Taras Wozniak
"Projekt Ukraine". Bilanz eines Jahrzehntes
© T.Wozniak, 2000
1. Voraussetzungen fÜr die Enstehung des Staates Ukraine
1.1. Die Krise und der Zusammenbruch der Sowjeunion
Zweifellos waren die tiefe Krise der sowjetischen Gesellschaft und die Niederlage,
die die USA und ihre Verbündeten der UdSSR und ihrem Block im kalten oder,
wie man ihn auch nennt, dritten Weltkrieg zugefügt hatten, eine Voraussetzung
für die Enstehung eines neuen unabhängigen Staates unter dem Namen Ukraine.
Die Ursachen sind vielfältig angefangen von einer uneffektiven Gesellschaftsorganisation
bis hin zum nicht mehr aufzuholenden technologischen Rückstand. All das führte
zu einer tiefen Erosion sogar der Überreste der kommunistischen Ideologie, zu
einem allgegenwärtigen Zynismus, der die gesamte Gesellschaft von der Spitze
bis zur Basis ergriff.
Der Zusammenbruch der UdSSR war unvermeidlich. Doch die Machteliten und das
Volk sahen sich mit dem Problem der weiteren Organisation der Gesellschaft bzw.
der Gesellschaften konfrontiert. Abgesehen davon stand die Parteinomenklatura
vor dem Problem des Machterhalts, der Wirtschaftkontrolle, der Transformation
von Regierungsformen unter gleichzeitiger Bewahrung des Status Quo.
Der sowjetischen Nomenklatura stellten sich folgende Fragen:
Überwindung der Krise durch die Veränderung der sozialen Organisationsform
der Gesellschaft (ein revolutionäres Projekt)
Überwindung der Krise durch weitgehende gesellschaftliche Veränderungen nach
dem Muster der Schockterapie oder durch allmählichen Wandel (Evolutionsprojekt)
Überwindung der Krise in Gestalt eines Einheitsstaats mit einzelnen Regionen
nach dem chinesischen Muster zwei Systeme, ein Land (ein integratives Projekt),
oder in Gestalt voneinander unabhängiger Staaten und Territorien (ein desintegratives
Projekt).
Die nicht sehr zahlreichen oppositionellen antisowjetischen Kräfte zerfielen
in zwei Lager: Die einen plädierten für eine maximale Demokratisierung der Gesellschaft
(nennen wir sie mit Vorbehalt Demokraten), die anderen kämpften für die nationale
Befreiung der sowjetischen Völker oder für deren nationale Identität, so im
Falle der Ukrainer und Russen (nennen wir sie mit Vorbehalt Nationalisten).
Ihre Ansichten hinsichtlich der zukünftigen politischen Ordnung allerdings deckten
das gesamte Spektrum von der Demokratie bis zum Totalitarismus ab. Die kommunistischen
Orthodoxen schließlich standen in Opposition zu jedweder planmäßiger Transformation,
waren aber zu jener Zeit frustriert und nicht darauf vorbereitet, den Veränderungen
effektiven Widerstand entgegenzusetzen.
Im folgenden skizziere ich die wichtigsten politischen Kräfte, denen es bewusst
war, dass Veränderungen dringend notwendig waren und die Wege zur Transformation
suchten. Michail Gorbatschow repräsentierte das Projekt einer evolutionären
gesellschaftlichen und politischen Transformation im Rahmen eines Staates (evolutionäres
integratives Projekt). Dagegen strebten die Führer der jeweiligen nationalen
Parteieliten, darunter auch Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, nach Macht und
Unabhängigkeit von der Zentrale und repräsentierten damit das Projekt einer
evolutionären (Krawtschuk) bzw. revolutionären gesellschaftlichen Transformation
(der frühe Jelzin) im Rahmen relativ oder vollständig unabhängiger Territorien,
deren Eigenständigkeit ihnen ermöglichen sollte, die Kontrolle über den Transformationsprozess
zu behalten (evolutionäre/revolutionäre Desintegrationsprojekte).
Die Demokraten versuchten, utopische Projekte einer Reformierung der UdSSR
(Sacharow) im Rahmen eines Einheitsstaats bzw. unter Ablehnung des Einheitsstaates
zu vertreten (evolutionäre/revolutionäre Integrations und Desintegrationsprojekte).
Sie legten den Akzent jedoch nicht auf das Desintegrationsproblem, sondern bestanden
vielmehr auf einer tiefgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft. Auch der
wirtschaftlichen Transformation widmeten sie gewisse Aufmerksamkeit. Die Frage
der administrativen Transformation allerdings geriet völlig aus ihrem Blickfeld.
Daher rückten Demokratisierungsziel und Wirtschaftsreform ins Zentrum, während
die Frage der Machtergreifung und -erhaltung vernachlässigt wurde. Einige der
Oppositionellen zeicheten sich durch prinzipielle Ablehnung des Staates als
solchem aus und bereiteten so die Basis, sich selbst aus dem Prozess der politischen
Transformation zu eliminieren. Es hat sich aber herausgestellt, dass der alleinige
Kampf für Menschenrechte nicht ausreichte. Vielmehr war es wichtig, in einem
Transformationsprozess moderne Formen der Gesellschaftsordnung zu schaffen,
die sich in der neuen ukrainischen Staatlichkeit konstituieren sollten. Die
Nichtanerkennung dieser Tatsache hat dazu geführt, dass die Demokraten aus
dem politischen Prozess verschwunden sind.
Die Nationalisten hingegen plädierten für ein Projekt der Desintegration
der UdSSR und zeigten kaum Interesse für andere Transformationsaspekte, so die
Demokratisierung oder die gesellschaftliche und wirtschaftliche Reorganisation
als Basis für den Aufbau einer effektiven Gesellschaft (evolutionäre/revolutionäre
Desintegrationsprojekte). Für sie waren diese Forderungen nicht aktuell, denn
sie galten entweder als bloßes Mittel zur Erlangung der nationalen Unabhängigkeit,
oder sie wurden schlicht ignoriert. Diese Borniertheit war ein Grund für die
Niederlage dieser Ausrichtung in der Folgezeit. Grundsätzlich gilt die Aufmerksamkeit
in ihren Projekten dem Problem der Machtergreifung, während sie sich mit der
Transformation der nationalen Gesellschaft zu einer modernen, politischen und
wirtschaftlich effektiven Gesellschaft nicht auseinandersetzen. Im Prinzip zielten
sie auf die Machtergreifung innerhalb der real existierenden Gesellschaft und
auf ein etatistisches Projekt. Da ihr einziges Ziel der Aufbau eines unabhängigen
ukrainischen Staates war mit welchen Mitteln auch immer verständigten sie
sich recht schnell mit der Nomenklatura und vermeinten, diese bekämpfen zu können,
indem sie nach deren Spielregeln und auf deren eigenen Feld spielten. Die kommunisischen
Orthodoxen wiederum hatten nichts besseres vorzuschlagen als einen Putsch, womit
sie den Zerfall der UdSSR und damit auch Gorbatschows Projekt der Evolution
im Rahmen eines einheitlichen Staates beschleunigten (konservatives integratives
Projekt).
Welche Projekte sind schließlich in der Ukraine zur Ausführung gekommen, und
in welchem Verhältnis standen sie zu anderen, die gleichzeitig existierten?
Offensichtlich haben sich in der Ukraine zwei Nomenklaturprojekte entwickelt
ein integratives und ein sehr gemäßigt-desintegratives Projekt. Möglich, dass
letzteres zunächst nicht als vollwertige Doktrin gedacht wurde, es entstand
aus der Situation heraus. Dagegen existierten die integrativen Nomenklaturprojekte
sowohl in einer evolutionären (offiziellen) als auch in einer kommunistischen
orthodoxen Ausprägung (in gewisser Absetzung vom offiziellen Projekt Gorbatschows).
Die Autoren dieser Projekte zeichneten sich dadurch aus, dass sie im Besitz
der realen, wenn auch geschwächten Macht waren. Sie waren also, wenn auch mit
gewissen Einschränkungen, in der Lage, ihre weitausgreifenden, das gesamte gesellschaftliche
und politische Leben der Ukraine umfassenden Vorhaben in die Tat umsetzen. Sie
verfügten über die Möglichkeiten und die administrativen Ressourcen, um sich
auf eine grundlegende Neuverteilung von Macht und Eigentum vorzubereiten, erste
Versuchsfelder des freien Unternehmertums auf der Basis verschiedenartiger Kooperativen
zu testen und rechtzeitig finanzielle und materielle Mittel dorthin umzuleiten.
Gleichzeitig blieben solche Formen nomenklaturagebundenen Wirtschaftens fest
an die Macht gekoppelt. Auf diese Weise wurden die Grundlagen für die Verwirklichung
der Projekte der postsowjetischen Nomenklatura gelegt.
Das konservativ-integrative Nomenklaturaprojekt hingegen scheiterte im Gefolge
des Augustputsches von 1991. Der ukrainischen Nomenklatura blieb daher nichts
anderes übrig, als das evolutionär-desintegrative Projekt in die Tat umzusetzen.
