Jean Jacques Rettig
Der Regionalismus der 70er Jahre
Meine Damen, meine Herrn, liebe Freunde,
gewiß haben Ihre Eltern und Sie selbst gelitten. Oft hat man Ihnen Ihre Marksteine
genommen, Ihre Grenzen. Man hat Ihnen andere aufgezwungen. Seit einigen Jahren
bildet sich für Sie von neuem eine andere Welt mit anderen Werten. Wir alle
laufen Gefahr, die Dinge unerwachsen zu erleben, zu denken, wir seien einzig,
unser Unglück, unser Glück, das erlittene Unrecht, die neuen Slogans, die aufkommen
(oder aufgezwungen werden), seien einzig. Aber das scheinbar Einzigartige findet
sich auch anderswo, selbst wenn wir es nicht wissen. Und in der ganzen Welt
trachten macht- und profitgierige Einzelne und Gruppen danach, die Bevölkerungen
lebenslang in einem unerwachsenen Zustand zu halten, um sie besser manipulieren
zu können.
Ich komme aus dem Elsaß. Zur Zeit bin ich demnach französischer Bürger. Meine
Region ist sehr schön; sie ist materiell und kulturell (noch) reich. Aber ihre
Geschichte hat sehr schlecht angefangen. In dieser Hinsicht könnte sie eine
Schwester Galiziens sein. Karl der Große hatte drei Enkel, die sein Reich aufteilten.
Ludwig der Deutsche bekam den Osten, Karl der Kahle den Westen und Lothar den
langen Streifen dazwischen, der von Schleswig-Holstein bis Neapel ging. Karl
und Ludwig unterzeichneten im Jahr 842 den SCHWUR VON STRASSBURG (Nichtangriffspakt
und die Garantie gegenseitige Hilfe: das erinnert an den Hitler-Stalin-Pakt!)
... und dann verspeisten sie nach und nach das Reich ihres Bruders Lothar.
Das Elsaß wurde Deutschland einverleibt. Später dann wünschte sich der ruhmsüchtige
französische König Ludwig XIV. gradlinige und natürliche Grenzen. Also eroberte
er das Elsaß und erklärte von der Zaberner Steige herab: Was für ein schöner
Garten! 1870-71 wurde unsere Region militärisch von den Deutschen eingenommen,
1918 von den Franzosen, 1939 von den Deutschen, 1945 von den Franzosen... und
1970 von der Atomindustrie.
Was hat nun meine kleine Familie in den Strudeln dieser geopolitischen militärischen
ideologischen heuchlerischen paranoiden und so wenig wirklich menschlichen
Intrigen gemacht?
Mein Großvater Emil war Steinmetz, ein Protestant, und er hatte seine besten
Freunde unter den Kapuziner-Mönchen des katholischen Klosters gegenüber. Häufig
nahm er den einen oder anderen als Modell für seine Skulpuren, die er für die
Kathedralen von Dresden, Meißen, Straßburg, Zürich, Bern herstellte... Seine
Schwägerin hatte einen Badener (Deutschen) geheiratet, der nach 1870 eingewandert
war. 1918 mußte sie dann mit ihm nach Deutschland auswandern. Der Großvater
Emil starb im Westen Frankreichs, wohin er sich 1939 vor der deutschen WEHRMACHT
geflüchtet hatte. Der andere Großvater, auch ein Emil, Klempner von Beruf, konnte
aus allem und nichts Spielzeug für seine Kinder machen, und er erklärte ihnen
die Welt, indem er Geschichten erfand und bei den Spaziergängen am Flußufer
erzählte. Selbst protestantischer Herkunft, ging er doch ein und aus beim Rabbi,
beim katholischen Priester und beim evangelischen Pastor. Damals war das nichts
besonderes.
Mein Vater, geboren 1896 und ebenfalls mit dem Vornamen Emil geschmückt, wurde
sehr früh ein Internationalist. Eingezogen wider Willen während des ersten Weltkriegs
wurde er 1917 als deutscher Soldat verwundet von einer russischen Kugel, und
es war dann der französische Staat, der ihm bis zu seinem Tod im Alter von 90
Jahren eine Invalidenrente zukommen ließ. Schönes Beispiel der Universalität!
Sehr früh hat er verstanden, daß die Interessen gewisser Machthaber, z.B. der
Magnaten aus der Rüstungsindustrie, transnational waren, also grenzüberschreitend.
