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Mykola Rjabtschuk

Der Zaun von Metternichs Garten

© Mykola Rjabtschuk, 1997

Als der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer im Jahre 1949 sagte, Asien stünde schon jenseits der Elbe, hat er nur einen alten Gedanken neu formuliert, nämlich die Idee seines österreichischen Kanzler-Kollegen Metternich, der ein Jahrhundert zuvor halb scherzhaft meinte: “Asien fängt gleich hinter meinem Gartenzaun an” – also hinter den östlichen Vorstädten von Wien. Für beide bedeutete “Asien” etwas Fremdes, Barbarisches, eine Bedrohung der europäischen Zivilisation. Für Metternich war der ganze Raum östlich von Wien kulturell minderwertig und verdächtig. Wie die meisten seiner Zeitgenossen war er davon überzeugt, dass die Grenzen der Zivilisation mit den Grenzen der romano-germanischen Welt identisch seien.

Für Adenauer bedeutete “Asien” jedoch noch mehr. Er wusste ja ganz genau, dass östlich der Elbe Ostdeutschland liegt, das sich – damals jedenfalls noch – kaum von Westdeutschland unterschied. Mit “Asien jenseits der Elbe” meinte Adenauer vor allem eine politische Realität, die mit den sowjetischen Panzern ins Innere Europas eingedrungen und den “befreiten” Völkern mit Gewalt, Erpressung und Betrug aufgezwungen worden war. “Asien” bedeutete für ihn nicht bloß eine andere Zivilisation – wenn auch fremd und minderwertig wie für Metternich – sondern gar keine Zivilisation, beziehungsweise eine Art Anti-Zivilisation, die den Grundwerten der westlichen Zivilisation fundamental entgegenstand.

Seither verschmolzen in der westlichen Wahrnehmung von Osteuropa beide Standpunkte, der von Adenauer und der von Metternich. Einerseits hat der Westen immer gewusst, dass östlich der Elbe und hinter Metternichs Garten durchaus auch Europa liegt, wenn auch ein wesentlich ärmeres und vernachlässigtes. Man wusste, dass dieses Europa seinen “asiatischen” Status nicht freiwillig akzeptierte, ganz im Gegenteil, dass es immer wieder mit allen erdenklichen Mitteln versuchte, diesen Status loszuwerden. Aber andererseits hatte der Westen immer so ein Gefühl, dass mit diesem östlichen Europa nicht alles in Ordnung sei, da es ja zugelassen hatte, von den Sowjets verschlungen zu werden, und nicht nur von den Sowjets – immer wieder im Laufe seiner langen Sklavengeschichte. Wahrscheinlich war es selber daran schuld, möglicherweise hatte es eine perverse Neigung zur Unterjochung und war deshalb naturgemäß dazu verurteilt, permanente politische Gewalt zu erleiden. Jedenfalls war es nicht “so wie wir”, die Westeuropäer, sondern minderwertiger und keinesfalls europäisch genug. Möglicherweise würde dieses östliche Europa eines Tages ein echtes “Europäertum” erreichen, vielleicht würde es sich aber auch irgendwann im Sog Asiens ganz und gar auflösen. Eine Gelegenheit hatte Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg vepasst, jetzt musste es dafür büßen – selber schuld.

So etwa sah die Logik der Westler aus, ein komisches Gemisch aus nüchternen Erwägungen und fragwürdigen, wenn nicht gar rassistischen Spekulationen. Ein schlechtes Gewissen ist sehr erfinderisch. Die Haltung Metternichs gibt den Menschen jenseits des Zaunes eine gute Rechtfertigung für ihre Überheblichkeit, versöhnt sie mit dem Münchner Verrat und mit Jalta, liefert eine bequeme Ausrede für die Nichteinmischung in die sowjetischen “inneren Angelegenheiten”, ganz gleich ob es sich wie Anfang der 20er Jahre um die Vernichtung der ukrainischen, georgischen und armenischen Unabhängigkeit handelte, oder um den Einmarsch in Budapest (1956) oder in Prag (1968). Diese Haltung hat Lloyd George sehr drastisch ausgedrückt, als er meinte, Großbritannien sei bereit, mit jedem Handel zu betreiben, notfalls auch mit Kannibalen (Geld stinkt nicht), und auch Roosevelt lag auf dieser Linie, als er ausgerechnet 1933 beschloss, diplomatische Kontakte zu Russland aufzubauen, ausgerechnet in der Zeit der großen Hungersnot, die in der Ukraine von den Kreml-”Kannibalen” beziehungsweise von den künftigen Handelspartnern des Westens organisiert worden war.