Ein wirklich revolutionäres Projekt im ökonomischen Bereich hat die ukrainische
Nomenklatura nie verfolgt, ungeachtet ihrer halbherzigen Erklärungen zu Wirtschaftsreformen,
denn ganz offensichtlich hat sie solche Reformen nicht nötig gehabt. Eine frühe
und konsequente Einführung der Martkwirtschaft hätte sie der Möglichkeit beraubt,
das Eigentum zum eigenen Nutzen umzuverteilen so, wie sie es dann auch gemacht
hat.
Demokraten im reinen Wortsinne gab es in der Ukraine nur ganz vereinzelt.
In der ersten Etappe der Transformation wurden sie von den ungleich zahlreicheren
Nationalisten in den Schatten gestellt. Die Nationalisten dominierten eine
kurze Zeit unmittelbar nach dem Augustputsch. Ihr desintegratives Projekt fiel
zeitweise mit dem desintegrativen Projekt der Nomenklatura zusammen, die sich
rechtzeitig umorientiert hatte. Dagegen verfügten sie über keine administrativen
Ressourcen und maßen der Schaffung einer ökonomischen Basis für die politische
Macht durch Umverteilung von Eigentum und Geldmitteln sowie durch die aktive
Einführung neuer Wirtschaftsformen nur wenig Bedeutung bei selbst in den wenigen
Bezirken, in denen sie die Wahlen gewonnen hatten. Die Nationalisten beeilten
sich, eine stillschweigende Übereinkunft mit der Nomenklatura abzuschließen,
um einen Staat mit dem Namen Ukraine zu schaffen, ohne sich aber in diesem
Staat reale Rollen zu sichern, die auf wirtschaftlicher und politischer Basis
gründeten. Auf diese Weise traten sie das Sakrament der Unabhängigkeit an
die noch kurz zuvor imperiale und offen antiukrainische Nomenklatura ab. Dieser
gelang es schon bald darauf, die Idee der Unabhängigkeit zu usurpieren, die
politische Spannung innerhalb der Gesellschaft aufzufangen und gleichzeitig
die Misserfolge ihrer permanenten zehnjährigen Regierungszeit in der unabhängigen
Ukraine den Demokraten und Nationalisten in die Schuhe zu schieben, wodurch
letztere von der politischen Szene und von der großen Umverteilung des Eigentums
und der Macht praktisch völlig ausgeschlossen wurden.
1.2 Die Basis für den Aufbau des Staates Ukraine
Eine der Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbau eines Staates ist die
Selbstgewahrwerdung einer Gruppe von Menschen als Ganzheit. Dieses Einheitsgefühl
kann auf verschiedene Weise entstehen, aber in jedem Falle braucht dieser Prozess
Zeit. Nicht immer muss die ethnische Einheit als konsolidierendes Element auftreten,
obwohl natürlich das Konstrukt der Einheit mit der Zeit durch natürliche Assimilationsprozesse
zur Bildung eines neuen oder erneuerten Ethnos führen kann. Auch die primitive
Unterdrückung eines Ethnos durch den anderen sowie die zwangsweise oder freiwillige
Assimilierung können dabei eine Rolle spielen.
Wie war die Situation in der Ukraine? Der Erreichung der Unabhängigkeit ging
aufgrund der krassen ideologischen Beschränkungen in der UdSSR kein langer Prozess
voraus, der das Gefühl einer konsolidierenden Einheit hätte hervorbringen können.
Mehr noch, die sowjetische Propaganda führte sogar innerhalb des ukrainischen
Ethnos eine Spaltung herbei, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung der
Ukrainischen SSR. Im gesellschaftlichen Bewusstsein entwickelten sich Image-Konstrukte
wie Westler, Bandera-Leute (Anspielung auf eine Fraktion der in den dreißiger
und vierziger Jahren vor allem auf dem Territorium der Westukraine aktiven Organisation
Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter Stepan Bandera, die nach der Wiedereroberung
der Ukraine durch die sowjetische Armee als Partisanen gegen diese kämpfte;
als Pejorativum für Westukrainer, Galizier in der Ostukraine verbreitet,
Anm. d. Übersin), Ostler, Chochly (Eigentlich: Zopf, Anspielung auf die
Haartracht der ukrainischen Kosaken im 16./17. Jh.; im Russischen pejorative
Bezeichnung für Ukrainer; von Westukrainern auch als Pejorativum für russifizierte
und nicht genügend nationalbewusste (Ost-)Ukrainer benutzt, Anm. d. Übersetzerin),
Moskowiter. Offen und verdeckt wurde den Menschen zudem von Staats wegen eine
Intoleranz gegenüber Krimtataren und Juden aufgezwungen. Tatsache ist, dass
es am Vorabend der Unabhängigkeit keine vollständig formierte Einheit gab, die
man wenigstens unter Vorbehalt als ukrainische politische Nation hätte bezeichnen
können. Im Grunde war die Bevölkerung der Ukraine lediglich durch das gemeinsame
Territorium verbunden, während ansonsten unterschiedliche Mentalitäten sowie
die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Konstrukten und kulturellen Welten
erhalten blieb.
Einzig verbleibendes Konsolidierungselement, abgesehen vom territorialen,
war die Illusion eines schnellen Auswegs aus Stagnation und Krise durch Abtrennung
von der darniederliegenden UdSSR. Aber die Zukunft der neuen staatlichen Einheit
wurde von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich gesehen, trotz
der einheitlichen Bezeichnung unabhängige Ukraine. So erklärt sich auch die
große Illusion, die das Referendum über die Unabhängigkeit im Dezember 1991
hervorgebracht hat dass nämlich alle für das Gleiche gestimmt hätten. Rein
formal gesehen trifft dies natürlich zu den Tatsachen nach tut es das nicht.
Das erkannte auch die postkommunistische Nomenklatura, die sich blitzschnell
umorientierte und das Referendum entsprechend durchführte: gestützt durch Massenpropaganda,
die in jeder Region unterschiedlich war und jedem das versprach, was er hören
wollte. Das gewünschte Resultat wurde erreicht, aber eine politische Nation
enstand auch auf diese Weise nicht. In jener Zeit wurden die Grundlagen für
die Wahlmanipulationen geschaffen, die ihren Höhepunkt beim Referendum über
die Verfassungsänderungen im Jahr 2000 erreicht haben. Eine ähnliche Technik
der Anwendung doppelter und dreifacher Maßstäbe wurde bei allen Präsidentenwahlen
angewendet, was die faktische Heterogenität der Bevölkerung weiter zementierte,
zu keinem Konsens oder Kompromiss bei der Beantwortung der Frage nach der Nationsbildung
führte und lediglich der Lösung tagespolitischer Aufgaben diente. So hat sich
die Heterogenität in der unabhängigen Ukraine nicht nur zum Faktum verfestigt,
sie ist sogar noch größer geworden. Etliche Regionen äußern praktisch keinen
Willen zur Annäherung oder auch nur ein gegenseitiges Interesse. Das betrifft
sowohl die kulturelle, als auch die wirtschaftliche Dimension. Infolge der wirtschaftlichen
Krise und aufgrund fehlender Ansätze für eine Strukturbildung durch ein System
[steuerlicher] Begünstigungen kann sich ein einheitlicher wirtschaftlicher Organismus
nicht bilden. Schließlich haben die regionalen Nomenklaturen gleich in der ersten
Etappe gegen eine Einmischung des Zentrums bei der Umverteilung des Eigentums
in den jeweiligen Regionen Widerstand geleistet.
Die westliche Ukraine hat die tiefgreifende und schon nicht mehr rückgängig
zu machende Russifizierung des Südens und Ostens nie angenommen. Darüber ist
nie eine öffentliche Diskussion geführt worden; die Gesellschaft hat diesen
realen Stand der Dinge nicht reflektiert. Und nicht nur das sie hat auch keine
gemeinsame, für alle Schichten (oder zumindest für eine Mehrheit) akzeptable
Strategie ausgearbeitet, was man denn mit der nun einmal erklärten Unabhängigkeit
und der durch diese implizierten politischen Einheit und Einheitlichkeit anfangen
soll.
Es bleibt unklar, worauf diese Einheit basieren soll. Auf dem gemeinsamen Schicksal?
Oder auf dem wirtschaftlichen Interesse? Existiert denn überhaupt ein gemeinsames
wirtschaftliches ukrainisches Interesse? Auf Konsensformen irgendeiner Art?
Es existieren nicht einmal die Mechanismen einer allgemeinnationalen Diskussion,
die einen solchen Konsens erst erbringen könnte. Die ukrainische Gesellschaft
bleibt gespalten. Auf der Sprache? Aber auf welcher auf der Sprache der Mehrheit?