Aus seinem Grab schickt uns seine Kugel, dieses kleine Metallstück 2 cm neben
seinem Herzen, in dem Körper, der sich in Staub verwandelt, eine tiefe und schelmische
Mahnung zu. In unserer Familie war man durchaus französisch, aber man wollte
Elsässisch sprechen dürfen und unsere eigene Kultur auf halbem Weg zwischen
Deutschland und Frankreich bewahren. Während der totalitären Epoche unterschieden
wir immer ganz klar zwischen dem Deutschen und dem Nazi.
Meine Mutter Friederike, geboren 1901, ging nur bis zum 14. Lebensjahr in die
Schule. Sie war ausgestattet mit einer unglaublichen Willenskraft. Angetrieben
von einem humanitären Elan hatte sie bei den Nazis erreicht, daß sie täglich
sechzig politische Gefangene vom Lager SCHIRMECK bekochen durfte. Die Gefangenen
arbeiteten in den Jahren 1943-44 an den Eisenbahngeleisen. Bei dieser Gelegenheit
stellte sie selbstverständlich heimlich Verbindung zwischen den Gefangenen
und ihren Familien her, besorgte Medikamente und Zusatznahrung und organisierte
mit Hilfe einiger Führer kleine und größere Fluchten.
Mein Bruder Pierre (Schluß jetzt mit den Emils!) ging aufs Gymnasium in Straßburg.
1943, als er gerade 15 Jahre alt war, holte die GESTAPO alle Jungs aus der Klasse
und brachte sie nach Deutschland, um sie dort in die Flugabwehr (FLAK) einzugliedern.
Mein Bruder wurde Richtkanonier und er sorgte dafür (wie viele seiner elsässischen
Kameraden auch), daß die Geschosse krepierten, bevor sie ein englisches oder
amerikanisches oder kanadisches Flugzeug treffen konnten. Heute noch hat er
vier Narben an der Wade und am Hintern, wo er sich während der letzten Kriegsmonate
seinen eigenen Speichel eingespritzt hatte, um operiert zu werden und nicht
länger an dem mörderischen Wahnsinn teilnehmen zu müssen.
Ich danke allen Mitgliedern meiner Familie, daß sie mich mit ihrem Beispiel
gelehrt haben, NEIN zu sagen zum Inakzeptablen, zum Inhumanen, zur Ungerechtigkeit.
Ich danke ihnen, daß sie sowohl die kritische als auch die tolerante Geisteshaltung
kultiviert haben. Ich danke ihnen, daß sie uns gelehrt haben, selbständig zu
denken und nur außerordentlich vorsichtig irgendwelche Schlußfolgerungen zu
ziehen. Ich danke ihnen, daß sie uns einen Weg gezeigt haben, wie man die Grenzen
zwischen den Menschen sprengen kann, nicht nur jene starren der Staaten, sondern
auch die der Gedanken und der Herzen.
Oft täuschen sich die Staaten über ihre Bevölkerungen oder sie wollen sich
täuschen, weil es ihnen so in den Kram paßt. So wurde uns z.B. im Elsaß während
der Hitlerzeit unter Androhung von Gefängnisstrafen verboten, französisch zu
sprechen oder zu singen. Alle französischen Bücher wurden eingesammelt und eingestampft.
Aber als dann 1945 das Elsaß wieder französisch wurde, übte die französische
Zentralregierung ebenfalls einen gewissen Druck auf die Elsässer aus, um sie
dazu zu bewegen, ihren Dialekt aufzugeben. An allen öffentlichen Orten und in
den Bussen sah man Aufkleber mit dem Slogan FRANZÖSISCH REDEN IST CHIC; während
in den Schulen das strikte Verbot herrschte, elsässisch zu reden, sogar in den
Hofpausen. Das germanische Kulturerbe sollte verschwinden. Der jakobinische
französische Staat hat bis 1990-91 gebraucht, um zu begreifen, daß eine wirkliche
Zweisprachigkeit im Elsaß für das Land nicht nur eine kulturelle Trumpfkarte
ist, sondern auch eine kommerzielle und ökonomische.
Ein anderes Beispiel für Verständnislosig eit: Nach dem zweiten Weltkrieg klassifizierte
der französische Staat meine Eltern und meine Familie ganz generell in die Kategorie
der PATRIOTEN (wohlbemerkt im bedingungslos nationalistischen Sinne!) wegen
ihrer Haltung und ihre Aktivitäten gegen die Nazis. Infolgedessen, als ich dann
für 25 Monate (1960-62) in den Algerienkrieg eingezogen wurde, holte man mich
in den Nachrichtendienst (Abteilung Telephon-Spionage und Pressezensur), weil
man davon ausging, daß die Rettigs Frankreich um jeden Preis dienen würden.