Diese Haltung ist quasi aphoristisch dokumentiert in einem Geheimbericht des britischen Außenministeriums von 1933: “In der Tat verfügen wir über gewisse Informationen bezüglich einer Hungersnot im südlichen Teil Russlands (so nannten die britischen Herren die Ukraine), die auch in den Zeitungen erwähnt wird... Wir möchten sie aber ungern preisgeben, da dies womöglich die sowjetische Regierung irritieren könnte, was dann zu einer Verschlechtung unserer Beziehungen führen müsste”.

Natürlich ist Osteuropa kein abgelegener Ort wie beispielsweise Tschetschenien, Georgien, Armenien oder Kurdistan. Ungeachtet seiner “Minderwertigkeit” liegt es immerhin in Europa, und seine Nichtexistenz wäre weitaus gefährlicher, auch wenn seine Existenz dem Westen immer Kopfschmerzen bereitet hat. Denn nicht ein wie auch immer geartetes gemeinsames Kulturerbe, sondern die “Gefahr aus dem Osten” hat West- und Osteuropäer immer wieder geeint. “Asien” – das geheimnisvolle Andere – förderte die Ausbildung der gemeinsamen europäischen Identität. Und obwohl die Westler immer wussten, dass das echte Europa hinter Wien und jenseits der Elbe endet, war ihnen ein unechtes Europa als Nachbar allemal lieber als das allerechteste Asien.

Dementsprechend war die westliche Politik in bezug auf Osteuropa immer ambivalent, wenn nicht gar zweideutig. Einerseits waren die Westeuropaer immer davon überzeugt, dass ihre östlichen Nachbarn ihr Schicksal verdienten (jedes Volk hat bekanntlich die Regierung, die es verdient), aber andererseits haben sie auch durchaus gespürt, dass die Osteuropäer, die einer “asiatischen” Dominanz verzweifelt Widerstand leisteten, auch nützlich sein könnten und schon deshalb Sympathie und Hilfe verdienten – zumindest im Rahmen dessen, was seinerzeit das britische Außenministerium festgelegt hatte: die sowjetische Regierung darf nicht gereizt, die Beziehungen mit ihr nicht gestört, der künftige Handel mit den “Kannibalen” darf nicht beschädigt werden.

Keine Frage, im Westen fehlte es derweil nie an Intellektuellen, die sich dem Osten durch Beruf, Freundschaft oder Familie eng verbunden fühlten. Ihnen war das östliche Europa ein ganz echtes, echter vielleicht sogar als das westliche. Sie veranstalteten Demonstrationen vor den sowjetischen Botschaften, sie gründeten verschiedene Komitees zum Schutz von osteuropäischen Dissidenten mit unaussprechlichen Namen, sie unterzeichneten Aufrufe und veröffentlichten Artikel, sie besuchten osteuropäische Hauptstädte und schmuggelten subversive Literatur; sie wurden osteuropäischer als die Osteuropäer selbst – white indians sozusagen. Einige von ihnen glaubten sogar, dass dieser Teil des Kontinents vormals ein Multi-Kulti-Paradies der sprachlichen und ethnischen Vielfalt und Verträglichkeit war, das ungeheure kulturelle und intellektuelle Schätze hervorgebracht hat, und dass Osteuropa trotz Totalitarismus, oder vielleicht gerade deswegen (als Reaktion auf Unterdrückung), ein Land mit “großartiger geistiger Spannung” sei. Diese Ansichten allerdings gingen niemals über den engen Kreis von Spezialisten und Mitgliedern der osteuropäischen Diaspora hinaus.