Dem offiziellen Kiev ist immer noch nicht bewußt geworden, welche Rolle die
ukrainische Sprache als Konsolidierungselement spielen könnte, und es betrachtet
sie weiterhin formal und distanziert, ganz zu schweigen von der fast ausschließlich
russischsprachigen oder vielmehr sowjetischsprachigen Kiewer Spießbürgerschaft.
Für Kiew gilt nicht die These des russischen Politologen Sergij Tschernyschow,
derzufolge Russland vor allem durch die russische Sprache konstituiert wird,
nicht durch das Territorium, die polyethnische, polykulturelle Bevölkerung,
und schon gar nicht durch die eine oder andere administrative Struktur. Dagegen
ist für die Regierung des Gosudarstwo Ukraina (russ. für Staat Ukraine,
d. Übers.) nur die These aktuell, dass Staat gleich Verwaltung sei.
Gleichzeitig kann sich eine solch heterogene Bevölkerung, die über keinen gemeinsamen
Sprach und Informationsraum verfügt, nicht mit diesem Staat identifizieren.
Dazu trägt sowohl die sprachliche Teilung des Landes in russischsprachige/surshyksprachige
(surzhyk=Makkaronisprache, pejorativ familiärer Ausdruck für die vor allem
in Kiew und der Ostukraine gesprochene Umgangssprache, die ukrainische und russische
Elemente (je nach Person und Region in wechselnden Anteilen) kombiniert, Anm.
d. Übersetzerin) und ukrainischsprachige/surzhyksprachige Bevölkerungsgruppen
bei als auch die Dominanz der russischen Massenmedien: Die meisten ukrainischen
Bürger leben in Wirklichkeit in einem russischen Medien und Informationsraum,
beschäftigen sich mit den Problemen des russischen Staates und sind eigentlich,
was den Informationsgrad betrifft, mehr Russen als Ukrainer. Längere Zeit
nahm der überwiegende Teil der Gesellschaft den existierenden Stand der ukrainischen
Unabhängigkeit noch nicht einmal formal zur Kenntnis (denn dazu gehören bestimmte
Verpflichtungen und Einschränkungen), oder aber diese wurde als ein instabiler
Übergangszustand bzw. als Imitation einer Unabhängigkeit rezipiert oder sogar
mit eindeutiger Feindseligkeit abgelehnt. Das Staats-Projekt ist für den überwiegenden
Teil der Bevölkerung nicht von Bedeutung. Mehr noch weder die Administration,
noch die Gesellschaft haben ein von der Mehrheit akzeptiertes Projekt Ukraine
entworfen: Es fehlt ganz einfach. Man kann von einem gewissen Mangel an staatlichem
Instinkt sprechen, wenn so eine Terminologie für die Mehrheit der ukrainischen
Bevölkerung zulässig ist.
Deshalb ist es sehr wichtig, zur Formierung irgendeiner gemeinsamen Basis in
der Ukraine Mechanismen einer Zivilgesellschaft zu schaffen. Es sollte eine
Gesellschaft sein, die den realen Zustand zur Kenntnis nimmt, an Zukunftsvisionen
arbeitet, ihre Diskussionen artikulieren kann, reale politische und öffentliche
Mechanismen besitzt, um den von ihr ausgearbeiteten Konsens mit Leben zu erfüllen.
Leider sinkt das Aufbautempo der ukrainischen Bürgergesellschaft, wenn es nicht
schon überhaupt stagniert. Es hat eine wesentliche Gewichtsverlagerung in Richtung
eines oligarchischen Verwaltungsmodells gegeben, in dem ein Machtzweig dominiert,
der in der Institution des Präsi- dentenamtes verkörpert ist.
Als eine Basis für den Aufbau des Staates könnte zweifellos die Wirtschaft
dienen. Von der UdSSR erbte die Ukraine keinen einheitlichen Mechanismus, oder
eine Wirtschaft, die effektiv mit anderen wirtschaftlichen Systemen kooperierte.
Der wirtschaftliche Kollaps in den postsowjetischen Ländern, der Zusammenbruch
der Kooperation mit den ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe,
die beabsichtigte, aber nicht realisierte Konversion der Militärindustrie haben
die ukrainische Wirtschaft fragmentiert. Die ukrainische Wirtschaft funktioniert
nicht. Der Grund ist nicht nur, daß ihre Produkte nicht gebraucht werden und
nicht konkurrenzfähig sind, sondern auch, dass in der Ukraine nur Bruchstücke
früher einheitlicher technologischer Kreisläufe verblieben sind. Diese in den
Grenzen der Ukraine vollständig wieder herzustellen, gelang ebenfalls nicht.
Parallell läuft in den letzten Jahren der Prozess der faktischen Deindustrialisierung
des Landes weiter. Die Weltwirtschaft befindet sich in einem Übergangsprozess
zur postindustriellen Phase und entwickelt eine Informationswirtschaft und -gesellschaft.
Rohstoff und Schwerindustrie, die in der Ukraine dominierten, haben kein Exportpotential.
Die hochentwickelten Industriezweige, die auf die Produktion von Waffen, Frachtflugzeugen
und auf die Weltraumtechnik ausgerichtet sind, sind mit verschiedenartigen Export
und Importbeschränkungen und anderen politischen Prioritäten konfrontiert. Man
bekommt den Eindruck, dass die strategischen Partner der Ukraine in Wirklichkeit
nicht an der Erneuerung ihrer hochentwickelten Technologien interessiert sind,
sowohl aus strategischen (Gefahr des militärischen Potentials, das der Gegner
verwenden könnte), als auch aus Konkurrenzgründen (ein ernster Konkurrent auf
dem Weltmarkt der Waren und der Arbeitskraft).
Dagegen könnte der geopolitische Übergangscharakter der Ukraine eine gute
Basis für den Aufbau der Wirtschaft eines effektiven Staates werden. Wenn sich
die Ukraine im militärischen Sinne praktisch zwischen zwei einander gegenüberstehenden
Gruppen in Zentral und Osteuropa befindet, nämlich zwischen NATO und Taschkentvertrag
(eine Gefahrenquelle), so liegt sie im wirtschaftlichen Sinne zwischen der EU
und Russland mit seinen Satelliten riesigen Märkten, Industrie und Rohstoffbasen.
Durch das ukrainische Territorium verlaufen (oder werden in Zukunft verlaufen)
die wichtigsten Verkehrs und Warenströme zwischen West und Ost (EU-Russland-Mittelasien-Ferner
Osten) sowie Nord und Süd (EU-Kaukasus-Mittelasien). Eine potentielle Möglichkeit
bieten die Projekte, die mit dem Erdöl und Erdgastransport vom kaspischen Raum,
von Nordeuropa und aus dem Fernen Osten verbunden sind. Die beiden Großregionen
sind an der Ukraine interessiert: wenn nicht an ihrer Kontrolle, so zumindest
an einer Beteiligung an diesem europäischen Verkehrsknotenpunkt, der in bezug
auf die geopolitische Transportbedeutung die größten Perspektiven in Europa
hat. Nach den Einschätzungen des britischen Rendall-Instituts hat die Ukraine
das höchste Transport-Transit-Rating in Europa 3,11 Punkte. Im benachbarten
Polen betragt diese Kennziffer 2,72 Punkte. Die Kennziffern geben Auskunft über
die Entwicklung der Tranportsysteme und -netze, ihr Niveau und den Zustand der
Infrastruktur.
1.3. Die Oppositionskräfte
Die Struktur der Oppositionskräfte ist ein Faktor, der die Bildung einer modernen
ukrainischen Gesellschaft und des Projektes Ukraine beeinflusst. Diese Struktur
ist nicht nur ein System der Oppositionen, sondern sie widerspiegelt auch die
zukünftige eventuelle Neuverteilung der Macht oder Brüche in der Gesellschaft
und im Staat. Die Neuverteilung der Macht im Zentrum oder Regionen erfolgt,
wenn die Forderungen eines Teiles der Gesellschaft oder einer politischen Strömung
nicht erfüllt werden. Falls sich aber die Unzufriedenheit in den geographischen
Regionen lokalisiert, könnte dies zu regionalen Autonomie oder sogar Separationstendenzen
führen. Momentan findet in der Ukraine der Prozeß einer maximalen Machtkonzentration
statt. Die staatliche Administration mit dem Präsidenten an der Spitze hat aus
der vorherigen Periode der faktischen Doppelmacht (Präsident gegen Parlament)
ihre Konsequenzen gezogen. Die Justiz hat sich leider nach wie vor von der Bevormundung
durch die Staatsmacht nicht befreit und sich nicht zu einem selbstständigen
Zweig dieser Macht entwickelt. Nachdem im Winter 2000 in der Werchowna Rada
eine parlamentarische Mehrheit entstand, wurde damit auch die kommunistische
Opposition erstickt. Es scheint aber, dass damit gleich jegliche Opposition
überhaupt abgeschafft wurde. Die Präsidentenadministration festigte ihre Position
und es besteht die Gefahr, dass sie dadurch nicht nur ihrem Image bei den westlichen
Partnern schadet, sondern auch die Vorausetzung für ihre eigene Unstabilität
schafft, denn sie repräsentiert nicht das ganze Spektrum der regionalen Eliten.
