands haben solche Sachverhalte allerdings
eine äußerst geringe Bedeutung.
Das wirkliche Problem verbirgt sich an anderer Stelle: das polnische West-Institut
untersucht Deutschland, die Lubliner Universitäts-Institute beschäftigen sich
mit der Ukraine und Weißrussland, aber wer sorgt für Querverbindungen? Wer
beschäftigt sich mit der Ukraine und Weißrussland im Kontext der der europäischen
Integration? Wer kann in Polen die komplexe Strategie der Bündelung des polnischen
Know-how zum Thema Osteuropa und seine Einbeziehung in den Kontext der europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik bearbeiten? Gibt es etwa wenigstens als Entwurf
irgendein polnisches Konzept für die Zukunft des Gebiets Kaliningrad nach
der EU-Osterweiterung? Wer berechnet die Konsequenzen für die polnische Position,
wer untersucht die Modelle der Stimmenverteilung im Europarat nach der Reform?
Jedes EU-Land hat einige derartige Forschungszentren, die für die Politik aktuelle
Informationen und Studien bereitstellen. Das Polnische Institut für Internationale
Angelegenheiten unterliegt alle paar Jahre der Umstrukturierung und publiziert
mit großer Verspätung Informationen über die Positionen der anderen Staaten
zu den brennendsten Fragen in Europa.
Das Zentrum für Osteuropäische Studien veröffentlicht kaum Texte auf Englisch
oder Französisch, und seine Internet-Seite stammt aus den prähistorischen Zeiten
des Netzes. Nichtsdestotrotz finden seine ausgewogenen aktuellen Kommentare,
die oft mit der öffentlichen Diskussion nicht übereinstimmen, Anerkennung im
Ausland. Wo ist das polnische Zentrum für Europäischen Studien, das blitzartig
auf die Entscheidungen in den obersten EU-Instanzen reagieren könnte?
Verwirrung in Aussenministerium
Seit vielen Jahren sind wir Zeugen des immergleichen Szenario: Die polnische
Diplomatie sucht mit Nachdruck nach Möglichkeiten, um wenigstens irgendwie zur
nächsten internationalen Konferenz zum Thema EU-Beitritt, Balkan-Stabilisierungspakt
oder Ukraine-Strategie eingeladen zu werden. Dann fragt die EU nach der Position
Polens und bringt damit das Außenministerium in Verwirrung. Dort verfasst man
eilig und in engem Kreis sehr geheime Briefe, die dann in kürzester Zeit bei
15 Regierungen bekannt werden, in 15 Büros von Außenministern, Ministerpräsidenten,
Präsidenten, in den Botschaften aller EU-Länder, bei Mitgliedern der Kommission
für die Außenangelegenheiten der europäischen Integration, bei unzähligen Direktoren
der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament bei allen, außer
bei den polnischen Wählern, und oft nicht einmal in den polnischen Botschaften.
Dergestalt gerät die polnische Europapolitik in eine doppelte Isolation: abgetrennt
einerseits von kompetenten Beratern und andererseits von der öffentlichen Meinung
im Inland. Es wundert nicht, dass selbst auf Erklärungen von Jaques Delors,
Helmut Schmidt und Giscard dEstaing der polnische Außenminister und der Präsident
recht oberflächlich und einige Monate zu spät reagieren, erst, nachdem Gazeta
Wyborcza diese Texte übersetzt hatte.
Zwei wesentliche Elemente der Debatten über die Zukunft der EU sind eng miteinander
verbunden, worauf vor kurzem Jerzy £ukaszewski hinwies: Wie könnte man für die
weitestgehende Erweiterung der EU eintreten und dann die Aufteilung der EU
in einen festen Kern und (wie das Giscard und Schmidt nannten) den europäischen
Raum nicht akzeptieren? Selbst wenn jemand meint, in einigen Jahren nach
einem EU-Beitritt Polens sei die Ukraine auch imstande, innenpolitisch einen
Konsens für eine eindeutig prowestliche Orientierung zu finden, die europäischen
acquis zu akzeptieren und also ein vollwertiger EU-Mitglied zu werden, so
wird das Problem der Finanzierung ihres Beitritts nicht Polens Problem sein,
sondern das jener EU-Mitglieder, die als Nettozahler aus dem EU-Haushalt die
Erweiterung für 10 Länder und danach noch die nächste Erweiterungsrunde finanzieren
müssen. Wie dem auch sei, die Erweiterung um Länder mit einer derartig großen
wirtschaftlichen Differenz muss die Einführung von differenzierten Kategorien
der Mitgliedschaft nach sich ziehen.