Die zweideutige Haltung des Westens gegenüber Osteuropa war immer bestimmt von der Geopolitik, d.h. von kühler Berechnung nach dem uralten Grundsatz “charity begins at home”. Eine ganz verständliche Position und keineswegs tadelnswert. Wirklich übel allerdings ist eine Art “liberal-demokratische” Heuchelei auf westlicher Seite und die Anwendung von zweierlei Maßstäben: Die amerikanischen Nationalisten dürfen beispielsweise gegen das Vordringen der spanischen Sprache in den USA kämpfen, und keiner wird sie deshalb anklagen. Hingegen gilt jeder Ukrainer, der nicht möchte, dass in seinem Land die russische Sprache herrscht, als Steinzeit-Nationalist und Fortschrittsfeind. Die Deutschen beeilen sich ja auch nicht gerade, der türkische Sprache einen offiziellen Status zu verleihen, und die Franzosen verhalten sich ähnlich reserviert den arabischen Sprachen gegenüber... Leider erkennen viele Osteuropäer diese westliche Doppelzüngigkeit nicht und nehmen die liberal-demokratische Rhetorik für bare Münze. Dementsprechend erwarten sie vom Westen viel mehr, als dieser geben kann und will. Und wenn die enttäuschten Liebenden dann das nicht bekommen, was sie begehren, verfallen sie ins andere Extreme, in antiwestliche Xenophobie, Isolationismus, Autarkie-Fantasien.

Die Frage, ob die westliche Zivilisation allen anderen Zivilisationen überlegen sei, ist nicht ganz einfach zu beantworten, und die Apostel des Post-Kolonialismus revidieren zur Zeit erfolgreich diesen Standpunkt. Mit gutem Grund haben sie die extremen Formen von Eurozentrismus mit Rassismus, Kolonialismus und dem Streben nach Dominanz des Westens über einen dämonisierten und marginalisierten Osten gleichgesetzt. Ein reiner Westzentrismus à la Denis de Rougemont befand sich außerhalb der “political correctness”, aber der Streit um die Beziehungen zwischen Osten und Westen hörte nicht auf. Die Apologeten des Eurozentrismus haben die Taktik etwas geändert, sie ertappten ihre Widersacher bei verschiedenen Übertreibungen, offenen Dummheiten und verborgener Paranoia. Und das Wichtigste – sie haben nicht ohne Grund auf die Gefahr des Relativismus hingewiesen, die in der Anerkennung der “Gleichberechtigung” aller Kulturen und Zivilisationen steckt, auf die Gefahr von Chaos und Entropie, die der Verzicht auf Wertkriterien und Werthierarchien nach sich zieht.

Es ist in der Tat, ein kompliziertes Problem, das einer besonderen Diskussion bedarf. Ich möchte mich an dieser Stelle auf eine einfache Feststellung beschränken: Die Ukraine ist ein Teil Europas und der modernen Welt, es gibt keine Rückkehr in irgend ein “Goldenes Zeitalter” der Vormoderne. Die heutige Welt wurde maßgeblich vom “Okzident” geprägt, und ganz unabhängig davon, ob wir die westliche Zivilisation für “größer” oder “besser” halten als andere, oder vielleicht nur nur für dynamischer, agressiver und sehr geeignet, Dominanz zu etablieren, müssen wir zugeben, dass gerade der Westen weltweit die Spielregeln bestimmt, und dass es aus dieser Welt keinen Ausgang mehr gibt, der einen Weg öffnen würde zurück zum “verlorenen Paradies” der traditionellen Gesellschaften. Alle Versuche in dieser Richtung (als ein natürlicher Reflex auf negativen Auswirkungen der Modernisierung) erwiesen sich im besten Fall (in der Theorie) als rührende Utopien, im schlechten Fall (in der Praxis) als blutige Selbstkarikaturen und als eine pathologische Fortsetzung derselben “okzidentalen” Modernität, gegen welche sie gerade protestiert hatten – in quasi-“orientalen”, despotischen Formen.

Der modernisierte Westen befreite in gewissem Sinne die Welt von der traditionellen “Unschuld”, fürte sie heraus aus einer sich zyklisch wiederholenden biologischen oder mythischen Zeit in eine historische Zeit, brachte sie dazu, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu kosten und sich mit dem Problem der individuellen, praktisch unbegrenzten, rationalen Wahl auseinanderzusetzten. Wie immer auch unsere Einstellung zu dieser modernen Welt sein mag, wir müssen zweierlei akzeptieren:

Erstens: diese Welt ist global, niemand kann sich von ihr isolieren, oder mehr noch: sich ihr radikal entgegenstemmen; natürlich wird jeder seinen Weg suchen, aber im Rahmen dieser modernen, “okzidentalen” Welt, wie groß auch immer unsere Zweifel und Vorurteile ihren Regeln gegenüber sein mögen, und wie radikal auch immer unsere Versuche seien, diese zu revidieren. Revision der Regeln ist durchaus zulässig und wünschenswert, aber eher im japanischen Sinne als im irakischen, iranischen oder nordkoreanischen.