Sie repräsentiert haupsächlich die alt-neue Kiever Bürokratie, die Dnipropetrowsker
Gruppe] sowie einige Vertreter loyaler regionaler Eliten. Aber damit nicht genug:
Sie kontrolliert darüber hinaus die Bildung von Macht und Wirtschaftseliten
in den Regionen, die in der Administration nicht vertreten sind. Das System
der Großkapitalbildung in den Regionen selbst schließt praktisch jede Möglichkeit
einer Unabhängigkeit von der Zentralmacht aus. Einerseits versuchen die Oligarchen
im Zentrum und in den Regionen an die Macht zu kommen, andererseits aber könnten
sie ohne Erlaubnis und gute Beziehungen zur Macht gar nicht existieren.
Diese vollständige Abhängigkeit von Kiev steht natürlich im Spannungsverhältnis
zu den Interessen der regionalen Eliten, die aus den regionalen Nomenklaturen
hervorgegangen sind. Von Zeit zu Zeit sieht sich der Präsident gezwungen, den
lokalen Nomenklaturseparatismus zu zügeln und seine Statthalter in die Regionen
zu schicken. Gegenwärtig ist dieser Prozess praktisch abgeschlossen. Dazu gehörte
eine Reform der Gesetzgebung die Institution der Vorsitzenden der Staatlichen
Administrationen [Art Statthalter des Präsidenten, d. Übers.] wurde mit einer
verfassungsmäßigen Grundlage ausgestattet und eine zielorientierte Personalpolitik.
Ergebnis war eine straff organisierte exekutive Vertikale vom Präsidentenamt
bis hinunter in die politischen Bezirke. Auf diese Weise bildete sich in der
Ukraine eine oligarchische Regierungsform, die die Bildung einer Bürgergesellschaft
hemmt und die ukrainische Wirtschaft jeder Perspektive auf eine effektive Reform
beraubt. Die Oligarchen verschiedener Niveaus blockieren den zivilisierten Eintritt
der ukrainischen Wirtschaft in den Weltmarkt.
Eine unzweifelhafte Opposition zur existierenden Machtstruktur bilden die Dissidenten
der sowjetischen Zeit, die nach einem mehrjährigen Flirt mit der Macht zur Zeit
praktisch unbedeutend sind. Das betrifft sowohl die Patrioten als auch die
Demokraten. Im neuen Staat ist für sie kein Platz; ihre Schuldigkeit haben
sie nach Meinung der postsowjetischen Nomenklatur schon getan. Der Flirt der
Ära Krawtschuk ist zu Ende. Die Nomenklatur hat ihren Transformationsprozess
erfolgreich absolviert und braucht keine Deckung mehr.
Ueber ein offensichliches oppositionelles Potenzial verfügt die Westukraine.
Momentan haben Verzweiflung und Frustration der Bevölkerung dieser Unzufriedenheit
nicht die Möglickeit gegeben, konkrete Formen anzunehmen. Aber die Unzufriedenheit
exisitiert und nimmt zu. Zur Milderung der Spannung gelang es der Administration
über längere Zeit, hyperpatriotische Stimmungen zu bedienen und so die Illusion
zu schaffen, dass der neugebildete politische Organismus eine Verkörperung eben
jener ukrainischen Staatsidee sei, die die Westukraine in den vergangenen hundert
Jahren bewahrt hat. Nun aber wird es immer offensichtlicher, dass dies nicht
zutrifft und daß die Rolle dieser Region nicht nur unbedeutend ist, sondern
darüber hinaus im ukrainischen Staat künstlich vermindert wird. Auch in anderen
Regionen finden ähnliche Prozeße statt. Eine Unzufriedenheit, die durch Frustration
und administrative Maßnahmen unterdrückt wird, dominiert auf der Krim und in
Odessa. Ein zweifelloses oppositionelles Potenzial besitzen auch überwiegend
russisch/surzhyksprachige Regionen sowie ethnische Enklaven tatarische, ungarische,
rumänische.
2. Die gestohlene Ukraine
Somit ist die ukrainische Unabhängigkeit ein gemeinsames Kind der postsowjetischen
kommunistischen Nomenklatur, die zuerst heimlich, dann immer lauter ihren ausschließlichen
Anspruch auf die Region Ukraine zum Ausdruck brachte, und der konservativen
oder traditionellen ukrainischen Patrioten.
Zu einer Banalität der Zeit der Unabhängigkeit wurde der Verweis auf den Referendum
über Unabhängigkeit und seine Ergebnisse. Wenn wir hier einmal von den Methoden
der Stimmenauszählung absehen, die in den meisten Wahlkreisen unverändert geblieben
sind, sollten wir überlegen, wofür tatsächlich abgestimmt worden ist. Fast alle
haben abgestimmt aber, wie es oft bei Revolutionen passiert, nicht dafür,
was sie eigentlich wollten und dafür, was sie schließlich bekamen.
Die einen haben traditionell für hyperpopulistische Slogans nach dem Muster
Nomenklatura weg vom Futtertrog gestimmt, ohne ein positives Projekt damit
zu verbinden, außer einer ScharikowIdeologie (Anspielung auf eine Figur aus
dem Roman Hundeherz von Michail Bulgakow, Anm. d. Übers), die eigentlich ganz
einfach folgendes bedeutete: Alles verteilen. Es war noch einmal ein Versuch,
das Paradies auf Erden zu realisieren, nun aber nicht mehr im Rahmen des mißlungenen
Projekts UdSSR, sondern bescheidener im Rahmen des Territoriums Ukraine. Die
anderen haben für dasselbe gestimmt, nur in der archaischeren oder konservativeren
Form eines Paradieses in einem Land unter dem Titel Ukraine, wo sofort, laut
den Prognosen der Deutschen Bank, blühende Landschaften entstehen sollten. In
diesem Falle stimmte man für eine weitere Utopie, in der Überzeugung, dass man
nicht mit Schweiß und Blut, sondern mit einer einfachen Abstimmung das Paradies
erreichen könne. In der Ukraine jedoch entstand keine moderne vorgestellte
Gemeinschaft (Benedict Anderson), wie vorgestellt sie auch sein mag. Die
unterschiedlichen Gruppen und Regionen haben sich nicht anhand einer einheitlichen
Konzeption, die für alle akzeptabel wäre, konsolidiert.
3. Gosudarstwo Ukraina
Die Nomenklatura übernahm die nationalen Parolen der patriotischen oder demokratischen
Kräfte und sicherte sich so die Macht in der Ukraine, was ihr eine gewisse Atempause
verschaffte. Das gab ihr Zeit, um Kräfte und Kapital umzugruppieren und die
Kontrolle über vorher staatliches Eigentum zu erlangen, was sehr treffend als
Prichwatisazija (von russ. Priwatizazija = Privatisierung und russ. prichwatitj
= sich aneignen, d. Übers.) bezeichnet wurde. Sie beherrscht die gesamte Wirtschaft.
Ein Teil der alten Kader ist in der Staatsverwaltung verblieben, aber nicht
wenige sind ins bisnes, das neue Unternehmertum, gewechselt. Es macht jedoch
keinen Sinn, hier großartig zu unterscheiden: praktisch bildet diese Gruppe
nach wie vor ein Ganzes. Als Bindeglied tritt hier die Staatsverwaltung auf,
die alles kontrolliert, was im angeblich privatisierten Wirtschaftssektor passiert.
In einer Reihe vorwiegend westukrainischer Verwaltungsbezirke ist es dagegen
für eine kurze Zeit gelungen, als Übergangsformen schwachentwickelte demokratische
Regierungen zu konstituieren, deren Verwaltungspraxis allerdings eher einer
Abwesenheit jedweder Macht nahekam. Sie wurden von den ukrainischen konservativen
Patrioten getragen. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit mischte sich Kiew
nicht maßgeblich in regionale Angelegenheiten ein. In jener Zeit tobte der Hauptkampf
um die Hauptstadt und damit um den gesamten Staat. Im Gefolge der dann vollzogenen
Umstrukturierung der Machtverhältnisse, der Akkumulation großer Kapitalmittel
und der Marginalisierung regionaler Eliten verloren schließlich auch die ukrainischen
konservativen Patrioten in der Westukraine ihre Macht. Momentan kontrolliert
Kiew praktisch die gesamte politische Machtausübung. Das kann man natürlich
auch als gewisse Errungenschaft bezeichnen, denn es wäre wesentlich schlimmer,
wenn die Regierung die Situation überhaupt nicht unter Kontrolle hätte, wie
es in Albanien der Fall war, und damit Staat und Gesellschaft als solche endgültig
zerstört würden. Allerdings besteht die wirkliche Frage darin, welches Maß an
Vollmachten das Zentrum haben sollte und welches die Regionen und ob nicht
die volle Usurpierung der Machtausübung durch einen einzigen Zweig, nämlich
die Präsidialverwaltung, zum Autoritarismus führen wird. Schließlich ist zu
fragen, ob dies nicht im Endeffekt auch dem Staat als Ganzem schaden wird und
ob die extreme Zentralisierung nicht gerade zur Stärkung von regionalistischen
und separatistischen Stimmungen in den Regionen führt.