Nun, die regierenden Großkopfeten hatten sich getäuscht. Meine Eltern und mein
Bruder hatten gehandelt aus persönlicher humanistischer und antitotalitärer
Überzeugung und keineswegs im Namen eines blökenden und stumpfsinnigen Nationalismus.
Infolgedessen sah ich mich in Algerien verpflichtet, meine Arbeit durch Reflexion
und freie Entscheidung zu sabotieren, ich ließ viele Informationen durchgehen,
die ich eigentlich hätte zensieren müssen, und ich habe die Fellaghas (Soldaten
der FLN) nicht denunziert, die ich durch meine telefonischen Lauschangriffe
ausfindig gemacht hatte. Ich habe nur Informationen über direkte Vorbereitungen
zu Attentaten weitergegeben. Entscheidungen, die nicht immer leicht fielen.
Meine Motivation war dieselbe wie die meine Eltern und meines Bruders.
Das größte Handicap für einen unehrlichen Staat, der ein Abenteurer ist, opportunistisch,
kriegslüstern, faschistisch, tendenziell totalitär oder antidemokratisch etc.
(das ist nur eine Listen von Beispielen, denn Frankreich war das alles nicht
gleichzeitig), das ist die passive oder aktive Verweigerung der Zustimmung durch
die eigene Bevölkerung.
Wir nähern uns nun dem Thema, das ich im Titel angegeben habe: Regionalismus
und Ökologiebewegung. Ich wollte nur zunächst einmal zeigen, daß die Freuden,
die Schmerzen, die Handlungen, die menschlichen Reaktionen keine in Raum und
Zeit isolierte Elemente sind. Das Elsaß und Galizien sind vielleicht enger verschwistert,
als Sie vermuten. Die Haltung unserer Eltern und unserer Umwelt conditioniert
uns, formt uns mehr als wir denken. Alles ist Glied einer Kette, einer Interaktion.
Es ist gut, sich daran zu erinnern. Ich insistiere auf der Tatsache, daß sehr
oft die Völker zu Irrtümern verführt worden sind (denken Sie nur an das jugoslawische
oder bosnische Drama!), getäuscht, gegeneinander aufgehetzt, obwohl sie doch
ein Interesse hatten und haben, sich zu begegnen, die Sprache des anderen zu
lernen, miteinander zu reden, zusammenzuarbeiten, sich zu helfen, sich in ihren
Besonderheiten zu respektieren.
Ich nenne nur zwei Beispiele für diese falschen Werte, die soviel Blutvergießen
und Unglück verursacht haben: DIE NATIONALE EHRE und DER ERBFEIND. Im 19. und
in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts haben die Intellektuellen, die Politiker,
die Militärs und sogar die Industriellen diese Ideen gebraucht und mißbraucht.
Daß ein unreines Blut unsere Furchen tränken möge! sang Frankreich in seiner
Nationalhymne. Und Deutschland über alles! kündigte Deutschland an. Und das
kleine Elsaß befand sich zwischen beiden, wie zwischen zwei geschiedenen Eltern,
die sich gegenseitig ihre Kinder entreißen wollen.
Warum in drei Teufels Namen seid ihr nicht imstande, den Blick über euer Schüssel
Rand zu heben?! Könnt ihr euch nicht lösen von euren bornierten und mörderischen
Ideen?! De Gaulle wollte ein Europa vom Atlantik bis zum Ural. Mit Adenauer
zusammen arbeitete er an der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich.
Und dann gab es den gemeinsamen Feind, die Sowjetunion, gegen den man sich zusammenschließen
mußte. Aber die Basis, die beiden Bevölkerungen, trafen sie sich? Lernten sie
den Umgang miteinander? Unternahmen sie gemeinsame Dinge, spontan, außerhalb
der Überwachung und des offiziellen Rahmens? Nahmen sie ihr Schicksal als Nachbarn
in die eigene Hand? Die Antwort ist leider negativ.