Was ist besser für solche Länder wie Rumänien und Bulgarien, und später dann
Albanien und Mazedonien: Vertagung der Mitgliedschaft um einige Jahre bzw. Jahrzehnte
oder eine stufenweise Integration? Die Bedingungen der Vereinigung bieten ihnen
einen gewissen Zugang zum Markt, eine mäßige Unterstützung aus der EU-Kasse,
aber keine Möglichkeit der Einflussnahme auf EU-Angelegenheiten. Die stufenweise
Integration bietet die Möglichkeit der Mitarbeit (Teilnahme an den Entscheidungen),
die betroffenen Länder werden aus Objekten der EU-Politik zu ihren Subjekten.
Aber in Polen können dieselben Politiker, die in Berlin und Paris für die Fortsetzung
der EU-Osterweiterung und einen Kandidatenstatus der Ukraine kämpfen, nach Lektüre
der Gazeta Wyborcza erklären, dass das Konzept Europa zweier Geschwindigkeiten
Polen zu einer Mitgliedschaft zweiter Klasse verurteilt.
Es liegt also auf der Hand, dass in Polen eine Institution fehlt, welche die
öffentliche Debatte strukturieren könnte. Wenn es aber nicht gelingt, die Osteuropa-Kompetenz
der polnischen Seite mit dem Wissen im Bereich der europäischen Integration
zu vereinigen, wenn die elitäre verdeckte Außenpolitik in Polen auch weiterhin
für die öffentliche Meinung und für solide Untersuchungen der kompetenten Institutionen
undurchsichtig bleibt, dann werden die polnische Osteuropa-Politik und das polnische
Wissen über die Nachbarn im Osten verschwendet. Über die eventuellen Probleme
in Weißrussland und in der Ukraine, über den Baltische Raum oder das Schwarze
Meer werden dann Schweden, Dänen, Portugiesen entscheiden, mit Unterstützung
italienischer, deutscher oder französischer Institute, und die Ukraine- und
Weißrussland-Politik der EU wird in London, Rom und Helsinki gemacht werden.
Wer, wenn nicht Polen, soll in Zukunft die EU-Konzepte für die Zusammenarbeit
mit Weißrussland im Falle einer demokratischen und wirtschaftlichen Wende in
diesem Land erarbeiten? Wer vor allem ist an einer friedlichen Verwandlung des
stärksten russischen Flugzeugträgers (die Kaliningrader Enklave) in eine Freihandelszone
und an der Errichtung einer Brücke nach Russland interessiert, wenn nicht Polen
und Litauen? Es gibt schon das Konzept eines Sonder-Status im Rahmen des Schengen-Abkommens,
das den Einwohnern Kaliningrads erlaubt, auch weiterhin ohne Visum nach Polen
zu reisen und mit Polen Handel zu treiben. Bei den Debatten über die Zukunft
der Europäischen Union geht es nicht um die EU-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern
um ein möglichst flexibles Herangehen der 15 an die regionale Zusammenarbeit
zwischen den künftigen EU-Mitgliedern (Polen, Ungarn, Slowakei) und ihren östlichen
Nachbarn, unabhängig davon, ob diese einen Kandidaten-Status haben oder nicht.
Wir werden schwerlich Verfechter der These finden, die EU sollte auf eine abgestufte
Integration verzichten und die Ukraine als ein vollberechtigtes Mitglied aufnehmen.
Es ist hingegen leicht, Bündnispartner zu finden, die sich für den offenen
harten Kern aussprechen, für die flexible Erweiterung und die Offenheit der
EU für regionale Zusammenarbeit nach dem Muster z. B. der Nordischen Union.
Wenn aber Polen alle Konzepte der abgestuften Integration als Mitgliedschaft
zweiter Klasse ablehnt, verschließt es sich selbst den Mund in den Debatten
über das neue Aussehen der EU und vergeudet sein Know-how über seine Nachbarn
im Osten. Der Einschluss aller zehn mittel- und osteuropäischen Kandidaten unter
gleichen Bedingungen verzögert den ganzen Prozess um einige Jahre oder Jahrzehnte.
Die Alternative ist nicht das Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern vielleicht
der drei, vier oder fünf Geschwindigkeiten. Diese Debatte fängt in Westeuropa
gerade erst an, und dabei fehlen häufig elementare Informationen über die mittel-
und osteuropäische Länder. Ob Polen diese Herausforderung annimmt?
aus dem Polnischen von Olha Sidor
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20
2001
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