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Taras Wozniak

"Projekt Ukraine". Bilanz eines Jahrzehntes

© T.Wozniak, 2000

1. Voraussetzungen fÜr die Enstehung des “Staates Ukraine”

1.1. Die Krise und der Zusammenbruch der Sowjeunion

Zweifellos waren die tiefe Krise der sowjetischen Gesellschaft und die Niederlage, die die USA und ihre Verbündeten der UdSSR und ihrem Block im “kalten” oder, wie man ihn auch nennt, “dritten Weltkrieg” zugefügt hatten, eine Voraussetzung für die Enstehung eines neuen unabhängigen Staates unter dem Namen “Ukraine”. Die Ursachen sind vielfältig – angefangen von einer uneffektiven Gesellschaftsorganisation bis hin zum nicht mehr aufzuholenden technologischen Rückstand. All das führte zu einer tiefen Erosion sogar der Überreste der kommunistischen Ideologie, zu einem allgegenwärtigen Zynismus, der die gesamte Gesellschaft von der Spitze bis zur Basis ergriff.

Der Zusammenbruch der UdSSR war unvermeidlich. Doch die Machteliten und das Volk sahen sich mit dem Problem der weiteren Organisation der Gesellschaft bzw. der Gesellschaften konfrontiert. Abgesehen davon stand die Parteinomenklatura vor dem Problem des Machterhalts, der Wirtschaftkontrolle, der Transformation von Regierungsformen unter gleichzeitiger Bewahrung des Status Quo.

Der sowjetischen Nomenklatura stellten sich folgende Fragen:

– Überwindung der Krise durch die Veränderung der sozialen Organisationsform der Gesellschaft (ein revolutionäres Projekt)

– Überwindung der Krise durch weitgehende gesellschaftliche Veränderungen nach dem Muster der “Schockterapie” oder durch allmählichen Wandel (Evolutionsprojekt)

– Überwindung der Krise in Gestalt eines Einheitsstaats mit einzelnen Regionen nach dem chinesischen Muster “zwei Systeme, ein Land” (ein integratives Projekt), oder in Gestalt voneinander unabhängiger Staaten und Territorien (ein desintegratives Projekt).

Die nicht sehr zahlreichen oppositionellen antisowjetischen Kräfte zerfielen in zwei Lager: Die einen plädierten für eine maximale Demokratisierung der Gesellschaft (nennen wir sie mit Vorbehalt Demokraten), die anderen kämpften für die nationale Befreiung der sowjetischen Völker oder für deren nationale Identität, so im Falle der Ukrainer und Russen (nennen wir sie mit Vorbehalt Nationalisten). Ihre Ansichten hinsichtlich der zukünftigen politischen Ordnung allerdings deckten das gesamte Spektrum von der Demokratie bis zum Totalitarismus ab. Die kommunistischen “Orthodoxen” schließlich standen in Opposition zu jedweder planmäßiger Transformation, waren aber zu jener Zeit frustriert und nicht darauf vorbereitet, den Veränderungen effektiven Widerstand entgegenzusetzen.

Im folgenden skizziere ich die wichtigsten politischen Kräfte, denen es bewusst war, dass Veränderungen dringend notwendig waren und die Wege zur Transformation suchten. Michail Gorbatschow repräsentierte das Projekt einer evolutionären gesellschaftlichen und politischen Transformation im Rahmen eines Staates (evolutionäres integratives Projekt). Dagegen strebten die Führer der jeweiligen nationalen Parteieliten, darunter auch Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, nach Macht und Unabhängigkeit von der Zentrale und repräsentierten damit das Projekt einer evolutionären (Krawtschuk) bzw. revolutionären gesellschaftlichen Transformation (der frühe Jelzin) im Rahmen relativ oder vollständig unabhängiger Territorien, deren Eigenständigkeit ihnen ermöglichen sollte, die Kontrolle über den Transformationsprozess zu behalten (evolutionäre/revolutionäre Desintegrationsprojekte).