Es gab den Mai 68, der über Westeuropa brandete, mit seinen Ungeschicktheiten,
gewiß, aber auch mit seinen lebendigen Fragen, seinem Begriff der Partizipation,
seiner Kritik an der bloßen verhärteten Autorität, am Paternalismus, an der
Ausbeutung der Arbeiter, am Lebensideal, das uns die kapitalistische Industriegesellschaft
mit ihrem ungezügelten Liberalismus vorschlug. Die Jungen und viele etwas weniger
Junge begannen von einer humanistischen Revolution zu träumen. Nach langem Zögern
begab sich De Gaulle nach Baden-Baden, um sich der Unterstützung durch General
Massu zu vergewissern, der den Oberbefehl über die in Deutschland stationierten
Truppen hatte. Die Kommunistische Partei Frankreichs und ihre Gewerkschaft,
die CGT, bekamen Angst, sie könnten links überholt werden, und machten gemeinsame
Sache mit der Regierung. Mai 68 hatte gelebt... und man ging wieder an die
Arbeit.
Gleichwohl ging die politische Dimension des Denkens nicht verloren. Und seit
1970 erweiterte es sich um die ökologische Dimension. Es wurde immer klarer,
daß unsere Furchen nicht mit unreinem Blut getränkt werden mußten, denn
sie waren schon gesättigt mit chemischem Dünger, mit Pestiziden, Herbiziden,
Schwermetallen, radioaktivem fallout. Und Deutschland über alles mußte zum
Rückzug blasen, denn die Probleme hatten längst ein planetarisches Ausmaß angenommen!
Man mußte die Meere retten, die Wälder, die Wasserläufe, die Luft, die tropischen
Regenwälder, das genetische Kapital (und das alles geht weiter bis zum heutigen
Tag). Und man mußte kämpfen gegen die Gefahr der Überbevölkerung.
So war zum Beispiel diese hochvergiftete und ekelerregende Kloake namens Rhein
sowohl schweizerisch als auch französisch, deutsch und holländisch. Es genügte
nicht mehr, daß sich die nationalen Offiziellen gegenseitig den Ball der Verantwortlichkeit
zuschoben; jetzt mußten alle Anrainer die Ärmel hochkrempeln und praktische
Maßnahmen ergreifen. Die Kommunen, die Industrie, die Fischer, die Bauern, alle
Interessierten und Benutzer mußten miteinander reden und Lösungen suchen. Das
war noch niemals leicht gewesen, denn die kurzfristigen Interessen gehen oftmals
auseinander. Es bedurfte erst einer Katastrophe, genannt TSCHERNO-BASEL, als
eine Chemiefabrik in Basel (Schweiz) den ganzen Fluß verseuchte, damit die Leute
quasi unter einem notwendigen Elektroschock zu drastischen Maßnahmen bereit
wurden.
Das Elsaß hatte schon immer eine starke Beziehung zur Natur. Aber der Elsässer
ist in seinem Wesen nett und korrekt. Er mußte lernen, sich zur politischen
Kritik aufzuschwingen (nicht immer negativ), den Ton anzuheben, sein Schicksal
selbst in die Hand zu nehmen (er hat schon so oft seine Meister gewechselt!).
Die nationalen und die brüsseler Technokraten planten in ihrer Maßlosigkeit,
das gesamte Rheintal von Rotterdam bis Basel zu industrialisieren und die Wohngebiete
ins Gebirge (Vogesen, Schwarzwald) abzuschieben. Die von der Industrie benötigte
Energie sollte in riesigen Parks mit Atomkraftwerken gewonnen werden. Nach
allem, was wir wußten über die Gefahren der chemischen Umweltzerstörung und
der radioaktiven Verseuchung, war uns klar: Jetzt mußte man etwas wagen, handeln,
die Bevölkerung informieren und sich diesen dämonischen und größenwahnsinnigen
Projekten widersetzen.
So wie der Rhein alle diese Projekte miteinander verband, so gab er nun aber
auch den Badenern, Elsässern und Schweizern Gelegenheit für ganz neue Begegnungen.
Man gründete Komitees und Bürgerinitiativen. Man informierte; man besetzte Tag
und Nacht die Bauplätze; man führte Prozesse gegen die Firmen und gegen den
Staat; man lebte eine ganz reale grenzüberschreitende Zusammenarbeit...; und
alle entdeckten, aufgeweckt durch die ökologischen Realitäten, die gemeinsamen
Interessen der Bevölkerung in der Region, oft kulturelle, manchmal sprachliche
und immer menschliche. Die ökologische Bewegung will nicht den Staat zerstören
und die Kultur auflösen, das Land verwandeln in ein formloses Magma ohne Geschmack,
ohne Tradition, ohne sozialen Zusammenhang. Ganz im Gegenteil! Aber sie hat
immer für eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Probleme und der Lösungen
plädiert. Damit das hohle Gerede aufhört und stattdessen die Flüsse gerettet
werden, das Grundwasser, die Wälder, die Luft und die menschliche Gesundheit,
müssen die Staaten ein Gutteil ihrer Starre beenden und sich ernsthaft um die
Konsequenzen ihrer Handlungen für Land und Leute und Nachbarländer kümmern.
