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Klaus Bachmann

Ukraine, Polen und die Debatten über die Zukunft der EU Führt die polnische Brücke ins Nichts?

© Klaus Bachmann, 2000

Im Mai des Jahres 2000 führte die weißrussische Marketing-Firma “Logos” im Oblast Beresta (Belarus) eine Umfrage durch, um die Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Polen zu erforschen. Die Ergebnisse waren überraschend. Beresta ist eine industrialisierte Grenzstadt, in der sowohl die Kriegs- und Nachkriegsmigrationen bzw. Umsiedlungen ihre Spuren hinterlassen haben, als auch die Industrialisierung, die in der Sowjetzeit von oben herab verordnet worden war. Man hätte nun meinen können, dass eine derart zusammen gemengte Bevölkerung für Lukaschenkos Propaganda empfänglicher sein sollte, aber, wie es sich herausstellte, war über die Hälfte der befragten Personen Polen gegenüber sehr positiv eingestellt, sie betrachten das polnische Transformationsmodell als ein Vorbild für Weißrussland, und glauben, dass Polen einen richtigen Entwicklungsweg eingeschlagen hat, auch in geopolitischer Hinsicht. Nur 20 Prozent der Befragten fürchten eventuelle Folgen von Polens NATO-Beitritt.

Die Promotion Polens in Beresta erwies sich als erfolgreich. Nicht weniger erfolgreich war auch die Promotion Europas, denn die Werte, die die meisten Befragten anerkennen – Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Menschenrechte und liberale Demokratie – sind die, auf denen die Idee der europäischen Integration basiert und die sich in Opposition zu den Zielen des Regimes Lukaschenkos befinden. Ähnliche Befragungen in der Westukraine und vielleicht sogar im Gebiet Kaliningrad würden ähnliche Ergebnisse haben. In diesen Regionen ist die polnische Sprache eine Art lingua franca, sie wird oft von Jugendlichen benutzt, die nie mit der II. Rzec Pospolita zu tun hatten. Polen wird dort als ein Teil des Westens betrachtet, aber nicht nur, dass sich dieser “polnische Westen” von dem “amerikanischen Westen” unterscheidet, den die Ukrainer und Weißrussen in Gestalt von Seifenopern und Sitcom-Serien aus Hollywood in ihre Häuser hereinlassen. McDonalds, Arnold Schwarzenegger und Silvester Stallone füllen die postsowjetische kulturelle Leere aus, aber die polnischen Radio- und Fernsehprogramme knüpfen an die besten Traditionen der weißrussischen Volkskultur an, die trotz der Sowjetisierungsversuche überlebt haben. Dieser Westen ist verständlicher, verwandter.

Ist Polen eine Brücke nach Osten?

Anfang der 90er Jahren versuchten die polnischen Machtorgane und polnische Politiker Polen als eine “Brücke nach Osten” darzustellen. Das Land versank in Regression und erwies sich als instabil und unattraktiv für ausländische Investoren, zudem herrschte im Westen immer noch der Mythos vom großen Russland, das über Nacht aus der wirtschaftlichen Schwäche auferstehen und wieder zum “großen Markt” werden würde. Aber dieser Mythos verflog schnell. Nach der Perestrojka begann die Ernüchterung, Polen dagegen wurde immer attraktiver. Nur die Legende von der polnischen Brücke nach Osten verschwand nicht. Die Ergebnisse der Umfrage in Beresta und die Tatsache, dass die polnische Transformation zu einem – meist unerreichbaren – Vorbild in den Ländern östlich von Polen wurde, scheinen die alte These vom polnischen Brücken-Mythos zu bestätigen. Aber nur auf den ersten Blick.