Das Problem liegt nicht nur in Kiew. Die Hauptstadt handelt methodisch und
pragmatisch, wenn auch ausschließlich zum eigenen Nutzen. Die National-Patrioten
konnten die Macht nicht halten. Seit der Enstehung des Staates herrschte ein
verdeckter Krieg zwischen patriotischen und demokratischen Ex-Dissidenten, zwei
Flügeln einer einst einheitlichen politischen Bewegung. Die vermeintlich dringlichste
Aufgabe die Erhaltung der Staatlichkeit in welcher Form auch immer rechtfertigte
die Verdrängung des demokratischen Flügels, der sich durch Betonung von Menschenrechten
und demokratischen Werten auszeichnete, von der politischen Szene. Die National-Patrioten
waren bereit, nicht nur die Demokratie zu opfern, sondern auch mit der Nomenklatura
zu kollaborieren. Das führte zu ihrer vollständigen Degenerierung und schließlich
auch zu ihrer Entfernung aus der Macht, bei deren Ausübung sie aber allenfalls
eine dekorative Funktion erfüllt hatten.
Zu einer üblichen Erscheinung des postsowjetischen Raumes ist die Kriminalisierung
fast aller Lebensbereiche, insbesondere der materiellen Sphäre, geworden. Sie
ist ein gemeinsames Produkt der Nomenklatura, die ehemals staatliches Eigentums
unkontrolliert umverteilte, und der gewöhnlichen Kriminellen, die von der
Nomenklatura instrumentalisiert wurden, aber auch ihre eigenen Ansprüche auf
einen Anteil am verteilten Gut anmeldeten. Auch die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten,
die nichts vom Kuchen abbekamen, hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Mit
der Anteilsschein-Privatisierung kaufte sich die Nomenklatura beim Volk frei
und entzog ihm gleichzeitig auch die formellen Belege, um seinen Anteil bei
der Verteilung des Volkseigentums einzufordern. So wurde die verarmte Bevölkerung
zum Rekrutierungsfeld der kriminellen Welt, und immer größere Teile der Gesellschaft
gleiten in die geschlossenen Kreisläufe dieser Sphäre ab.
Die nachlassende Kontrolle über staatliches Eigentum, insbesondere in den
traditionell gewinnbringenden Bereichen, führte im gesamten postsowjetischen
Raum zur massenhaften Aneignung von Staatseigentum. Im Ergebnis enstand in der
Ukraine eine Situation, in der sich ca. 20 Familien (Oligarchen-Clans) vier
Fünftel des vorherigen Volkseigentums angeeignet haben, während dem Rest der
Bevölkerung beim Kampf ums physische Überleben ein Fünftel übriggelassen wurde.
Und es gibt keine Garantien, dass nicht auch dieses Eigentum zugunsten der zwei
Dutzend Clans verteilt wird. Nun wäre es ein Fehler zu behaupten, dass die Anteilsscheinprivatisierung
sich [für die Initiatoren] nicht gelohnt hätte und nicht das beabsichtigte Resultat
erbrachte. Ganz im Gegenteil: Sie hat jegliches Interesse der angeblich zu Eigentümern
gemachten Ukrainer an solchen Prozessen zuverlässig abgetötet. Der Großteil
der Bevölkerung hat seine Anteilszertifikate zu einem Spottpreis verschenkt.
Man hat sich vom Volk losgekauft und ihm dafür nichts gegeben, und nun kommt
die Zeit, auch das zu verteilen, was noch nicht verteilt worden ist, vor allem
solch attraktive Wirtschaftszweige wie die Energiewirtschaft.
Im Trubel dieses großangelegten Nomenklatura-Diebstahls wurden ganze Industriezweige
der Ukraine zerstört oder zum Spottpreis verschachert. Was war die Aufteilung
und die Verrechnung des Besitzes der Schwarzmeer-Handelsflotte gegen geringfügige
Schulden, praktisch ihre Vernichtung, wert? Ganze Hochtechnologie und Militärindustriebranchen
existieren nicht mehr. Faktisch hat dies zu einer Deindustrialisierung des Landes
geführt. Unmittelbar damit verbunden ist die Deintellektualisierung der Ukraine.
Da ein Großteil der Industrie stillgelegt wurde und nach zehn Jahren Ausplünderung
und moralischer wie physischer Vernichtung keine Erneuerung gewärtigen kann,
haben Ingenieure und Techniker ihre Qualifikation verloren oder sich umqualiziert:
sie arbeiten nun als Kleinhändler auf den allgegenwärtigen Basaren. Dasselbe
kann man von der Wissenschaft sagen, die weder Finanzierung noch Forschungsaufträge
hat. Junge und begabte Wissenschaftler haben schon längst ihren Platz im Ausland
gefunden. Einige freundlich gesinnte Staaten und strategische Partner dünnen
durch diverse Immigrationsprogramme (wahrscheinlich im Geiste der Ukrainehilfe)
das übriggebliebene intellektuelle Potential noch zusätzlich aus. Zweifellos
gibt es auch einige Erfolge, doch sie liegen alle im humanitären Bereich. Auf
dem Gebiet der Grundlagenforschung und der neuen Technologien jedoch gehört
die Ukraine weder zu den Ländern, die solche Technologien entwickeln und beherrschen,
noch zu jenen, die sie nutzen sie gehört zu den Ländern, die abseits vom technischen
Fortschritt stehen.
Die soziale Instabilität führt auch zu negativen demographischen Entwicklungen.
Das schwache bzw. noch nicht einmal mehr auf dem Niveau der Sowjetunion existente
Sozialsystem hat eine krassen Senkung der durchschnittlichen Lebenserwartung
und der Geburtenrate sowie Massenmigrationsbewegungen zur Folge. Ökonomische
Faktoren sind hier vorrangig die Ursache, aber auch die Unmöglichkeit, eigene
Lebensentwürfe in der Ukraine zu realisieren. Einige Migrationsströme sind auch
ethnisch gefärbt (wie z. B. die Auswanderung der ukrainischen Juden oder die
Rückkehr der Krimtataren), wurden aber nicht durch Xenophobie ausgelöst. Als
besorgniserregende Bilanz der vergangenen 10 Jahre mag die Tatsache gelten,
daß ca. 400.000 Frauen im gebärfähigen Alter die Ukraine verlassen haben sie
suchen ihr Glück oder Unglück im Ausland. Im Ergebnis steht die Ukraine vor
einem realen Bevölkerungsschwund: verschiedenen Berechnungen zufolge hat sie
bis zu zwei Millionen Einwohner verloren.
Das Hauptziel der Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates sollte die
Förderung der Entwicklung des ukrainischen Ethnos sowie die Unterstützung der
nationalen Minderheiten bzw. die Sicherstellung ihrer Rechte sein. In Wirklichkeit
jedoch geht ungeachtet der Versicherungen interessierter und nicht allzu kompetenter
Funktionäre der Denationalisierungsprozess der Ukrainer und anderer Völker unter
Einsatz moderner technischer und medialer Mittel rapide weiter. Man nennt diesen
Prozeß oft Russifizierung. Das trifft zu, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Es genügt, einen Gang durch die Straßen zu machen vielleicht nicht einmal
im [fast ausschließlich russischsprachigen, d. Übers.] Sewastopol oder Donezk,
sondern in unserer Hauptstadt Kiew. Im 10. Jahr der Unabhängigkeit haben wir
eine praktisch ausschließlich russischsprachige Unternehmerschicht (nur ein
verschwindender Teil jenes einen Prozents der Bevölkerung, das drei Viertel
des Eigentums besitzt, ist ukrainischsprachig), ein russischsprachiges Militär
(die Mehrheit des Offizierskorps bedient sich ausschließlich des Russischen),
russischsprachige Massenmedien (die meisten TV-Programme laufen auf Russisch
oder werden direkt aus Russland gesendet, die ukrainische Regierung hat keine
Kontrolle über den strategisch wichtigen ukrainischen Informationsraum) und
schließlich eine russischsprachige Staatsgewalt.
Ein solcher Zustand kann unmöglich nicht als Sicherheitsrisiko aufgefasst
werden. Dabei würde ich einen Prozess, der auf Aneignung einer gepflegten russischen
Hochsprache und der russischen Hochkultur hinausläuft, nie als Russifizierung
bezeichnen. Etwas ganz anderes aber ist die faktische Dominanz russischer elektronischer
und traditioneller Massenmedien in der Ukraine. Russland tut alles, um den bestehenden
Status quo nicht nur zu erhalten, sondern ihn nach Möglichkeit auch noch tiefer
zu verwurzeln. Als Kern des Konzeptes Projekt Russland wird eben oft die weitestmögliche
Verbreitung des Gebrauchs der russischen Sprache und der russischen Massenmedien
verstanden, was mit der praktischen Politik der Russischen Föderation übereinstimmt.