Frankreich, das Land, in dem ich wohne, hat in dieser Hinsicht noch sehr viele
Fortschritte zu machen.
Im Lauf unserer Kämpfe haben die, die es noch nicht wußten, entdeckt, daß die
wirklichen Grenzen nicht jene sind, welche die Machthaber zwischen den Bevölkerungen
unserer Länder gezogen haben, sondern jene, die existierten und immer noch existieren,
oft unsichtbar, im Inneren jedes Landes, zwischen der Bevölkerung und den Lobbies,
den Interessengruppen. Ich erinnere mich immer an jenen badischen (also deutschen)
Winzer, der, nach monatelanger gemeinsamer Aktion und Platzbesetzung also
auch nach monatelangem Austausch und Umgang mit Elsässerinnen und Elsässern
ausrief: Ich habe entdeckt, daß wir Brüder sind, daß wir geschaffen sind,
zusammen zu leben, daß uns die Politiker und die großen Führer der Vergangenheit
belogen haben. Wenn ich daran denke, daß wir einmal aufeinander geschossen haben
über den Rhein! Was für eine Verrücktheit! Wenn die großen Herren in Bonn und
Paris eines sowas eines Tages wieder machen würden, werden wir NEIN sagen, wir
marschieren nicht mehr, denn wir haben etwas anderes gelebt. Mögen sich diese
guten Einsichten doch über die ganze Welt verbreiten (er ist ja so klein, unser
Planet!). Möge die Erinnerung nicht verblassen. Ich werde nun in 6 Fällen den
Kampf beschreiben, der in der Region des Oberrhein stattgefunden hat. Ich spreche
also von einer Periode ungefähr zwischen 1970 und 1980 mit gelegentlichen Ausläufern
in die 80er Jahre.
1. Im Juli 1970 wurde bekannt, daß bei Fessenheim im Elsaß ein Atomkraftwerk
mit 2 Reaktorblöcken gebaut werden sollte. Es ist das einzige Projekt dieser
Art, das am Oberrhein realisiert werden konnte. Die ebenfalls vorgesehenen Reaktorblöcke
3 und 4 konnten verhindert werden. Der Kampf gegen Block 1 und 2 geht weiter
und wird erst mit Schließung beendet, nach dem Einstieg in den Ausstieg aus
der französischen Nuklearpolitik.
2. Im Frühling 1971 gab die Landesregierung von Baden.Württemberg bekannt,
daß auf dem rechten Rheinufer in Breisach 4 Reaktorblöcke gebaut werden sollten.
Im Mai entstand dann völlig unerwartet in der Bevölkerung ein ständig wachsender
Widerstand gegen dieses Projekt.
3. Im Sommer 1974 wollte die deutsche Firma CHEMISCHE WERKE MÜNCHEN bei MARCKOLSHEIM,
auf der elsässischen Seite und 15 km von Breisach entfernt ein Bleichemiewerk
bauen. Zuvor war das Projekt schon von 3 anderen französischen und deutschen
Gemeinden abgelehnt worden. Eine fünfmonatige Platzbesetzung durch die Bevölkerung
beendete das Projekt.
4. Ende 1973 feierte das in Breisach gescheiterte Nuklearprojekt in Wyhl (Baden)
zwischen Breisach und Straßburg seine Auferstehung. Demonstrationen, Round-Table-Debatten,
massive Konfrontation mit der Polizei, länger als 1 Jahr Platzbesetzung, Prozesse
und ein ständig wachsender Druck aus der Bevölkerung erreichten, daß die Firma
BADENWERK und die Regierung von BADEN-WÜRTTEMBERG nachgeben mußten. Kein Atomkraftwerk
in Wyhl!
5. Seit 1966 versucht die Firma MOTOR COLUMBUS AG ein Atomkraftwerk in KAISERAUGST
zu bauen, 19 km von Basel entfernt auf der schweizer Rheinseite. Viele Versammlungen
und Gegenversammlungen, Voten und Diskussionen, wie es die schweizer Verfassung
erlaubt. 1970 erfahren auch Elsässer und Badener von dem schweizer Atom-Projekt.