Die “Demokraten” versuchten, utopische Projekte einer Reformierung der UdSSR (Sacharow) im Rahmen eines Einheitsstaats bzw. unter Ablehnung des Einheitsstaates zu vertreten (evolutionäre/revolutionäre Integrations– und Desintegrationsprojekte). Sie legten den Akzent jedoch nicht auf das Desintegrationsproblem, sondern bestanden vielmehr auf einer tiefgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft. Auch der wirtschaftlichen Transformation widmeten sie gewisse Aufmerksamkeit. Die Frage der administrativen Transformation allerdings geriet völlig aus ihrem Blickfeld. Daher rückten Demokratisierungsziel und Wirtschaftsreform ins Zentrum, während die Frage der Machtergreifung und -erhaltung vernachlässigt wurde. Einige der Oppositionellen zeicheten sich durch prinzipielle Ablehnung des Staates als solchem aus und bereiteten so die Basis, sich selbst aus dem Prozess der politischen Transformation zu eliminieren. Es hat sich aber herausgestellt, dass der alleinige Kampf für Menschenrechte nicht ausreichte. Vielmehr war es wichtig, in einem Transformationsprozess moderne Formen der Gesellschaftsordnung zu schaffen, die sich in der neuen ukrainischen Staatlichkeit konstituieren sollten. Die Nichtanerkennung dieser Tatsache hat dazu geführt, dass die “Demokraten” aus dem politischen Prozess verschwunden sind.

Die “Nationalisten” hingegen plädierten für ein Projekt der Desintegration der UdSSR und zeigten kaum Interesse für andere Transformationsaspekte, so die Demokratisierung oder die gesellschaftliche und wirtschaftliche Reorganisation als Basis für den Aufbau einer effektiven Gesellschaft (evolutionäre/revolutionäre Desintegrationsprojekte). Für sie waren diese Forderungen nicht aktuell, denn sie galten entweder als bloßes Mittel zur Erlangung der nationalen Unabhängigkeit, oder sie wurden schlicht ignoriert. Diese Borniertheit war ein Grund für die Niederlage dieser Ausrichtung in der Folgezeit. Grundsätzlich gilt die Aufmerksamkeit in ihren Projekten dem Problem der Machtergreifung, während sie sich mit der Transformation der nationalen Gesellschaft zu einer modernen, politischen und wirtschaftlich effektiven Gesellschaft nicht auseinandersetzen. Im Prinzip zielten sie auf die Machtergreifung innerhalb der real existierenden Gesellschaft und auf ein etatistisches Projekt. Da ihr einziges Ziel der Aufbau eines unabhängigen ukrainischen Staates war – mit welchen Mitteln auch immer – verständigten sie sich recht schnell mit der Nomenklatura und vermeinten, diese bekämpfen zu können, indem sie nach deren Spielregeln und auf deren eigenen Feld spielten. Die kommunisischen Orthodoxen wiederum hatten nichts besseres vorzuschlagen als einen Putsch, womit sie den Zerfall der UdSSR und damit auch Gorbatschows Projekt der Evolution im Rahmen eines einheitlichen Staates beschleunigten (konservatives integratives Projekt).

Welche Projekte sind schließlich in der Ukraine zur Ausführung gekommen, und in welchem Verhältnis standen sie zu anderen, die gleichzeitig existierten?