Zweitens müssen wir einsehen, dass, wie perspektivlos und gescheitert uns auch diese globale Zivilisation erscheint, wir nicht irgendwohin “hinaus” fliehen können, um uns vor ihr zu retten oder auf sie von außen einzuwirken. Alle prinzipiellen Veränderungen sind nur von innen heraus möglich, gemeinsam und im vorgegebenen Rahmen.

In diesem Kontext also wird eine nüchterne Einstellung der Osteuropäer dem Westen gegenüber weder feindselig noch pink-optimistisch sein. Sie sollte ebenso ambivalent sein wie die westlichen Haltungen uns gegenüber. Der Westen ist kein “Guter Onkel”, er ist überhaupt nicht “gut”. Er ist das “kleinere Übel” verglichen mit dem asiatischen, das von Osten herüber schimmert. Und auf dieser Grundlage von Nüchternheit und Berechnung sollten die Beziehungen der Osteuropäer (also auch der Ukrainer) zum Westen aufgebaut werden. Andernfalls müssten die Osteuropäer (wie schon so oft in ihrer Geschichte) die undankbare Rolle der verratenen Geliebten spielen.

Der Westen war und bleibt immer ein strategischer Partner für die Osteuropäer – jedenfalls soweit sich die Interessen von Ost- und Westeuropa entsprechen. Es wäre aber sehr naiv, zu hoffen, dass diese Interessen identisch sein könnten. Man darf sich nicht blind und ohne Vorbehalt auf den Westen verlassen – sonst werden die Osteuropäer wieder zu Opfern eines neuen Jalta, München oder eines neuen Molotow-Ribbentrop-Paktes. Der Westen findet immer jede Menge Rechtfertigungen, um seine osteuropäischen Verbündeten zu verraten, wenn es ihm nötig oder profitabel erscheint, oder wenn irgend ein “russophiler Präsident” eine Laune hat. “Might makes right” – diese angelsächsische Spruchweisheit sollten sich auch die Osteuropäer merken.

Was hat Osteuropa dem Westen zu bieten? Geopolitische Stabilität? Bis zu einem gewissen Grade – ja, obwohl der wichtigste Spieler in der Region zweifellos Russland ist und bleiben wird. Aber von dem, was hier geschieht, hängt auch in Zukunft Sicherheit und Stabilität des europäischen Kontinents ab. Der Russozentrismus wird also auch weiterhin in der westeuropäischen Politik dominieren und wird weiterhin Osteuropa die traditionelle Rolle eines “cordon sanitaire” zuteilen, wenn auch um einige Kilometer weiter nach Osten verlegt, zur Ukraine und Baltikum.

Hat Osteuropa dem Westen wirtschaftlich etwas zu bieten? Kaum, hier gibt es (verglichen mit Russland) keine wichtigen Rohstoffe, der Markt für westliche Produktion ist begrenzt durch niedrige Kaufkraft, die lokale Produktion ist nicht konkurrenzfähig, und die billige osteuropäische Arbeitskraft brauchen die Westeuropäer ebenso wenig wie die billigen osteuropäischen Produkte.

Vielleicht könnten wir den Westen für unsere Kultur interessieren? Diese letzte, wenn nicht die einzige Festung, in die sich die Osteuropäer nach den jeweiligen historischen Niederschlägen zurückgezogen haben, um ihre imaginäre Staatlichkeit zu pflegen, ihr imaginäres Europäertum, ihre imaginäre – “innere” – Freiheit? Und in der Tat, in diesem Bereich können sie das Maximum anbieten: die letzten Jahrzehnte des “verfaulten Kommunismus” zeichneten sich in diesen Ländern durch einen unerhörten kulturellen Aufschwung aus, in legalen, halblegalen und illegalen Formen. “Sowjetrussland, – schrieb 1984 der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski (1) , – hat in unserem Teil Europas die verschiedensten Dinge entstehen lassen. Es hat Spitzel, Verräter, Lügner, Zensoren und Faulpelze hervorgebracht, die nicht arbeiten wollen. Aber es hat, ganz ohne es zu wollen, bei stärkeren, von Gottes Gnaden edleren Menschen auch wunderbare Dinge gezeitigt, hat ihnen einen Heißhunger nach Wahrheit, Freiheit, Würde, nach Büchern und Bildern, nach Europa geweckt. Und genau so existiert Europa in Mitteleuropa – in der Phantasie, der Hoffnung, der Illusion – und im Hunger... Die große Sehnsucht nach Kultur, die in unserem Teil Europas so stark spürbar ist, gehört zu den paradoxen Folgen der Sowjetisierung”.