Baubeginn am 24.März 1975, am 1.April werden die Bauerbeiten blockiert und der
Platz wird von der Bevölkerung besetzt, und zwar bis zum 19.Mai 1975. Heute
ist das Atomkraftwerk immer noch nicht gebaut.
6. Damals existierte eine Liste mit Orten am Oberrhein, die für weitere Atomkraftwerke
in Betracht kamen. Im Dezember 1976 errichtete die ELECTRICITÉ DE FRANCE auf
einem Platz bei GERSTHEIM (Elsaß) zwischen Wyhl und Straßburg einen meteorologischen
Mast, das deutliche Zeichen, daß hier gebaut werden sollte. In der Tat fanden
sich beim Bürgermeister Pläne für 4 Reaktorblöcke für jeweils 1300 Megawatt.
Sieben Monate Platzbesetzung. Der Mast wird abgebaut, das Projekt ist in der
Bevölkerung bekannt geworden und wird abgewiesen.
Diese sechs Felder der Kämpfe und des ökologischen Engagements waren wie gesagt
eine Schule des Lebens, des Bürgersinns, der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit,
der Bewußtwerdung von Grundwerten, der Entwicklung und Weiterbildung eines jeden.
Die Kaste der Entscheider und Bestimmer, die sich grundsätzlich eine Verfügungsgewalt
anmaßen über Leben und Schicksal der Menschen, sah sich konfrontiert mit einer
Bevölkerung, die hellwach war, erfinderisch, funkelnd, couragiert, zutiefst
gewaltfrei und zivilisiert. Die Technokraten und Utopisten der Überentwicklung
mußten sich auf den gesunden Menschenverstand anständiger Leute einstellen.
Diese Aktionen waren und werden es auch künftig weiterhin sein: grenzüberschreitend,
auch wenn es den Nationalisten und anderen, die Haß und Entzweiung säen, nicht
gefällt. Die Liebe und die Achtung vor den natürlichen Elementen (Wasser, Luft,
Erde, Raum-), notwendige Voraussetzungen für ein lebenswertes Leben, schließen
Liebe und Achtung des Nachbarn ein, Teilhabe an seiner Kultur, lernbereites
Interesse an seiner Sprache. Wir haben mit einem großen Gelächter geantwortet,
als Herr Sicurani, der Präfekt der Region Elsaß, den Deutschen vom rechten Rheinufer
verbieten wollte, die Grenze zu überschreiten, um uns Elsässern im Kampf gegen
das deutsche Projekt (!) eines Bleichemiewerks zu helfen. Unverzüglich war die
Rheinbrücke von Deutschen und Franzosen gemeinsam besetzt, und der Verkehr kam
vollkommen zum Stillstand. Der Präfekt mußte einen Rückzug antreten, gefangen
in der Falle seiner eigenen Ungerechtigkeit. Das Geld und die Umweltzerstörung
kennen keine Grenzen. Warum also sollten sich die Bevölkerungen trennen lassen?
In jener Epoche war das Thema Ökologie vollkommen neu, und unsere Rebellion
gegen die kriminellen Projekte, welche die öffentliche Gesundheit bedrohten,
kam vollkommen unerwartet. Erst die Berichte über die Sache selbst und unsere
Aktionen haben dafür gesorgt, daß ökologisches Denken im Bewußtsein der Leute
Einlaß fand. Jahrelang kamen alle Ideen und Initiativen von unten. Keine einzige
politische Partei hatte sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt, geschweige
denn engagiert. Die Kommunisten z.B., sowohl die nach Moskau als auch die nach
Peking orientierten, wollten schon ganz gerne teilhaben an der Popularität der
Revolte, hier, im Westen, aber gleichzeitig mußten sie die Atomindustrie loben
in ihrer jeweiligen politischen Heimat, in Peking also oder in Moskau... Insgesamt
kann man sagen, unsere Politiker vom Bürgermeister bis zum Abgeordneten waren
kaum informiert in den ökologischen Fragen. Für lange Zeit hatten diese eh nichts
gegolten, warum also jetzt sich in Schwierigkeiten bringen, d.h. im Gegensatz
zu den offiziellen Thesen? Die Politiker, wenn sie nicht von der Basis in den
Hintern getreten werden, bleiben in ihrer Mehrheit doch recht klassisch, also
Karrieristen.