Die These von der “polnischen Brücke”, über welche die westlichen Investoren nach Osten wandern, um den reichen russischen Markt zu erobern, erwies sich als falsch. Weder ist jener Markt reich, noch ist Polen der Weg, der zu ihm führt. Die einzige Branche in Polen, in der es eine relevante statistische Korrelation zwischen den Kapitaleinlagen der ausländischen Investoren und dem Export nach Osten gibt, ist die verarbeitende landwirtschaftlichen Produktion, aber auch dieses Geschäft erlitt einen schweren Schlag durch die russische Krise von 1998 – danach begann der Exportumfang drastisch abzunehmen. Die riesigen Investitionen in Polen wurden nicht gemacht im Hinblick auf die osteuropäischen Märkte, sondern für den polnischen und (nach Polens EU-Beitritt) den europäischen Markt. Aus diesem Grund reexportiert Fiat den größten Teil seiner Produkte aus Polen in die EU, und Daewoo versuchte nicht einmal, seine Autos aus Polen in die Ukraine zu exportieren, sondern baute lieber ein neues Werk im ukrainischen Zaporizhia. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist heute halb so groß wie das der Benelux-Länder, häufige unkalkulierbare Änderungen in der Zollpolitik, die Gefahr einer neuerlichen plötzlichen Entwertung des Rubels, unkoordinierte und oft gegen den Markt gerichtete Wirtschaftspolitik einiger postsowjetischer Länder – all das macht diese östlichen Märkte nur für Spekulanten attraktiv. Wenn Polen hier auch der Weg ist, dann nur der Weg, der ins Nichts führt.

Polen ist auch keine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten. Es verbindet den Osten mit dem Westen, aber in der Gegenrichtung gibt es kaum Bewegung. Die Stimmungen in den USA und im Westeuropa haben sich zwar verändert, aber nicht dank der polnischen Diplomatie (obwohl diese einiges versucht hat), sondern weil die Ukraine auf Kernwaffen verzichtete und bereit war, das AKW Tschernobyl zu schließen. Polen ist ein Anwalt der Ukraine in der EU, aber die polnischen Vorschläge, die Ukraine in die Europäische Konferenz aufzunehmen und ihr, ähnlich wie der Balkan-Region, “die Perspektive der Mitgliedschaft” zu geben, rufen immer mehr Verärgerung bei den deutschen und französischen Diplomaten hervor. Sie meinen, dass die höheren Instanzen in Helsinki das Problem der Grenzen Europas für die nächsten Jahrzehnte gelöst haben.

Sich der EU anschliessen oder ihr beitreten?

Während der Verhandlungen über eine gemeinsame EU-Außenpolitik hatte Polen keinerlei Vorbehalte, dafür einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Besorgt war man vielmehr wegen der Geheimstrategien gegenüber der Ukraine und Russland sowie wegen der ungeschriebenen Regeln und Traditionen. Die Eurokraten führten in Fragen der Außenpolitik ausgerechnet den Aspekt an, der in Weißrussland, in Russland und in der Ukraine die unangenehmsten Assoziationen hervorruft! Als sich noch niemand in Polen Gedanken machte, was die Übernahme des Schengen-Abkommens in das Amsterdamer Dokument bedeutet, wussten die Menschen in den ukrainischen Grenzdörfern schon, dass man die Grenze schließen würde. Die laut verkündete “Gemeinsame Ukraine-Strategie der EU” fand nur einen Tag lang Resonanz in der ukrainischen Presse – bis es klar wurde, daß das Land den Status des Beitrittskandidaten wieder einmal nicht bekommen hat.

Über die Folgen der Anwendung des Schengen-Abkommens an der polnisch-ukrainischen Grenze wird schon seit langem diskutiert. Es wurden sogar Konzepte erarbeitet, die verhindern sollten, dass die visumspflichtigen Grenzen gleichzeitig Grenzen zwischen Wohlstand und Armut sein würden, und zwar durch Festlegung einer grenzüberschreitenden Übergangszone, wo im Rahmen von Hilfsprogrammen sowohl Mittel der polnischen Zentralregierung als auch der EU investiert werden sollten. Vielen Menschen zwischen Lviv und Luzk ist klar, dass für die Probleme der regionalen Zusammenarbeit nur dann Lösungen gefunden werden, wenn Polen und Ukraine selbst die Initiative ergreifen, kooperieren und die Zusammenarbeit auf die Zeit nach der EU-Osterweiterung ausweiten.