Natürlich können die Produktionen unserer Hochkultur im Westen nur für einen begrenzten Kreis von Intellektuellen interessant sein. Eine günstige politische Konjunktur beförderte in den 70er und 80er Jahren allerlei osteuropäische Bücher, Filme, Gemälde auf den westlichen Markt. Allerdings förderte dieselbe Konjunktur auch bei den osteuropäischen Intellektuellen die Tendenz zur Auswanderung. Einige Namen kamen dank der Medien sogar in Mode, aber das hat ihre Werke selbst kaum populär gemacht, ausgenommen bei einer kleine Zahl von Künstlern wie Kundera, Forman oder Polianski, die sehr schnell die Spielregeln lernten und sich der Massenkultur zuwandten.

Symptomatisch, dass noch 1989/1990, als die osteuropäische Mode im Westen ihren Höhepunkt erreichte, Tony Judt darüber klagte, dass “die ganze Sache in den Händen von östlichen und westlichen Zivilisationsliteraten bleibt, aber letztendlich – so beruhigte er sich dann wieder – geht die Mode vorüber, und die Paperback-Übersetzungen bleiben – eine ganze Bibliothek lebender und toter Autoren, von denen die westliche Leser bisher keine Ahnung hatten”.

Aber die phantastischen Bibliotheken in den USA verbinden sich auch mit phantastischer Ignoranz. Ich habe viele amerikanische Studenten getroffen, die keine Ahnung hatten, wer Goethe, Faust oder Gogol ist. Ihre Ahnung von Brodski, Milosz, Pawytsch und Szymborska ist nicht größer – ungeachtet der überraschend großen Menge von Paperbacks... (Anscheinend ist es nur Havel gelungen, berühmt zu werden, was er aber wohl vor allem seinem neuen Beruf zu verdanken hat). Aber sogar diese begrenzte Popularität der Osteuropäer im Westen, nimmt schon wieder ab. Die russischen Panzer stehen nicht mehr an der Elbe und auch nicht an der Weichsel, also sehen die westlichen Massenmedien keinen Grund, Gespräche mit osteuropäischen Intellektuellen zu veranstalten. Und es gibt auch keine neuen Stars nach 1989 in Osteuropa (es sei denn, man nimmt Siuganow, Lebed, Schirinowski oder Lukaschenko für Stars!). Anscheinend hat der wilde Kapitalismus in Osteuropa die Freien Künste noch weniger begünstigt als der veraltete Kommunismus.

Die meisten guten osteuropäischen Regisseure sind nach Westen gegangen, die einen, um Karrierre in Hollywood zu machen, die anderen um für gutes Geld eine Laienspielschar zu leiten; dann gingen die Maler, und sie bemalten alles, auch Schaufenster, Zäune und Mauern; dann die Musiker – die einen (wenigen) in die Carnegie Hall, die anderen (die Mehrheit) in Kirchen und Kneipen; in die westlichen Universitäten gehen immer mehr gute Schriftsteller und Wissenschaftler aus Osteuropa und unterrichten, was dort gefragt ist (Jewgenij A. Jewtuschenko hat neulich in der New York Times eingestanden, dass er zwar keinerlei fachliche Ausbildung habe, um Puschkin unterrichten zu können, aber dass er diesen Dichter liebe. Also wird er wohl seinen Studenten die Liebe lehren).