Von den drei Ländern, von denen wir sprechen, hat Frankreich noch am meisten
mit einer Art Kabinettspolitik zu kämpfen. Das Volk schwätzen lassen, aber
dann um jeden Preis realisieren das, was die großen Geister aus der ECOLE NATIONALE
DE LADMINISTRATION, aus der POLYTECHNIQUE und aus dem SERVICE DES MINES in
den Kulissen ausgekocht haben. Alle Entscheidungen, die z.B. die Atompolitik
betreffen, werden per Regierungsdekret gefällt und nicht durch parlamentarische
Entscheidungen. Denk nicht! Akzeptiere! Und sei still! Während der jahrelangen
Kämpfe haben wir, die Bürgerinitiativen und die badische, schweizerisch und
elsässische Bevölkerung, eine Menge Dinge lernen müssen.
Von höchster Bedeutung war für uns, daß es uns gelungen ist, in denselben Aktionen
verschiedene Menschen zu einigen, Junge und Alte, Städter und Dörfler, Intellektuelle
und Bauern, Wissenschaftler und Künstler, denn unsere Gegner hatten das Interesse,
die Bevölkerung zu spalten, um besser regieren und die Projekte durchziehen
zu können. Das gegenseitige Vertrauen mußte langsam aufgebaut werden, und es
brauchte Fingerspitzengefühl und sehr viel Geduld. Jeder hat gelernt, jeder
mußte sich öffnen und seine eigenen Werte relativieren. Der sogenannte Kommunist
erschien etwas weniger teuflisch (ein Problem der Deutschen); der Bauer und
der Winzer wurde ein bißchen Student; der Student fand Geschmack am Acker, lernte
die Mistgabel zu händeln und die Axt- und etwas einfacher zu reden.
Im Rahmen der Wyhler Geschichte wurde die Volkshochschule Wyhler Wald gegründet,
die zunächst für Kultur sorgte auf dem besetzten Platz, dann, im Lauf der Jahre
auch in den Dörfern der Umgebung. Viefalt der Themen und Unterschiedlichkeit
der Vortragenden, nicht nur Deutsche und Franzosen, ebenso amerikanische Wissenschaftler,
Indianer, buddhistische Mönche, persische Ärzte, Ökologen aus Brasilien. Eine
pragmatische und fruchtbare Brüderlichkeit.
Im Gegensatz zu jenem Schwur von Straßburg von 842 ich habe zu Beginn davon
gesprochen haben im Rahmen der Auseinandersetzung um Gerstheim 60 Gemeinden
vor den deutschen und französischen Medien einen Pakt für gegenseitige Hilfe
unterzeichnet, um das Nuklear-Projekt zu verhindern. Im Gegensatz zu Karl dem
Kahlen und Ludwig dem Deutschen hatten wir keine heimlichen Hintergedanken;
wir handelten im Interesse der Bewohner dieser Region und ihrer Nachkommen.
Das wurde dann der Schwur des Volkes von Gerstheim. Wir haben außerdem begriffen,
daß Erfolge andere Erfolge nach sich ziehen. Denn viele Leute kommen nur, wenn
sie sehen, daß auch gewonnen wird.
Der Kampf um Fessenheim, der immer noch andauert, hat uns gezeigt, daß man
immer mindestens einen Teil der Einwohner in einer betroffenen Gemeinde auf
seiner Seite haben muß. Es genügt nicht, mit Tausenden, die von auswärts angereist
sind, zu demonstrieren. Aus diesem Grund trachtet ja auch die Industrie danach,
die Leute in einer betroffenen Gemeinde zu kaufen. Des weiteren genügt es nicht,
immer nur unter seinesgleichen zu bleiben, unter Ökologen. Man muß das Interesse
wecken bei allen Gruppen der Bevölkerung, sonst wird man marginalisiert. Tausende
in unserer Region konnten aus nächster Nähe studieren, wie die Technokraten
und Spezialisten bereit sind, Lügen und Halbwahrheiten zu verbreiten, aus
professioneller Disziplin, aus Gewinnsucht, oder einfach, weil sie zu einer
speziellen Kaste gehören. Aber diese einfachen Leute aus dem Volk, lassen sich
jetzt keine Märchen mehr erzählen; sie haben nicht mehr dieses Unterlegenheitsgefühl;
sie können jetzt öffentlich reden und die Gekauften demaskieren.
Muß man es sagen? Es gab finanziell nichts zu gewinnen bei unseren Aktionen.