Sergej Tschernyschow sprach im Rahmen eines Vortrags über Strategien der russischen
Identitätsfindung vor dem russischen Sicherheitsrat von einem zukünftigen Russland
als transnationaler, weltumfassender Korporation Russland, nicht nur als einem
Territorium Russländische Föderation ein Konzept, das von der banalen These
ausgeht, daß man die russische Sprache wiederbeleben sollte; nur so könne man
zu einer Konzeption für die nationale Sicherheit Russlands gelangen.
Parallel läuft der Prozess der Sowjetisierung und der unendlichen Reproduktion
des homo sovieticus praktisch unbemerkt und aus Trägheit weiter. Vor
unseren Augen vollzieht sich die Zerstörung der ukrainischen und anderer Sprachen,
einschließlich der russischen. Genug, daß es uns nicht gelingt, neue Bereiche
des menschlichen Lebens zu versprachlichen (so im Bereich der neuen Technologien)
wir verlieren auch die Tuchfühlung mit der alten ukrainischen Sprachwelt.
Auf diese Weise sind innerhalb der ukrainischen und russischen Welt und Sprache,
in denen wir leben, ganze Zonen von Stummheit, Taubheit und Blindheit entstanden:
Es gibt eine ganze Reihe von wichtigen Phänomenen in der modernen Welt, die
wir nicht sehen können, oder aber wir finden keine Worte, um über sie zu sprechen.
So wird auch die Muttersprache der letzte Zufluchtsort der Selbstbestimmung
allmählich ausgewaschen. Alle ethnischen Gruppen sind von dieser schleichenden
Sowjetisierung betroffen, und darüber lagert sich eine Amerikanisierung der
niedrigsten Sorte, die von den Massenmedien propagiert wird..
Unmittelbar nach der Erklärung der Unabhängigkeit gab es in der Ukraine keine
feststehende Schichtung verschiedener Elitengruppen. Die Struktur der alten
sozialistischen Wirtschaft ließ eine Bildung von Eliten und Elitennetzwerken
im Rahmen territorialer Einheiten nicht zu. Es handelte sich eher um ein bestimmtes
Produktionsprinzip von Elite und um die Bildung überterritorialer Verbindungen.
Daher begann in der ersten Etappe nach dem Zusammenbruch der sozialistischen
Wirtschaft und nach der Unterbrechung der übernationalen Verbindungen ein harter
Kampf auf regionaler Ebene. Kiew war damals noch sehr weit entfernt und schwach.
So entstanden etliche territoriale Clans: der Dnipropetrowsker, der Donbas-Clan,
der Charkiwer, der Odessaer. Eine ganze Anzahl von Regionen jedoch schaffte
es nicht, eigene territoriale Seilschaften herauszubilden. Nun ist dieser Prozess
im Großen und Ganzen vollendet. Es gibt zwar einige größere Interessengruppen,
aber Kiew, wo wiederum der Dnipropetrowsker Clan und die alte Kiewer Nomenklatura
den Ton angeben, hat im Großen und Ganzen alles unter Kontrolle. Heute kann
man von einer Konsolidierung der Clans und Oligarchen unter der Oberherrschaft
des Präsidenten sprechen. Das schließt natürlich ständige Konflikte zwischen
ihnen um die jeweils engste Nähe zum Präsidenten und seiner Administration nicht
aus.
Ein wesentliches Moment in der Elitenbildung ist der enge Zusammenschluss von
Regierung, Bürokratie und angeblich freiem Unternehmertum. In Wirklichkeit ist
jeder Unternehmer stark abhängig vom Staat. Die mächtigsten Oligarchen können
mit Hilfe des staatlichen Repressionsapparat ihres Eigentums beraubt werden.
Wir sprechen hier nicht nur von P. Lasarenko als einem klassischen Beispiel
solcher Abhängigkeit. Administrative Repressionen erlebt fast jedes effektive
und rentable Unternehmen, das keinen Patron innerhalb des Staatsapparates hat.
Somit werden Eigentum und Produktionspotenzial umverteilt und immer stärker
monopolisiert. Es ensteht ein absolut perspektivloses Modell des Staatkapitalismus,
der sich auf administrative Ressourcen und auf das staatliche Gewaltmonopol
stützt.
Die Rolle der Oligarchie in einer so differenzierten Gesellschaft wie der ukrainischen
kann man wie folgt beschreiben: Momentan ist sie zu einem effektiven Mechanismus
geworden, der die Entwicklung von Marktwirtschaft und Bürgergesellschaft bremst
und eine Gefahr für die staatliche Existenz der Ukraine darstellt. Deshalb sollte
man sie als extrem reaktionäre Gruppe bewerten, die für das langsame, aber stetige
Abgleiten der ukrainischen Gesellschaft in den monopolistischen Staatskapitalismus
verantwortlich ist. Aus diesem Grund kann man die Handvoll Oligarchen, die der
Macht nahestehen, als Stagnarchen bezeichnen, und ihre Regierungsform
als Stagnarchie.
4. Das nationale Projekt in der langfristigen Perspektive
Mehrmals und symptomatisch hat Präsident Kutschma sowohl während seiner ersten
als auch während seiner zweiten Amtszeit ein und denselben Satz wiederholt:
Was also bauen wir eigentlich auf? Offensichtlich richtet er diese Frage nicht
nur an sich selbst, sondern auch an die Gesellschaft. Mit seiner Frage liegt
er vollkommen richtig, denn wer weiß in der heutigen Ukraine schon eine Antwort?
In der Tat, was bauen wir auf? Die bloße Erklärung der Unabhängigkeit reicht
hier überhaupt nicht. Die tagespolitischen Spielchen der Stagnarchenclans, die
die aktuelle ukrainische Politik ausmachen, tragen nichts bei zur Öffnung langfristiger
Perspektiven, die wir realisieren sollten ebenso wie die kurzlebigen Pläne
der National-Demokraten, die sich auf banalste Schlagworte reduzierten, keinerlei
reale Perspektive hatten.
Um ein Projekt oder einen Plan zu entwickeln, braucht man vor allem die Zielsetzung.
Gibt es ein einheitliches Ziel, das von den meisten ukrainischen Bürgern akzeptiert
wird? Die mangelnde Konsolidierung dieser Gruppe macht es zweifellos sehr schwer,
sich ihre Ziele bewusstzumachen und damit auch die Mittel, mit denen man diese
Ziele erreichen kann. Ein mögliches Ziel für die erste Etappe wäre, einen Minimalkonsens
in bezug auf allgemeinste Fragen zu erreichen. Aber dieser Konsens muss von
allen Teilnehmern des Projektes Ukraine erarbeitet und akzeptiert werden.
Wenn man keinen allgemeinnationalen Konsens erreicht, werden in jeder Region
eigene Subprojekte Ukraine entstehen, die einander widersprechen werden. Im
Moment stehen wir vor einer solchen Situation. Die Machthaber haben gelernt,
dies geschickt auszunutzen, sprechen in jeder Region mit der jeweiligen Zeichensprache
und verprechen jeder, genau ihr Subprojekt in die Tat umzusetzen. Das verschafft
ihnen die Möglichkeit, die Konsolidierung der Bevölkerung verschiedener Regionen
zu einem politischen Organismus, zu einer politischen Nation mit einem Ziel
und Willen, dieses Ziel zu realisieren, zu verhindern. Und in dieser Situation
allgemeiner Fragmentierung können sie umso besser ihre eigenen Probleme lösen.
4.1. Die russische Vision des Projektes Ukraine
Es wäre merkwürdig, wenn Russland kein eigenes Projekt Ukraine hätte. In
der ersten Zeit der Wirren nach der Auflösung der Sowjetunion gab es in Russland
praktisch überhaupt keine Vorstellung davon, was man mit der Ukraine anfangen
sollte. Die Zeit für revanchistische Projekte war noch nicht gekommen, Russland
befand sich noch in einem Schockzustand. Mehr noch Boris Jelzin zeigte der
Ukraine gegenüber sogar ein gewisses Wohlwollen, denn es war ja gerade die ukrainische
Verselbständigung, die ihm an die Macht verholfen hatte.