Wenn die EU-Erweiterung etwas mehr sein soll als der Anschluss der Nachbarländer an die EU, wenn sie der Anfang einer wirklichen europäischen Einigung und der Überwindung der Teilung in Ost und West sein soll, kann sie nicht darauf basieren, dass die bisherige Politik einfach weitergeführt wird, nur unter Einschluss einer größeren Zahl von neuen Mitgliedsländern, die sich dann eben anpassen müssen. Vielmehr bedarf es dann einer offenen Union, eines viel größeren Interesses für Mittel- und Osteuropa und des Verzichtes auf viele bequeme Mythen und Stereotypen, wie z.B. auf die Legende, dass Kosowo sich überall wiederholen könne und dass die EU-Erweiterung die Übertragung des westeuropäischen Wohlstandmodells auf den Osten sei und ein Mittel, diese Region zu stabilisieren. Wenn die Vereinigung der Region erfolgreich sein soll, dann müssen die neuen Mitglieder der EU tatsächlich “beitreten” und nicht “aufgenommen werden”, dann müssen in sie bewußt in die EU hinein gehen, und nicht eines Morgens aufwachen und bemerken, daß sie sich innerhalb dieser Struktur befinden. Dies bedarf einer aktiven Politik, guter Vorbereitung und der Beteiligung an den Debatten der Union. Eine tatsächliche Mitgliedschaft bedeutet nicht nur, dass die Standards erreicht werden, nicht nur eine leistungsfähige Wirtschaft und Verhandlungsfähigkeit, das bedeutet auch Prestige, ein guter Markenname und das, was die Wirtschaftswissenschaftler den vergleichenden Vorteil nennen: unter Bedingungen der freien Konkurrenz hat jedes Land mindestens ein Produkt, das es besser herstellen kann, als die anderen. Könnte es in Polen möglicherweise die Osteuropapolitik sein?

Dem Osten den Rücken kehren?

Es sieht so aus, als sei Polen als Anwalt der Ukraine an einer Kreuzung stehen geblieben. Es ist nicht gelungen, das Versprechen einzulösen, dass nach dem Beitritt Polens zur EU seine Ostgrenze “genau so offen bleiben wird, wie bisher” (Präsident Kwasniewski in Kiew). Die Schließung der Grenzen, die Einführung des Visaregimes, die Ausrüstung der Grenzer mit Nachtsichtgeräten, Landrovern und den modernsten Kommunikationsmitteln werden von Brüssel und von den besonders interessierten westlichen EU-Ländern finanziert. Für eine spätere neuerliche Öffnung dieses Vorhangs (billige Visa, mehr Konsulate, zusätzliche Arbeitsplätze) würde Polen ohne Zweifel zahlen müssen. Zwar ist Polen für eine erweiterte NATO- und EU-Osterweiterung eingetreten, aber kann man tatsächlich verlangen, dass Polen gegen die eigenen Interessen diese Forderungen aufrecht erhält?

Polen – ein zweites Österreich?

Eine derartige Variante ist auch in Polen möglich, denn das, was Polen heute für die Ost-West-Kontakte leistet, tat in den 80er Jahren Österreich. Wien hielt die Grenzen für viele Länder des “Ostblocks” offen, trat als Vermittler im politischen Dialog auf, diente als neutraler Ort der Begegnung für Geschäftsleute, Wissenschaftler, Politiker, oder auch für die im Bürgerkrieg stehenden Seiten und last not least für die Spione. Die österreichischen Forschungsinstitute galten als sehr kompetent in Sachen Balkan, Ungarn, Rumänien. Dort, wo die anderen nur den “Ostblock” bemerkten, entdeckten die Österreicher die Spuren des Habsburgerreiches, der jahrhundertelangen türkischen Herrschaft, der Verwüstung des I. Rzecz Pospolita und des Ungarischen Reiches. Dann brach der Kommunismus zusammen, öffnete sich der Eiserne Vorhang, zerfiel Jugoslawien. Auf einmal stellte sich heraus, dass die Forderung der Zeit keineswegs hieß, das im Laufe der Jahre errungene Vertrauen, das Wissen und die Kontakte für den Aufbau einer neuen Ordnung zu nutzen, sondern es ging darum, das Land vor Einwanderung und Phobien zu schützen, und die verrosteten österreichischen Flugzeuge konnten nicht verhindern, dass der Luftraum verletzt wurde durch jugoslawische MIGs, die in der Luft waren, um das unabhängige Slowenien zu bombardieren. Etwas ist kaputt gegangen in dieser Situation: Österreich führte Visa für Polen und schärfere Regeln für Ausländer ein, gab dem Druck Bayerns nach und akzeptierte kurzentschlossen das Schengener Abkommen. Den Völkerfrühling und den Triumph der österreichischen Vision von Mitteleuropa (die nichts mit dem deutschen Konzept vom Anfang des Jahrhunderts zu tun hatte!) empfand Österreich als Neuauflage des Strums der Türken auf Wien. Seine Politologen und Historiker untersuchten die jahrhundertealten nationalen Konflikte auf dem Balkan, der österreichische Forschungsbeitrag auf dem Gebiet der ethnischen Minderheiten in Jugoslawien bleibt bis heute bedeutender als der jugoslawische (!), aber als Jugoslawien in ethnischen Säuberungen, Grenzkämpfen und gegenseitigen Angriffen verblutete, stand Österreich hilflos daneben. Die Friedensmissionen und Verhandlungen wurden von schwedischen Politikern geführt, von Spaniern und Amerikanern, deren Wissen über die historischen Hintergründe des Konflikts und der ethnischen Beziehungen sich oft als ungenügend erwiesen. Dass die Rolle der EU in Jugoslawien heute als eine endlose Serie von Niederlagen und Misserfolgen bewertet wird, ist nicht nur der fehlenden Einheitlichkeit in der europäischen Außenpolitik und der militärischen Schwäche der EU geschuldet, es ist auch ein Ergebnis fehlender Kompetenz.