Vermutlich hatte Adam Zagajewski mit seinem Blick in die Zukunft, dem er seinerzeit selbst kaum trauen mochte, recht: “Was würde geschehen, wenn Polen eines Tages – eines schönen Tages – seine politische Freiheit zurückgewänne? Würde jene großartige geistige Spannung, die sicher nicht das ganze Volk, aber doch immerhin seine recht zahlreiche und demokratische Elite auszeichnet, erhalten bleiben? Würden die Kirchen sich leeren? Würde sich an der Poesie – wie es in den glücklichen Ländern der Fall ist – eine Handvoll gelangweilter Kenner goutieren, während das Kino zu einer kommerzialisierten Unterhaltungsbranche wird? Würde das, was es in der Situation Polens zu bewahren gelang, vor Hochwasser und Vernichtung zu schützen und sogar über die Bedrohung zu erheben, wie eine hohe und schöne Mauer, würde das, was als Erwiderung auf die gefährliche Herausforderung des Totalitarismus entstanden war, am selben Tag verschwinden, an dem dieser Herausforderung aufhörte?”1 

Offensichtlich handelt es sich nicht um ein spezifisch polnisches, sondern um ein osteuropäisches Problem. Jene “großartige geistige Spannung”, die die osteuropäischen Intellektuellen entwickelt haben, um dem sowjetischen Totalitarismus widerstehen zu können und die eigene innere Freiheit zu bewahren, ist passé, das ist Geschichte. Diese Region trat in eine neue nicht-heroische Ära ein, die alten Fertigkeiten des Kampfes und des Widerstandes wurden nicht mehr gebraucht, und die neuen Fertigkeiten der gründlichen Alltagsarbeit waren noch nicht erlernt. Die Veteranen des antikommunistischen Kampfes haben Grund genug, schier zu verzweifeln, sie hoffen immer noch auf die magische Kraft der alten Rhetorik (der “Mittel-und Osteuropa”-Mythos gehört dazu), – aber die postkommunistischen Gesellschaften hören ihnen kaum zu. Sie wenden sich lieber den gewendeten (und manchmal noch nicht mal gewendeten) Kommunisten zu.

Milan Kundera (2)  hat einmal Mitteleuropa nicht als “Staat”, somdern als “Kultur oder Schicksal” bezeichnet: “Seine Grenzen, – schrieb er, – sind imaginär, sie ändern sich mit jeder neuen historischen Situation. Mitteleuropa kann nicht durch politische Grenzen bestimmt oder umrissen werden (...) sondern nur durch große gemeinsame Ereignisse, die alle Bewohner des Region berühren, sie auf neue Weise umgruppieren – ensprechend den imaginären und ständig veränderbaren Grenzen, die das Territorium bestimmen, das von denselben Erinnerungen, denselben Problemen und Konflikten, denselben gemeinsamen Traditionen bewohnt ist”.

Kundera versucht, indem er seine eindrucksvolle poetische Metapher entfaltet, zu klären, warum der Mythos Mitteleuropa (dieser “imaginäre Raum” in seiner Terminologie) die Westeuropäer nicht begeistert, warum sie ihn für “veraltet und unverständlich” halten. Die Sache ist die, – schreibt Kundera mit Bitterkeit, – dass Westeuropa seinerseits dabei ist, seine kulturelle Identität zu verlieren. Westeuropa spürt seine Einheitlichkeit als kulturelle Einheitlichkeit nicht mehr”, und daher empfindet es auch Mitteleuropa nur noch als eine politische Realität, nämlich als “Osteuropa”.

Ohne dass wir uns weiter vertiefen wollen in das Problem der europäischen Identität, die auf gemeinsamer Religion und Kultur (diese “bestimmenden Werte, durch die sich die Europäer identifizieren”) gründet, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen für viele Osteuropäer typischen Fehler, den auch Kundera macht. Ich meine nicht seine Feststellung, dass sich die westeuropäische Identität von einem bestimmten Moment an geändert habe (ererbte Korosion sozusagen), als die kulturelle Komponente verloren ging an den Markt, an die technischen Errungenschaften, an die Massenmedien und an die Politik. Hier hat er teils recht, teils auch nicht. Nein, der tragische Fehler von Kundera liegt woanders: er ist nämlich davon überzeugt, dass die Verhältnisse bis zu einem bestimmten Moment ganz anders gewesen seien, dass in einem früheren (nun in der Tat “goldenen”) Zeitalter Osteuropa von den Westeuropäern als ein integraler Teil des Kontinents empfunden worden sei, als ein Element eines einheitlichen kulturellen Kontinuums.