Offensichtlich haben sich in der Ukraine zwei Nomenklaturprojekte entwickelt – ein integratives und ein sehr gemäßigt-desintegratives Projekt. Möglich, dass letzteres zunächst nicht als vollwertige Doktrin gedacht wurde, es entstand aus der Situation heraus. Dagegen existierten die integrativen Nomenklaturprojekte sowohl in einer evolutionären (offiziellen) als auch in einer kommunistischen “orthodoxen” Ausprägung (in gewisser Absetzung vom offiziellen Projekt Gorbatschows). Die Autoren dieser Projekte zeichneten sich dadurch aus, dass sie im Besitz der realen, wenn auch geschwächten Macht waren. Sie waren also, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, in der Lage, ihre weitausgreifenden, das gesamte gesellschaftliche und politische Leben der Ukraine umfassenden Vorhaben in die Tat umsetzen. Sie verfügten über die Möglichkeiten und die administrativen Ressourcen, um sich auf eine grundlegende Neuverteilung von Macht und Eigentum vorzubereiten, erste Versuchsfelder des freien Unternehmertums auf der Basis verschiedenartiger Kooperativen zu testen und rechtzeitig finanzielle und materielle Mittel dorthin umzuleiten. Gleichzeitig blieben solche Formen nomenklaturagebundenen Wirtschaftens fest an die Macht gekoppelt. Auf diese Weise wurden die Grundlagen für die Verwirklichung der Projekte der postsowjetischen Nomenklatura gelegt.

Das konservativ-integrative Nomenklaturaprojekt hingegen scheiterte im Gefolge des Augustputsches von 1991. Der ukrainischen Nomenklatura blieb daher nichts anderes übrig, als das evolutionär-desintegrative Projekt in die Tat umzusetzen. Ein wirklich revolutionäres Projekt im ökonomischen Bereich hat die ukrainische Nomenklatura nie verfolgt, ungeachtet ihrer halbherzigen Erklärungen zu Wirtschaftsreformen, denn ganz offensichtlich hat sie solche Reformen nicht nötig gehabt. Eine frühe und konsequente Einführung der Martkwirtschaft hätte sie der Möglichkeit beraubt, das Eigentum zum eigenen Nutzen umzuverteilen – so, wie sie es dann auch gemacht hat.

“Demokraten” im reinen Wortsinne gab es in der Ukraine nur ganz vereinzelt. In der ersten Etappe der Transformation wurden sie von den ungleich zahlreicheren “Nationalisten” in den Schatten gestellt. Die “Nationalisten” dominierten eine kurze Zeit unmittelbar nach dem Augustputsch. Ihr desintegratives Projekt fiel zeitweise mit dem desintegrativen Projekt der Nomenklatura zusammen, die sich rechtzeitig umorientiert hatte. Dagegen verfügten sie über keine administrativen Ressourcen und maßen der Schaffung einer ökonomischen Basis für die politische Macht durch Umverteilung von Eigentum und Geldmitteln sowie durch die aktive Einführung neuer Wirtschaftsformen nur wenig Bedeutung bei – selbst in den wenigen Bezirken, in denen sie die Wahlen gewonnen hatten. Die “Nationalisten” beeilten sich, eine stillschweigende Übereinkunft mit der Nomenklatura abzuschließen, um einen Staat mit dem Namen “Ukraine” zu schaffen, ohne sich aber in diesem Staat reale Rollen zu sichern, die auf wirtschaftlicher und politischer Basis gründeten. Auf diese Weise traten sie das “Sakrament der Unabhängigkeit” an die noch kurz zuvor imperiale und offen antiukrainische Nomenklatura ab. Dieser gelang es schon bald darauf, die Idee der Unabhängigkeit zu usurpieren, die politische Spannung innerhalb der Gesellschaft aufzufangen und gleichzeitig die Misserfolge ihrer permanenten zehnjährigen Regierungszeit in der unabhängigen Ukraine den “Demokraten” und “Nationalisten” in die Schuhe zu schieben, wodurch letztere von der politischen Szene und von der großen Umverteilung des Eigentums und der Macht praktisch völlig ausgeschlossen wurden.