So oder so ähnlich könnte es auch mit Polen gehen. Polen wird noch auf lange Zeit als Netto-Benefiziant vom EU-Budget abhängen, seine Transitkorridore befinden sich im miserablen Zustand, und das, was manche polnische Politiker in Westeuropa anbieten wollten – die neue Evangelisierung und die christlich-katholische Moral — erweckt dort eher gemischte Gefühle. Unbestreitbar ist Polen ein größerer Markt als Österreich, aber die Vorteile, die sich daraus ergeben, werden schon seit langem von den EU-Experten genutzt. Kann man sich denn vorstellen, dass Polen als EU-Mitglied für die Ukraine und Weißrussland die gleiche Rolle spielen würde, wie Spanien für Lateinamerika, Frankreich für Nordafrika, Großbritannien für die USA?

Europäischer Osten oder polnische Randgebiete?

In Polen gibt es eine Reihe von guten wissenschaftlichen Instituten und einige Universitäts-Lehrstühle, die sich mit Osteuropa beschäftigen. Zur Zeit folgt eine Tagung über die polnisch-ukrainischen Beziehungen auf die andere, und in den Regalen der wissenschaftlichen Buchhandlungen liegen Stapel von Büchern, die der Geschichte der Grenzgebiete gewidmet sind, den polnisch-weißrussischen und polnisch-ukrainischen Schlachten und der Befreiung von Tabus und Lügen in den bilateralen Beziehungen. Aber viele Autoren beabsichtigen auch heute noch, die Berechtigung der uralten polnischen imperialen Bestrebungen zu untermauern und die bösen Absichten der Ukrainer, Russen und Weißrussen aufzudecken, anstatt eine objektive Analyse der Ursachen und Folgen des Konflikts zu geben. Sogar Autoren, die von diesem Schema abweichen, kommen nicht ohne national-ethnische Sichtweise aus und unterscheiden sich von ihren Opponenten nur dadurch, dass sie den Schlüssel anders herum drehen und in ihren Büchern den damaligen Bestrebungen der Ukrainer, Weißrussen und Litauer mehr Verständnis entgegen bringen. Ein großer Teil der Bücher, die sich mit Weißrussland, der Ukraine und Russland beschäftigen, sind Werke, die sich ganz selektiv nur für das interessieren, was in den Grenzgebieten polnisch war und ist – für ein besseres Verständnis der heutigen Ukraine und Weißrusslands haben solche Sachverhalte allerdings eine äußerst geringe Bedeutung.