Die Geschichte liefert allerdings kaum Belege, die eine derartige Vermutung stützen könnten, ganz im Gegenteil. Die berühmte Ortsangabe aus Shakespeare Wintermärchen (“Bohemia. A desert shore.”) kann als ein wunderbarer Epigraph dienen: So wird Osteuropa im Westen wahrgenommen. “A desert shore” – eine andere Bezeichnung für das immergleiche Schwarze Loch – hinter Metternichs Gartenzaun...

Heute haben die Osteuropäer eine gute Chance, den Zaun ein Stück weiter nach Osten zu verschieben – bis an die westliche oder vielleicht sogar an die östliche Grenze der Ukraine, oder sie könnten ganz einfach “Europa” werden, ohne irgendwelche Vorsilben oder erniedrigende Streitereien um einen Platz auf der Rangliste, wer nun “europäischer” sei oder “zentraler”. (In Benelux z.B. gibt es ja auch keine Diskussionen darüber, ob man nun zu West-, oder zu Mittel- oder zu Mittel-West-Europa gehört).

Wie jeder anderer Mythos wird auch das Konzept Mittel- und Osteuropa nicht sofort verschwinden. Es wird solange existieren, wie Osteuropa seine immer noch spürbaren postkommunistischen Eigenheiten hütet und solange das heimtückische und geheimnissvolle, unberechenbare “Asien” hinter Bug oder Dniepr oder sonst irgendwo im Osten stehen wird. Wie jeder Mythos, hat auch dieser eine gewisse Macht – er entstand als Paraphrase über klassische Mythen – vom verlorenen Paradies, vom verheißenen Land, wobei als “Paradies” wahrscheinlich das Habsburger Reich fungiert nebst seiner “kulturellen Einheitlichkeit”, und als “Verheißung“ vermutlich EU, NATO und wiederum deren “kulturelle Einheitlichkeit”. Nach innen hat dieser Mythos seinerzeit eine gewisse anti-sowjetische und anti-kommunistische Mobilisierung erleichtert, nach außen hat er Forderungen an den Westen um Anerkennung und Hilfe untermauert.

Aber von Anfang an haftete an diesem Mythos der Geruch der Exklusivität. Seine schädliche Nebenwirkung lag nicht nur in der Mystifizierung von “Mittel”-Osteuropa und seiner ganz in Rosa getauchten Bilder von Vergangenheit und Zukunft, sondern auch in der Festlegung einer fragwürdigen (vom ethischen Standpunkt her) Hierarchie von “mehr” oder “weniger” europäischen Völkern in Osteuropa. Im politischen Kontext bedeutete “Zugehörigkeit zu Europa” viel mehr als nur eine geographische oder kulturelle Zuordnung; es war ein ganz eigentümliches SOS-Signal, es sollte daran erinnern, dass der provisorische Aufenthalt mancher osteuropäischer Länder in “Asien” nur dem Zufall und dem Irrsinn geschuldet sei und mahnte Hilfe an von der eigentlichen Heimat – Europa. Das alles hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Streit unter Gefangenen, wer denn wohl mehr an die Freiheit gewohnt sei und infolgedessen Befreiung zuallererst verdiene.

Bedauerlicherweise versuchen heute die Ostler genauso exklusiv zu denken wie die Westler. Die Glückspilze, die soeben mit der ersten EU-Erweiterungswelle Metternichs Gartenzaun übersprungen haben, sind sofort der festen Meinung, dass “Asien” irgenwo östlich von Polen und südlich von Ungarn beginnt, und dass alle diese makedonischen, weissrussischen, tschetschenischen, armenischen Flecken nichts anderes seien als sozusagen böhmische Dörfer, nämlich “A desert shore”.

Unsere Rede von der “kulturellen Einheitlichkeit” ist wertlos, solange wir die Albaner missachten – weil sie arm sind, die Weißrussen – weil sie russifiziert sind, die lausitzer Sorben – weil sie so wenige sind, und die Georgier und Armenier – weil sie weit entfernt sind von unseren Gärten. Man könnte an dieser Stelle einiges sagen über den alten armenischen Staat, der christlich war und eine Schrift-Kultur hatte zu einer Zeit, als noch keine Rede war von irgendeiner der heutigen europäischen Nationen – aber wen interessiert das? Wen im heutigem Europa interessiert der georgische Film, wen diese hervorragende georgische Prosa (zumindest zwei Schriftsteller, Otar Chiladze und Chabua Amiredjibi, könnten durchaus die Liste der Nobelpreisträger schmücken, wenn sie denn jemand lesen würde, und sei es auch nur in russischer Übersetzung!), wen interessiert das erstklassiges georgisches Theater, die georgische Malerei?” – Nein, dafür interessiert man sich nicht, weder in Prag noch in Paris.