1.2 Die Basis für den Aufbau des “Staates Ukraine”

Eine der Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbau eines Staates ist die Selbstgewahrwerdung einer Gruppe von Menschen als Ganzheit. Dieses Einheitsgefühl kann auf verschiedene Weise entstehen, aber in jedem Falle braucht dieser Prozess Zeit. Nicht immer muss die ethnische Einheit als konsolidierendes Element auftreten, obwohl natürlich das Konstrukt der Einheit mit der Zeit durch natürliche Assimilationsprozesse zur Bildung eines neuen oder erneuerten Ethnos führen kann. Auch die primitive Unterdrückung eines Ethnos durch den anderen sowie die zwangsweise oder freiwillige Assimilierung können dabei eine Rolle spielen.

Wie war die Situation in der Ukraine? Der Erreichung der Unabhängigkeit ging aufgrund der krassen ideologischen Beschränkungen in der UdSSR kein langer Prozess voraus, der das Gefühl einer konsolidierenden Einheit hätte hervorbringen können. Mehr noch, die sowjetische Propaganda führte sogar innerhalb des ukrainischen Ethnos eine Spaltung herbei, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung der Ukrainischen SSR. Im gesellschaftlichen Bewusstsein entwickelten sich Image-Konstrukte wie “Westler”, “Bandera-Leute” (Anspielung auf eine Fraktion der in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem auf dem Territorium der Westukraine aktiven Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter Stepan Bandera, die nach der Wiedereroberung der Ukraine durch die sowjetische Armee als Partisanen gegen diese kämpfte; als Pejorativum für “Westukrainer”, “Galizier” in der Ostukraine verbreitet, Anm. d. Übersin), “Ostler”, “Chochly” (Eigentlich: “Zopf”, Anspielung auf die Haartracht der ukrainischen Kosaken im 16./17. Jh.; im Russischen pejorative Bezeichnung für “Ukrainer”; von Westukrainern auch als Pejorativum für russifizierte und nicht genügend nationalbewusste (Ost-)Ukrainer benutzt, Anm. d. Übersetzerin), “Moskowiter”. Offen und verdeckt wurde den Menschen zudem von Staats wegen eine Intoleranz gegenüber Krimtataren und Juden aufgezwungen. Tatsache ist, dass es am Vorabend der Unabhängigkeit keine vollständig formierte Einheit gab, die man wenigstens unter Vorbehalt als ukrainische politische Nation hätte bezeichnen können. Im Grunde war die Bevölkerung der Ukraine lediglich durch das gemeinsame Territorium verbunden, während ansonsten unterschiedliche Mentalitäten sowie die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Konstrukten und kulturellen Welten erhalten blieb.

Einzig verbleibendes Konsolidierungselement, abgesehen vom territorialen, war die Illusion eines schnellen Auswegs aus Stagnation und Krise durch Abtrennung von der darniederliegenden UdSSR. Aber die Zukunft der neuen staatlichen Einheit wurde von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich gesehen, trotz der einheitlichen Bezeichnung “unabhängige Ukraine”. So erklärt sich auch die große Illusion, die das Referendum über die Unabhängigkeit im Dezember 1991 hervorgebracht hat – dass nämlich alle für das Gleiche gestimmt hätten. Rein formal gesehen trifft dies natürlich zu – den Tatsachen nach tut es das nicht. Das erkannte auch die postkommunistische Nomenklatura, die sich blitzschnell umorientierte und das Referendum entsprechend durchführte: gestützt durch Massenpropaganda, die in jeder Region unterschiedlich war und jedem das versprach, was er hören wollte. Das gewünschte Resultat wurde erreicht, aber eine politische Nation enstand auch auf diese Weise nicht. In jener Zeit wurden die Grundlagen für die Wahlmanipulationen geschaffen, die ihren Höhepunkt beim Referendum über die Verfassungsänderungen im Jahr 2000 erreicht haben. Eine ähnliche Technik der Anwendung doppelter und dreifacher Maßstäbe wurde bei allen Präsidentenwahlen angewendet, was die faktische Heterogenität der Bevölkerung weiter zementierte, zu keinem Konsens oder Kompromiss bei der Beantwortung der Frage nach der Nationsbildung führte und lediglich der Lösung tagespolitischer Aufgaben diente. So hat sich die Heterogenität in der unabhängigen Ukraine nicht nur zum Faktum verfestigt, sie ist sogar noch größer geworden. Etliche Regionen äußern praktisch keinen Willen zur Annäherung oder auch nur ein gegenseitiges Interesse. Das betrifft sowohl die kulturelle, als auch die wirtschaftliche Dimension. Infolge der wirtschaftlichen Krise und aufgrund fehlender Ansätze für eine Strukturbildung durch ein System [steuerlicher] Begünstigungen kann sich ein einheitlicher wirtschaftlicher Organismus nicht bilden. Schließlich haben die regionalen Nomenklaturen gleich in der ersten Etappe gegen eine Einmischung des Zentrums bei der Umverteilung des Eigentums in den jeweiligen Regionen Widerstand geleistet.