Das wirkliche Problem verbirgt sich an anderer Stelle: das polnische West-Institut untersucht Deutschland, die Lubliner Universitäts-Institute beschäftigen sich mit der Ukraine und Weißrussland, — aber wer sorgt für Querverbindungen? Wer beschäftigt sich mit der Ukraine und Weißrussland im Kontext der der europäischen Integration? Wer kann in Polen die komplexe Strategie der Bündelung des polnischen Know-how zum Thema Osteuropa und seine Einbeziehung in den Kontext der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik bearbeiten? Gibt es etwa – wenigstens als Entwurf – irgendein polnisches Konzept für die Zukunft des Gebiets Kaliningrad nach der EU-Osterweiterung? Wer berechnet die Konsequenzen für die polnische Position, wer untersucht die Modelle der Stimmenverteilung im Europarat nach der Reform? Jedes EU-Land hat einige derartige Forschungszentren, die für die Politik aktuelle Informationen und Studien bereitstellen. Das Polnische Institut für Internationale Angelegenheiten unterliegt alle paar Jahre der Umstrukturierung und publiziert mit großer Verspätung Informationen über die Positionen der anderen Staaten zu den brennendsten Fragen in Europa.

Das Zentrum für Osteuropäische Studien veröffentlicht kaum Texte auf Englisch oder Französisch, und seine Internet-Seite stammt aus den prähistorischen Zeiten des Netzes. Nichtsdestotrotz finden seine ausgewogenen aktuellen Kommentare, die oft mit der öffentlichen Diskussion nicht übereinstimmen, Anerkennung im Ausland. Wo ist das polnische “Zentrum für Europäischen Studien”, das blitzartig auf die Entscheidungen in den obersten EU-Instanzen reagieren könnte?

Verwirrung in Aussenministerium

Seit vielen Jahren sind wir Zeugen des immergleichen Szenario: Die polnische Diplomatie sucht mit Nachdruck nach Möglichkeiten, um wenigstens irgendwie zur nächsten internationalen Konferenz zum Thema EU-Beitritt, Balkan-Stabilisierungspakt oder Ukraine-Strategie eingeladen zu werden. Dann fragt die EU nach der Position Polens und bringt damit das Außenministerium in Verwirrung. Dort verfasst man eilig und in engem Kreis sehr geheime Briefe, die dann in kürzester Zeit bei 15 Regierungen bekannt werden, in 15 Büros von Außenministern, Ministerpräsidenten, Präsidenten, in den Botschaften aller EU-Länder, bei Mitgliedern der Kommission für die Außenangelegenheiten der europäischen Integration, bei unzähligen Direktoren der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament – bei allen, außer bei den polnischen Wählern, und oft nicht einmal in den polnischen Botschaften. Dergestalt gerät die polnische Europapolitik in eine doppelte Isolation: abgetrennt einerseits von kompetenten Beratern und andererseits von der öffentlichen Meinung im Inland. Es wundert nicht, dass selbst auf Erklärungen von Jaques Delors, Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing der polnische Außenminister und der Präsident recht oberflächlich und einige Monate zu spät reagieren, erst, nachdem Gazeta Wyborcza diese Texte übersetzt hatte.

Zwei wesentliche Elemente der Debatten über die Zukunft der EU sind eng miteinander verbunden, worauf vor kurzem Jerzy £ukaszewski hinwies: Wie könnte man für die “weitestgehende Erweiterung der EU” eintreten und dann die Aufteilung der EU in einen “festen Kern” und (wie das Giscard und Schmidt nannten) den “europäischen Raum” nicht akzeptieren? Selbst wenn jemand meint, in einigen Jahren – nach einem EU-Beitritt Polens – sei die Ukraine auch imstande, innenpolitisch einen Konsens für eine eindeutig prowestliche Orientierung zu finden, die europäischen “acquis” zu akzeptieren und also ein vollwertiger EU-Mitglied zu werden, so wird das Problem der Finanzierung ihres Beitritts nicht Polens Problem sein, sondern das jener EU-Mitglieder, die als Nettozahler aus dem EU-Haushalt die Erweiterung für 10 Länder und danach noch die nächste Erweiterungsrunde finanzieren müssen. Wie dem auch sei, die Erweiterung um Länder mit einer derartig großen wirtschaftlichen Differenz muss die Einführung von differenzierten Kategorien der Mitgliedschaft nach sich ziehen.