Im Gegenteil, sehr viele Leute haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus eigener
Tasche in die Bewegung investiert. Wie die Geburt, der Tod, die Liebe, die Freude,
der Sonnenaufgang, die angenehme Landschaft... unser Unternehmen war und bleibt
gratis. Aber es ist natürlich ganz normal, daß immer mehr Menschen künftig ihren
Lebensunterhalt verdienen, indem sie Sonnenkollektoren bauen, Windmotoren, Isolationen
etc.... Denn wir wollen nicht nur Nein sagen. Unsere Aufgabe ist es, auch Alternativen
aufzuzeigen. So würden zum Beispiel Gasturbinen sehr gut die Reaktoren von Tschernobyl
ersetzen, selbst wenn FRAMATOME, SIEMENS, ELECTRICITE DE FRANCE um jeden Preis
euch schon wieder Atomkraftwerke verkaufen wollen. Laßt Euch nicht hereinlegen:
Nicht alles, was im Westen glänzt, ist Gold! Wenn man darauf wartet, daß man
für die Rettung des Astes, auf dem man sitzt, auch noch bezahlt wird, dann kann
das bös enden.
Ach, fast hätte ich es vergessen! Eines Tages veröffentlichte ein Geschichtsprofessor
und Politiker im Elsaß einen Zeitungsartikel, in dem er sagte, wir, die Gegener
der Atomindustrie, würden vom KGB bezahlt. Wir haben einen Prozeß wegen Beleidigung
angestrengt und haben ihn gewonnen.
Ein Prinzip unserer Kämpfe war immer die Gewaltlosigkeit. Warum? Zunächst einmal,
weil unsere Gegner bedeutend mehr Mittel haben, um wirklich gewalttätig zu werden.
Sie schicken dann andere, um die Drecksarbeit machen zu lassen. Zweitens weil
wir denken, daß die Gewalt die Menschen nicht verändert. Wenn wir gewalttätig
sind, liefern wir unseren Gegnern alle Rechtfertigungen für noch mehr Gewalt
von seiner Seite. Aber umgekehrt, wenn wir den anderen Weg wählen, bieten wir
ihm eine Gelegenheit, nachzudenken, sich zu ändern, oder aber, wenn er halsstarrig
bleibt, in aller Öffentlichkeit sein wahres Gesicht der Ungerechtigkeit zu zeigen
und nach und nach die Sympathie der Leute zu verlieren. Der Ministerpräsident
des Landes Baden-Württemberg, Hans Filbinger, hat während der Wyhler Geschichte
diese Erfahrung gemacht. Seine Lügen und seine Polizeigewalt haben ihm politisch
das Genick gebrochen. Er wollte sich nicht ändern.
Die gewaltfreie Methode hat gleichwohl nichts zu tun mit Naivität und Schlaffheit;
im Gegenteil, sie braucht die genaue Analyse, Kreativität, Beweglichkeit, Psychologie,
Mut und den Geist der Solidarität. Es ist keineswegs verboten, die Kraft des
Gegners auszubeuten, um sie möglicherweise zu neutralisieren. Immer ist es ratsam,
den Dialog zu suchen. Man muß dem Gegener einen Ausweg lassen. Unser Ziel ist
nicht der Haß, sondern Wahrheit und Gerechtigkeit. Auch der gerechte Zorn hat
seinen Platz in diesem Prozeß, denn der kühle Verstand allein genügt vielen
nicht als Antrieb, wenn sie den Graben überspringen wollen vom Gedanken zur
Tat. Aber dieser Zorn muß sich beherrschen können und darf nicht das Ziel aus
den Augen verlieren. Man könnte auch sagen, je größer die Zahl der aktiven Teilnehmer
ist, desto schwerer wird es dem Gegner, über eine derartige Bewegung einfach
hinwegzugehen. Schließlich, die Praxis hat gezeigt, daß es immer von Vorteil
ist, auf zwei oder mehreren Pfaden voranzugehen (Information, Dialog, direkte
Aktion, Besetzung, Prozeß, Beteiligung an Wahlen etc.), und nicht nur auf einem,
denn der Gegner trachtet immer danach, uns direkt anzugehen oder zu umgehen.
Hier halte ich inne. Obwohl das Erlebte in Wirklichkeit zwingender war und
reicher als das, wovon ich Ihnen mit meinen Darlegungen eine Ahnung zu geben
versucht habe.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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20
2001
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