Die westliche Ukraine hat die tiefgreifende und schon nicht mehr rückgängig zu machende Russifizierung des Südens und Ostens nie angenommen. Darüber ist nie eine öffentliche Diskussion geführt worden; die Gesellschaft hat diesen realen Stand der Dinge nicht reflektiert. Und nicht nur das – sie hat auch keine gemeinsame, für alle Schichten (oder zumindest für eine Mehrheit) akzeptable Strategie ausgearbeitet, was man denn mit der nun einmal erklärten Unabhängigkeit und der durch diese implizierten politischen Einheit und Einheitlichkeit anfangen soll.

Es bleibt unklar, worauf diese Einheit basieren soll. Auf dem gemeinsamen Schicksal? Oder auf dem wirtschaftlichen Interesse? Existiert denn überhaupt ein gemeinsames wirtschaftliches ukrainisches Interesse? Auf Konsensformen irgendeiner Art? Es existieren nicht einmal die Mechanismen einer allgemeinnationalen Diskussion, die einen solchen Konsens erst erbringen könnte. Die ukrainische Gesellschaft bleibt gespalten. Auf der Sprache? Aber auf welcher – auf der Sprache der Mehrheit? Dem offiziellen Kiev ist immer noch nicht bewußt geworden, welche Rolle die ukrainische Sprache als Konsolidierungselement spielen könnte, und es betrachtet sie weiterhin formal und distanziert, ganz zu schweigen von der fast ausschließlich russischsprachigen – oder vielmehr sowjetischsprachigen – Kiewer Spießbürgerschaft. Für Kiew gilt nicht die These des russischen Politologen Sergij Tschernyschow, derzufolge Russland vor allem durch die russische Sprache konstituiert wird, nicht durch das Territorium, die polyethnische, polykulturelle Bevölkerung, und schon gar nicht durch die eine oder andere administrative Struktur. Dagegen ist für die Regierung des “Gosudarstwo Ukraina” (russ. für “Staat Ukraine”, d. Übers.) nur die These aktuell, dass Staat gleich Verwaltung sei.

Gleichzeitig kann sich eine solch heterogene Bevölkerung, die über keinen gemeinsamen Sprach– und Informationsraum verfügt, nicht mit diesem Staat identifizieren. Dazu trägt sowohl die sprachliche Teilung des Landes in russischsprachige/surshyksprachige (surzhyk=“Makkaronisprache”, pejorativ familiärer Ausdruck für die vor allem in Kiew und der Ostukraine gesprochene Umgangssprache, die ukrainische und russische Elemente (je nach Person und Region in wechselnden Anteilen) kombiniert, Anm. d. Übersetzerin) und ukrainischsprachige/surzhyksprachige Bevölkerungsgruppen bei als auch die Dominanz der russischen Massenmedien: Die meisten ukrainischen Bürger leben in Wirklichkeit in einem russischen Medien– und Informationsraum, beschäftigen sich mit den Problemen des russischen Staates und sind eigentlich, was den Informationsgrad betrifft, mehr “Russen” als “Ukrainer”. Längere Zeit nahm der überwiegende Teil der Gesellschaft den existierenden Stand der ukrainischen Unabhängigkeit noch nicht einmal formal zur Kenntnis (denn dazu gehören bestimmte Verpflichtungen und Einschränkungen), oder aber diese wurde als ein instabiler Übergangszustand bzw. als Imitation einer Unabhängigkeit rezipiert oder sogar mit eindeutiger Feindseligkeit abgelehnt. Das Staats-Projekt ist für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht von Bedeutung. Mehr noch – weder die Administration, noch die Gesellschaft haben ein von der Mehrheit akzeptiertes Projekt “Ukraine” entworfen: Es fehlt ganz einfach. Man kann von einem gewissen Mangel an “staatlichem Instinkt” sprechen, wenn so eine Terminologie für die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung zulässig ist.