Jedoch schon in der spätjelzinschen Periode des Heraustretens aus dem Demokratisierungsnebel
(und nicht einer wirklichen Demokratisierung) kehrte Russland zu revanchistischen
Projekten einer Wiederherstellung des Imperiums und neuer Expansionansprüche
an die Ukraine zurück. In Russland begann man, ein eigenes Projekt Ukraine
zu entwickeln, das natürlich den nationalen Interessen der Russländischen Föderation
entsprechen sollte. Russland machte nun eine agressivere Außenwirtschafts und
Informationspolitik, die für die Ukraine einen fast vollständigen Verlust ihrer
informationell-kulturellen Eigenständigkeit und zum Teil auch wirtschaftlichen
Unabhängigkeit zur Folge hatte. Verantwortlich für letztere ist die andauernde
Abhängikeit der Ukraine von russischen Energieträgern, die durch die pro-russische
Erdöl und Erdgaslobby in der Ukraine und die Russländische Föderation gestützt
wird. Das russische Projekt Ukraine muss nicht unbedingt eine primitive Einverleibung
der Ukraine durch Russland zum Ziel haben, wie es die russischen imperialen
Revanchisten am liebsten sähen. Für Russland gehört die Ukraine zur eigenen
Einfluss Interessensphäre. Es versucht, die Ukraine in eine größtmögliche Abhängigkeit
von der Russländischen Föderation zu bringen ob dies nun Wirtschaft, Politik,
Sicherheitsfragen oder sogar die ukrainische Identität betrifft. Zu diesem Zweck
baut Russland seine Einflussgruppen auf den verschiedensten Niveaus und in den
verschiedensten Bereichen auf von den Massenmedien bis hin zur Wirtschaft.
Wenn es nötig erscheint, blockiert es Maßnahmen, die diese Verbindung stören
wurden verwiesen sei auf das Beispiel des Erdölterminals in Odessa. Nicht
weniger vielsagend ist das Quasi-Monopol Russlands auf Lieferung von Energieträgern
in die Ukraine.
4.2. Die amerikanische Vision des Projektes Ukraine
Gleichzeitig wird allmählich auch das amerikanische Projekt Ukraine in Umrissen
sichtbar. Die USA sind eindeutig an der Ukraine interessiert und geben ihr die
Rolle einer Pufferzone zwischen der NATO und Russland mit seinen Satelliten.
Sie verstehen hervorragend, daß es nicht zuträglich wäre, Russland durch eine
Annexion der Ukraine zu stärken. Mehr noch sie glauben, daß Russland sich
nur dann zu einem demokratischen (und daher für die USA berechenbaren und nicht
gefährlichen) Staat entwickeln kann, wenn es seine imperialen Ambitionen aufgibt.
Wahrscheinlich ist es sinnlos, von einer gemeinsamen westlichen Position zu
sprechen. Es gibt aufgrund der Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und
der EU, innerhalb der EU und innerhalb der NATO keine gemeinsame Position. Einen
möglichen Weg für den Wiederaufbau der Ukraine sehen die USA in enger Kooperation,
möglicherweise auch in einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft in ferner Zukunft
sowie in einer (vielleicht durch die USA geförderten) Annäherung an die EU.
Uber eine EU-Mitgliedschaft spricht man natürlich nicht, aber nach amerikanischer
Auffassung sollte man sich in diese Richtung bewegen. Diese Position der USA
ist für die Ukraine sehr günstig, und sie sollte dies zur Verwirklichung eines
euro-päischen oder euroatlantischen Projekt nutzen.
4.3. Die EU-Vision des Projektes Ukraine
Man könnte an dieser Stelle allerdings auch von der Nichtexistenz eines EU
Projektes Ukraine sprechen. Die EU hat derart viele innere Probleme und Sorgen,
die mit dem Erweiterungsprozess verbunden sind, dass sie die ukrainische Frage
nahezu übersieht. Freilich verschwindet ein Problem nicht dadurch, dass man
die Augen vor ihm verschließt. Erst vor kurzem hat die Suche nach einem Platz
für die Ukraine im sogenannten gemeinsamen europäischen Haus begonnen. Es
hat sich unzweideutig gezeigt, daß uns kein Platz in der komfortablen EU freigehalten
wird, sondern nebenan, oder genauer gesagt zwischen der EU und der Russländischen
Föderation. Allen pro-europäischen ukrainischen Anstrengungen zum Trotz hält
die EU bis heute an dieser Position unverändert fest. Und sie hat recht ein
staatsmonopolistisches Projekt Ukraine, das im Autoritarismus stagniert, lässt
sich nicht ins europäische Haus integrieren. Offen bleibt dabei eine Frage:
Darf man wenn man einmal abstrahiert vom real existierenden Gosudarstwo Ukraina,
jenem Parallelrussland oder Kryptorussland, das die Ukraine heute darstellt
der Ukraine generell jedwede europäische Perspektive nehmen? Aus diesem Grunde
negiert die offizielle Position der EU auch nicht die europäische Zukunft der
Ukraine, bindet diese aber an die vorher zu vollendenden zwei Etappen der EU-Erweiterung
und an Veränderungen in der Ukraine selbst.
4.4. Die Oligarchie-Nomenklatura-Vision des Projektes
Gosudarstwo Ukraina
Wie schon oben erwähnt, gibt es kein einheitliches Projekt Ukraine, das auf
einem allgemeinnationalen Konsensus basiert. Dagegen existieren einige unterschiedliche
Vorschläge zum Projekt Ukraine, die nicht nur weit voneinander entfernt sind,
sondern sich sogar gegenseitig ausschließen. Das bedeutet aber wiederum nicht,
daß keins dieser Projekte realisiert werden könnte.
Den realen Zustand in der Ukraine kann man als Vollendung des oligarchisch-nomenklatorischen
Projekt Ukraine in der Form des Gosudarstwo Ukraina bezeichnen. Die Stagnarchie
hat dieses Projekt realisiert und ist fast vollständig zufrieden damit. Sie
hat die Macht behalten, hat darumherum das Staatsmonopol als ein eineitliches
politisches Ganzes konsolidiert, hat den Übergang von der Plan zur staatskapitalistischen
Wirtschaft überstanden und ist gerade dabei, die Eigentumsumverteilung abzuschließen.
Im Prinzip ist sie weder an der Abschaffung des Staatsmonopols noch am Aufbau
einer Zivilgesellschaft interessiert, die für sie gefährlich werden könnte.
Gleichzeitig hat die Stagnarchie alles getan, um die EU-Perspektive der Ukraine
zunichtezumachen, die dem Projekt Gosudarstwo Ukraina ein Ende setzen würde.
Die Stagnarchie ist an einer Zivilisierung der Wirtschaftspolitik in der Ukraine
nicht interessiert, und entsprechend sollte man offizielle Erklärungen von einer
europäischen Wahl der Ukraine auch nicht allzu ernst nehmen.
Das einzig beunruhigende Moment für die Stagnarchie ist, dass der Westen einen
solchen Stand der Dinge nicht akzeptiert, auch wenn ihr gesunder politischer
Zynismus den strategischen Partnern erlaubt, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt
die Mängel des Gosudarstwo Ukraina zu übersehen. So unterstützten die USA
zeitweise das Projekt Gosudarstwo Ukraine aus politischen, antirussischen
und teilweise auch EU-feindlichen Motiven. Für die EU ist dieses Projekt inakzeptabel
und unverständlich. Unter den nächsten Nachbarn verzichtet nur Polen, das eigene
konkrete geopolitische Interessen in der Ukraine hat, auf eine diplomatische
Distanzierung vom Gosudarstwo Ukraina, anders als Tschechien und die Slowakei.
Eine ähnliche Teil-Unterstützung genießt das Projekt Gosudarstwo Ukraina
von russischer Seite, da es den Weg für die Reintegration Russlands und seiner
Satelliten sowie der Ukraine freimacht. Freilich gibt es auch andere Tendenzen,
die man nicht übersehen sollte: Ein Teil der ukrainischen Stagnarchen ist an
einer Macht und Eigentumsumverteilung zum Vorteil der mächtigeren russischen
Oligarchen keinesfalls interessiert und wird daher die Reintegration mit Russland
und die Annäherung mit der EU gleichermaßen sabotieren. Einen endgültigen Beschluss
hinsichtlich der Entwicklungsrichtung nach Osten oder nach Westen kann es
im Rahmen des Projektes Gosudarstwo Ukraina nicht geben. Es ist ja gerade
das Wesen dieses Projektes, sich in keinerlei Richtung zu bewegen, weil dann
die Spielregeln für die Machteliten geändert sowie das Eigentum und folglich
auch die Macht umverteilt würden. Das westliche oder das russische Großkapital
würde das schwächere Kapital der neuen Russen in der Ukraine vom Erdboden
tilgen, ehe diese Zeit hätten, mit der Wimper zu zucken.
4.5. Vorschläge zum Projekt Ukraine
Trotz allem bleibt die Ukraine ein Problem. Ein Problem für sich selbst, da
für die meisten ukrainischen Bürger der Stand der Dinge inakzeptabel ist. Einvernehmliches
Schweigen bedeutet jedoch noch kein Einverständnis. Wenn die Gesellschaft sich
auch weiterhin nicht verändert, sondern nur am Rande des Überlebens vegetiert,
ist sie zum Untergang verurteilt. Es ist also trotz allem nötig, sich wenigstens
konzeptülle Gedanken darüber zu machen, was zu tun ist, denn weiterleben kann
man auf diese Weise nicht.