Was ist besser für solche Länder wie Rumänien und Bulgarien, und später dann Albanien und Mazedonien: Vertagung der Mitgliedschaft um einige Jahre bzw. Jahrzehnte oder eine stufenweise Integration? Die Bedingungen der Vereinigung bieten ihnen einen gewissen Zugang zum Markt, eine mäßige Unterstützung aus der EU-Kasse, aber keine Möglichkeit der Einflussnahme auf EU-Angelegenheiten. Die stufenweise Integration bietet die Möglichkeit der Mitarbeit (Teilnahme an den Entscheidungen), die betroffenen Länder werden aus Objekten der EU-Politik zu ihren Subjekten. Aber in Polen können dieselben Politiker, die in Berlin und Paris für die Fortsetzung der EU-Osterweiterung und einen Kandidatenstatus der Ukraine kämpfen, nach Lektüre der Gazeta Wyborcza erklären, dass das Konzept “Europa zweier Geschwindigkeiten” Polen zu einer “Mitgliedschaft zweiter Klasse” verurteilt.

Es liegt also auf der Hand, dass in Polen eine Institution fehlt, welche die öffentliche Debatte strukturieren könnte. Wenn es aber nicht gelingt, die Osteuropa-Kompetenz der polnischen Seite mit dem Wissen im Bereich der europäischen Integration zu vereinigen, wenn die elitäre verdeckte Außenpolitik in Polen auch weiterhin für die öffentliche Meinung und für solide Untersuchungen der kompetenten Institutionen undurchsichtig bleibt, dann werden die polnische Osteuropa-Politik und das polnische Wissen über die Nachbarn im Osten verschwendet. Über die eventuellen Probleme in Weißrussland und in der Ukraine, über den Baltische Raum oder das Schwarze Meer werden dann Schweden, Dänen, Portugiesen entscheiden, mit Unterstützung italienischer, deutscher oder französischer Institute, und die Ukraine- und Weißrussland-Politik der EU wird in London, Rom und Helsinki gemacht werden.

Wer, wenn nicht Polen, soll in Zukunft die EU-Konzepte für die Zusammenarbeit mit Weißrussland im Falle einer demokratischen und wirtschaftlichen Wende in diesem Land erarbeiten? Wer vor allem ist an einer friedlichen Verwandlung des stärksten russischen “Flugzeugträgers” (die Kaliningrader Enklave) in eine Freihandelszone und an der Errichtung einer Brücke nach Russland interessiert, wenn nicht Polen und Litauen? Es gibt schon das Konzept eines Sonder-Status im Rahmen des Schengen-Abkommens, das den Einwohnern Kaliningrads erlaubt, auch weiterhin ohne Visum nach Polen zu reisen und mit Polen Handel zu treiben. Bei den Debatten über die Zukunft der Europäischen Union geht es nicht um die EU-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern um ein möglichst flexibles Herangehen der “15” an die regionale Zusammenarbeit zwischen den künftigen EU-Mitgliedern (Polen, Ungarn, Slowakei) und ihren östlichen Nachbarn, unabhängig davon, ob diese einen Kandidaten-Status haben oder nicht.

Wir werden schwerlich Verfechter der These finden, die EU sollte auf eine abgestufte Integration verzichten und die Ukraine als ein vollberechtigtes Mitglied aufnehmen. Es ist hingegen leicht, Bündnispartner zu finden, die sich für den “offenen harten Kern” aussprechen, für die flexible Erweiterung und die Offenheit der EU für regionale Zusammenarbeit nach dem Muster z. B. der “Nordischen Union”. Wenn aber Polen alle Konzepte der abgestuften Integration als “Mitgliedschaft zweiter Klasse” ablehnt, verschließt es sich selbst den Mund in den Debatten über das neue Aussehen der EU und vergeudet sein Know-how über seine Nachbarn im Osten. Der Einschluss aller zehn mittel- und osteuropäischen Kandidaten unter gleichen Bedingungen verzögert den ganzen Prozess um einige Jahre oder Jahrzehnte. Die Alternative ist nicht das Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern vielleicht der drei, vier oder fünf Geschwindigkeiten. Diese Debatte fängt in Westeuropa gerade erst an, und dabei fehlen häufig elementare Informationen über die mittel- und osteuropäische Länder. Ob Polen diese Herausforderung annimmt?

aus dem Polnischen von Olha Sidor


N12 / 1998

20

2001