Deshalb ist es sehr wichtig, zur Formierung irgendeiner gemeinsamen Basis in der Ukraine Mechanismen einer Zivilgesellschaft zu schaffen. Es sollte eine Gesellschaft sein, die den realen Zustand zur Kenntnis nimmt, an Zukunftsvisionen arbeitet, ihre Diskussionen artikulieren kann, reale politische und öffentliche Mechanismen besitzt, um den von ihr ausgearbeiteten Konsens mit Leben zu erfüllen. Leider sinkt das Aufbautempo der ukrainischen Bürgergesellschaft, wenn es nicht schon überhaupt stagniert. Es hat eine wesentliche Gewichtsverlagerung in Richtung eines oligarchischen Verwaltungsmodells gegeben, in dem ein Machtzweig dominiert, der in der Institution des Präsi- dentenamtes verkörpert ist.

Als eine Basis für den Aufbau des Staates könnte zweifellos die Wirtschaft dienen. Von der UdSSR erbte die Ukraine keinen einheitlichen Mechanismus, oder eine Wirtschaft, die effektiv mit anderen wirtschaftlichen Systemen kooperierte. Der wirtschaftliche Kollaps in den postsowjetischen Ländern, der Zusammenbruch der Kooperation mit den ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, die beabsichtigte, aber nicht realisierte Konversion der Militärindustrie haben die ukrainische Wirtschaft fragmentiert. Die ukrainische Wirtschaft funktioniert nicht. Der Grund ist nicht nur, daß ihre Produkte nicht gebraucht werden und nicht konkurrenzfähig sind, sondern auch, dass in der Ukraine nur Bruchstücke früher einheitlicher technologischer Kreisläufe verblieben sind. Diese in den Grenzen der Ukraine vollständig wieder herzustellen, gelang ebenfalls nicht.

Parallell läuft in den letzten Jahren der Prozess der faktischen Deindustrialisierung des Landes weiter. Die Weltwirtschaft befindet sich in einem Übergangsprozess zur postindustriellen Phase und entwickelt eine Informationswirtschaft und -gesellschaft. Rohstoff– und Schwerindustrie, die in der Ukraine dominierten, haben kein Exportpotential. Die hochentwickelten Industriezweige, die auf die Produktion von Waffen, Frachtflugzeugen und auf die Weltraumtechnik ausgerichtet sind, sind mit verschiedenartigen Export– und Importbeschränkungen und anderen politischen Prioritäten konfrontiert. Man bekommt den Eindruck, dass die “strategischen Partner” der Ukraine in Wirklichkeit nicht an der Erneuerung ihrer hochentwickelten Technologien interessiert sind, sowohl aus strategischen (Gefahr des militärischen Potentials, das der Gegner verwenden könnte), als auch aus Konkurrenzgründen (ein ernster Konkurrent auf dem Weltmarkt der Waren und der Arbeitskraft).