4.5.1. Das europäische Projekt
Eins der attraktivsten Projekte für einen Staat mittlerer Grösse wie die Ukraine
könnte das europäische Projekt sein. Unter dem Vorbehalt, dass heute ein Beitritt
der Ukraine zur EU unmöglich ist, könnte dieses Projekt darin bestehen, daß
die Ukraine alle Lebensbereiche so eng wie möglich an die EU-Standards anpasst.
Kürzlich hat die Ukraine ein auf sieben Jahre angelegtes Programm der Integration
mit der EU angenommen es hat eine praktische Anpassung an die EU-Richtlinien
im Bereich der Gesetzgebung, der Wirtschaft usw. zum Ziel. Diese Annäherung
an die EU soll mit maximal möglicher Unterstützung der USA und längerfristig
auch der Bundesrepublik und Polens erfolgen. Der zeitliche Rahmen des Projektes
wird durch die Effektivität der EU nach Vollendung der beiden Erweiterungsschübe
bestimmt, daneben auch durch die möglichen politischen Konstellationen, die
diesen Prozess entweder beschleunigen oder bremsen können.
4.5.2. Das Schwarzmeer-Mittelmeer-Projekt
Eine weitere Entwicklungsrichtung des Projektes Ukraine (vorausgesetzt, daß
die Entwicklung des Projektes in Richtung EU blockiert wird und es bei seiner
Entwicklung Richtung Russländische Föderation Komplikationen gibt) könnte die
Entwicklung der Beziehungen Richtung Schwarzmeer und Mittelmeerregion sein.
Die Bildung der GUUAM (ein politisches Bündnis Georgiens, Usbekistans, der Ukraine,
Aserbajdschans und Moldowas) kann als Vorspiel für dieses Projekt gelten. Es
hat gute wirtschaftliche Perspektiven vor allem den Transport und die Verarbeitung
von Erdöl und Erdgasprodukten aus der kaspisch-kaukasischen Region, eventuell
sogar dem Nahen Osten. Allerdings besteht keinerlei Anlass, in diesem Projekt
eine Ressource für die Demokratisierung zu vermuten. Die Ukraine ist schon jetzt
praktisch Führungsmacht in diesem politisch-wirtschaftlichen Bündnis und könnte
auf diese Weise günstige Positionen in der Organisation für Zusammenarbeit im
Schwarzmeerraum besetzen.
4.5.3. Das russlandzentrische Projekt
Man sollte das russlandzentrische Projekt nicht vernachlässigen, womit aber
nicht das Projekt gemeint ist, das Russland derzeit verfolgt, sondern ein genuin
ukrainisches. Die Ukraine könnte versuchen, ihre Beziehungen mit der Russländischen
Föderation entsprechend diesem Projekt eigenständig aufzubauen. Unter bestimmten,
derzeit nahezu unrealistisch scheinenden Umständen, wenn beide Seiten zu einer
wirklichen Verständigung kommen, kann dieses Projekt sehr effektiv sein. Dazu
müssen sich aber sowohl Russland, als auch die Ukraine ändern. Zunächst müsste
Russland auf sein imperiales Syndrom verzichten und keine taktische, sondern
eine langfristige Lösung mit der Ukraine suchen, die auf der Existenz eines
befreundeten Staates Ukraine, nicht eines ukrainischen Marionettenregimes beruht.
Die Ukraine hingegen, sich von ihrer nicht unbegründeten Angst vor dem russischen
Imperialismus befreien und aus der stagnarchischen Sackgasse herauskommen, in
die sie sich selbst hineinmanövriert hat.
4.5.4. Das Pufferstaats-Projekt
Momentan wird eine Mischung von stagnarchischen und amerikanischen Pufferstaatsprojekten
realisiert, die nicht nur in Washington, sondern auch in Kiev, allerdings ohne
großen Nachdruck, geplant werden. Die strategische Partnerschaft mit den USA
und Russland erlaubt den ukrainischen Stagnarchen ihren Pufferstaat zu realisieren,
der sich in keinerlei Richtung bewegt und der sich als gesellschaftlicher Organismus
nicht fortentwickelt. Für die USA ist übrigens die politische Ordnung ihres
strategischen Partners von untergeordneter Bedeutung; für sie zählen die politischen
und militärischen Verpflichtungen und die Treue der Ukraine als politischer
Partner. Dies nützt Kiew geschickt aus. Es schmarotzt sozusagen auf seiner geopolitischen
Ressource und konserviert auf diese Weise den aktuellen Stand der Dinge. Gleichzeitig
kommt Kiew aber auch Russland nicht zu nahe und sichert sich so auch in dieser
Richtung ein Stagnationsfeld.
4.5.5. Das Ostsee-Schwarzmeer-Projekt
Nahezu unrealistisch bzw. durch die Vereinigung von Russland und Weißrussland
sowie die eindeutige pro-EU-Position der baltischen Staaten verunmöglicht erscheint
derzeit das Ostsee-Schwarzmeer-Projekt. Gleichermaßen wurde Weißrussland als
natürlicher strategischer Partner der Ukraine neutralisiert. Merkwürdigerweise
ist dieses Projekt vollkommen aus dem Blickfeld geraten. Stattdessen wird über
Polen, das sich in allen Parametern wesentlich stärker von der Ukraine unterscheidet,
öfter gesprochen. Trotz der derzeitigen Situation in Weißrussland kann die weißrussische
Ressource für die Ukraine durchaus noch von Bedeutung sein.
4.5.6. Das zeitgebundene Projekt Ukraine
Eine weitere Möglichkeit, die sich eröffnet, ist das Warten auf heranwachsende
neue Generationen und auf den Abgang der alten Nomenklatura, deren spezifische
Denkweise und Art, Beschlüsse zu fassen, dann von der politischen Bühne verschwinden
wird. Die Jugend sollte über eine besser entwickelte staatsmännische und unternehmerische
Erfahrung verfügen. Früher oder später ist es unvermeidlich, dass sie ihre Ansprüche
auf die Macht erklären wird. Aber wird eine solche Jugend derzeit herangebildet?
Die meisten quälen sich mit den Alltagsproblemen einer stagnierenden Gesellschaft
ab. Gleichzeitig haben Nomenklatura und Stagnarchen längst ein System zur Sicherstellung
ihrer Nachfolge eingerichtet. Die sowjetische Nomenklatura hat die Oligarchie
und die Stagnarchen hervorgebracht, und letztere erziehen wiederum Nachfolger,
die am Verlust eigener Positionen und am Aufbau einer Bürgergesellschaft nicht
interessiert sind. Dies kann die Entwicklung der Ukraine vollständig blockieren.
4.5.7. Das sprachliche Projekt Ukraine / Projekt Ukraine-Sprache
Dieses Projekt hat unter den Bedingungen des Gosudarstwo Ukraina nicht die
geringste Perspektive; trotzdem sollte es erwähnt werden. Die ukrainische Sprache
könnte als Konsolidierungselement einer potentiellen ukrainischen politischen
Nation eine große Perspektive haben. Aber auch in der unabhängigen Ukraine,
in der postkolonialen, faktisch sogar neokolonialen Periode unserer Geschichte
ist sie gnadenlosen Repressionen ausgesetzt. Deshalb steht die Gesellschaft
vor der Aufgabe, die Identifizierung mit der ukrainischen Sprache und die Ausbildung
einer ukrainischen Weltsicht zu fördern. Eine effektive und eigenständige Identität
auf Grundlage einer faktischen Zweisprachigkeit der ukrainischen Bevölkerung
aufzubauen, ist angesichts des Drucks, der vom russischen neoimperialen Diskurs
und von der neorussischen / russischsprachigen Identität ausgeht, unmöglich.
Man sollte also in Richtung dieser und vielleicht noch einiger anderer Entwicklungsmöglichkeiten
des Projektes Ukraine arbeiten.
Für die Unabhängigkeit des neuen Staates Ukraine und für die Realisierung des
Projektes Ukraine wurde fast kein Blutstropfen vergossen. Es ist also im direkten
Wortsinne unschätzbar [Wortspiel mit ukr. bezcinnyj = ohne-Preis, d. Uebers].
Das Projekt hat keinen Preis, es wurde nichts dafür bezahlt und deshalb wird
es auch nicht angemessen geschätzt. Die Stagnarchie lebt von einem Tag auf den
anderen. Den Hauptteil ihres Kapitals hat sie durch all die Jahre der Existenz
des Gosudarstwo Ukraina vorsorglich im Ausland deponiert. Sie sind wie die
Ratten, die bereit sind, das sinkende Schiff jederzeit zu verlassen. Den verarmten
Massen, deren Anteil an der Gesamtgesellschaft ständig steigt, hat das Projekt
Gosudarstwo Ukraina fast nichts gegeben, und deshalb bindet auch keine Emotion
sie an dieses Projekt. Die sogenannte Mittelschicht hingegen kann sich in einer
oligarchischen Nomenklaturgesellschaft erst gar nicht bilden.
aus dem Ukrainischen Sofia Onufriv
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20
2001
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