Ich habe mit voller, wenn auch durchsichtiger Absicht von Georgien gesprochen und nicht von der Ukraine, damit man nicht auf die Idee kommt, hier predige einer pro domo. Aber natürlich könnte ich auch über ukrainische Lyrik sprechen – europäischer und interessanter als manches, was in Europa hochgehalten wird; über ukrainische Malerei, Musik, angewandte Kunst, aber wiederum – wen interessiert es? Ich könnte darauf hinweisen, dass die Ukraine (zumindest die westliche) nicht weniger “mitteleuropäisch” ist als – sagen wir mal: Polen, oder die Slowakei, und dass der Habsburger Mythos nicht schlechter lebt im ukrainischen Lwiw als im tschechischen Prag. (Es war kein Zufall, dass vor einigen Jahren die lwiwer Kulturzeitschrift “Ï” ihr erstes Heft dem “mitteleuropäischen Erbe” widmete, mit einem Essay von Kundera “Ein geraubter Westen oder Die Tragödie Mitteleuropas”, mit Erzählungen von Bruno Schulz, mit “Galizische Gestalten” von Sacher-Masoch und natürlich mit dem Portrait von Kaiser Franz Josef auf der Titelseite!).

Ohne Zweifel ist die Westukraine kein großer Teil des Landes, und die meisten Einwohner der Ukraine beschäftigen sich recht selten mit dem Problem “Mitteleuropa” oder “Europäertum”. Ich glaube nicht, dass die Ukraine den Westen irgendetwas lehren könnte. Auch ganz Osteuropa könnte das nicht. Ich glaube nicht, dass sich der Westen von irgendjemandem belehren lassen will. Natürlich können Intellektuelle aus Ost -und Westeuropa zusammensitzen und über derartige Fragen spekulieren – ganz im Stil von C.G.Jung, der vor Jahrzehnten einen Essay veröffentlicht hat mit dem Titel “ Was lehrt uns Indien?” – Jung hat sehr schön erklärt, “was” Indien lehren könnte, aber er hat kein Wort darüber verloren, wen er eigentlich mit den zu Belehrenden, also mit “uns” meint. Ähnlich wie Jung glaube ich durchaus an ein “was”, aber was das “uns” betrifft – da kommen mir ernsthafte Zweifel.

Die Prozesse, die heute in Osteuropa stattfinden, würde ich als Normalisierung bezeichnen. Ohne Zweifel sind sie für Experten interessant, aber nicht für ein breites Publikum, das wirkliche Unterhaltung sucht. Sie lassen keinen Platz für “mitteleuropäische” Einzigartigkeit, und sie enttäuschen die lokalen Intellektuellen, die Veteranen des antikommunistischen Kampfes, die ihre exhibitionistischen Kompexe nicht befriedigen dürfen. Im besten Fall – wenn “Asien” nicht zurückkommt und auch kein neues Bosnien irgendwo explodiert – wird sich Osteuropa erfolgreich marginalisieren und nicht weniger Aufmerksamkeit finden als Griechenland, Portugal oder Island. Wäre das denn so schlimm? Für alte Veteranen – vielleicht, ja. Für die meisten Leute – kaum. Aber die meisten denken gar nicht an den Gartenzaun – weder an den östlichen noch den mittel-östlichen noch an den mittel-süd-östlichen. Die meisten Leute denken an den Garten. Und vielleicht sollte die Ukraine ganz einfach die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen – im Namen von Europäertum, oder Eurastiatentum, oder meinetwegen auch von Australiertum.


1. Adam Zagajewski, Die hohe Mauer, in: Solidarité et Solitude, Paris 1986.
2. Milan Kundera, in: “New York Review of Books” April 1984, dann in “Ï” Heft 1/1995, Lwiw.

aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriw

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N12 / 1998

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