Dagegen könnte der “geopolitische Übergangscharakter” der Ukraine eine gute Basis für den Aufbau der Wirtschaft eines effektiven Staates werden. Wenn sich die Ukraine im militärischen Sinne praktisch zwischen zwei einander gegenüberstehenden Gruppen in Zentral– und Osteuropa befindet, nämlich zwischen NATO und Taschkentvertrag (eine Gefahrenquelle), so liegt sie im wirtschaftlichen Sinne zwischen der EU und Russland mit seinen Satelliten – riesigen Märkten, Industrie– und Rohstoffbasen. Durch das ukrainische Territorium verlaufen (oder werden in Zukunft verlaufen) die wichtigsten Verkehrs– und Warenströme zwischen West und Ost (EU-Russland-Mittelasien-Ferner Osten) sowie Nord und Süd (EU-Kaukasus-Mittelasien). Eine potentielle Möglichkeit bieten die Projekte, die mit dem Erdöl– und Erdgastransport vom kaspischen Raum, von Nordeuropa und aus dem Fernen Osten verbunden sind. Die beiden Großregionen sind an der Ukraine interessiert: wenn nicht an ihrer Kontrolle, so zumindest an einer Beteiligung an diesem europäischen Verkehrsknotenpunkt, der in bezug auf die geopolitische Transportbedeutung die größten Perspektiven in Europa hat. Nach den Einschätzungen des britischen Rendall-Instituts hat die Ukraine das höchste Transport-Transit-Rating in Europa – 3,11 Punkte. Im benachbarten Polen betragt diese Kennziffer 2,72 Punkte. Die Kennziffern geben Auskunft über die Entwicklung der Tranportsysteme und -netze, ihr Niveau und den Zustand der Infrastruktur.

1.3. Die Oppositionskräfte

Die Struktur der Oppositionskräfte ist ein Faktor, der die Bildung einer modernen ukrainischen Gesellschaft und “des Projektes Ukraine” beeinflusst. Diese Struktur ist nicht nur ein System der Oppositionen, sondern sie widerspiegelt auch die zukünftige eventuelle Neuverteilung der Macht oder Brüche in der Gesellschaft und im Staat. Die Neuverteilung der Macht im Zentrum oder Regionen erfolgt, wenn die Forderungen eines Teiles der Gesellschaft oder einer politischen Strömung nicht erfüllt werden. Falls sich aber die Unzufriedenheit in den geographischen Regionen lokalisiert, könnte dies zu regionalen Autonomie– oder sogar Separationstendenzen führen. Momentan findet in der Ukraine der Prozeß einer maximalen Machtkonzentration statt. Die staatliche Administration mit dem Präsidenten an der Spitze hat aus der vorherigen Periode der faktischen Doppelmacht (Präsident gegen Parlament) ihre Konsequenzen gezogen. Die Justiz hat sich leider nach wie vor von der Bevormundung durch die Staatsmacht nicht befreit und sich nicht zu einem selbstständigen Zweig dieser Macht entwickelt. Nachdem im Winter 2000 in der Werchowna Rada eine parlamentarische Mehrheit entstand, wurde damit auch die kommunistische Opposition erstickt. Es scheint aber, dass damit gleich jegliche Opposition überhaupt abgeschafft wurde. Die Präsidentenadministration festigte ihre Position und es besteht die Gefahr, dass sie dadurch nicht nur ihrem Image bei den westlichen Partnern schadet, sondern auch die Vorausetzung für ihre eigene Unstabilität schafft, denn sie repräsentiert nicht das ganze Spektrum der regionalen Eliten. Sie repräsentiert haupsächlich die alt-neue Kiever Bürokratie, die Dnipropetrowsker Gruppe] sowie einige Vertreter loyaler regionaler Eliten. Aber damit nicht genug: Sie kontrolliert darüber hinaus die Bildung von Macht– und Wirtschaftseliten in den Regionen, die in der Administration nicht vertreten sind. Das System der Großkapitalbildung in den Regionen selbst schließt praktisch jede Möglichkeit einer Unabhängigkeit von der Zentralmacht aus. Einerseits versuchen die “Oligarchen” im Zentrum und in den Regionen an die Macht zu kommen, andererseits aber könnten sie ohne Erlaubnis und gute Beziehungen zur Macht gar nicht existieren.

Diese vollständige Abhängigkeit von Kiev steht natürlich im Spannungsverhältnis zu den Interessen der regionalen Eliten, die aus den regionalen Nomenklaturen hervorgegangen sind. Von Zeit zu Zeit sieht sich der Präsident gezwungen, den lokalen Nomenklaturseparatismus zu zügeln und seine Statthalter in die Regionen zu schicken. Gegenwärtig ist dieser Prozess praktisch abgeschlossen. Dazu gehörte eine Reform der Gesetzgebung – die Institution der Vorsitzenden der Staatlichen Administrationen [Art Statthalter des Präsidenten, d. Übers.] wurde mit einer verfassungsmäßigen Grundlage ausgestattet – und eine zielorientierte Personalpolitik. Ergebnis war eine straff organisierte exekutive Vertikale vom Präsidentenamt bis hinunter in die politischen Bezirke. Auf diese Weise bildete sich in der Ukraine eine oligarchische Regierungsform, die die Bildung einer Bürgergesellschaft hemmt und die ukrainische Wirtschaft jeder Perspektive auf eine effektive Reform beraubt. Die Oligarchen verschiedener Niveaus blockieren den zivilisierten Eintritt der ukrainischen Wirtschaft in den Weltmarkt.

Eine unzweifelhafte Opposition zur existierenden Machtstruktur bilden die Dissidenten der sowjetischen Zeit, die nach einem mehrjährigen Flirt mit der Macht zur Zeit praktisch unbedeutend sind. Das betrifft sowohl die “Patrioten” als auch die “Demokraten”. Im neuen Staat ist für sie kein Platz; ihre Schuldigkeit haben sie nach Meinung der postsowjetischen Nomenklatur schon getan. Der Flirt der Ära Krawtschuk ist zu Ende. Die Nomenklatur hat ihren Transformationsprozess erfolgreich absolviert und braucht keine “Deckung” mehr.

Ueber ein offensichliches oppositionelles Potenzial verfügt die Westukraine. Momentan haben Verzweiflung und Frustration der Bevölkerung dieser Unzufriedenheit nicht die Möglickeit gegeben, konkrete Formen anzunehmen. Aber die Unzufriedenheit exisitiert und nimmt zu. Zur Milderung der Spannung gelang es der Administration über längere Zeit, hyperpatriotische Stimmungen zu bedienen und so die Illusion zu schaffen, dass der neugebildete politische Organismus eine Verkörperung eben jener ukrainischen Staatsidee sei, die die Westukraine in den vergangenen hundert Jahren bewahrt hat. Nun aber wird es immer offensichtlicher, dass dies nicht zutrifft und daß die Rolle dieser Region nicht nur unbedeutend ist, sondern darüber hinaus im ukrainischen Staat künstlich vermindert wird. Auch in anderen Regionen finden ähnliche Prozeße statt. Eine Unzufriedenheit, die durch Frustration und administrative Maßnahmen unterdrückt wird, dominiert auf der Krim und in Odessa. Ein zweifelloses oppositionelles Potenzial besitzen auch überwiegend russisch/surzhyksprachige Regionen sowie ethnische Enklaven – tatarische, ungarische, rumänische.

2. “Die gestohlene Ukraine”

Somit ist die ukrainische Unabhängigkeit ein gemeinsames Kind der postsowjetischen kommunistischen Nomenklatur, die zuerst heimlich, dann immer lauter ihren ausschließlichen Anspruch auf die “Region Ukraine” zum Ausdruck brachte, und der konservativen oder traditionellen ukrainischen Patrioten.

Zu einer Banalität der Zeit der Unabhängigkeit wurde der Verweis auf den Referendum über Unabhängigkeit und seine Ergebnisse. Wenn wir hier einmal von den Methoden der Stimmenauszählung absehen, die in den meisten Wahlkreisen unverändert geblieben sind, sollten wir überlegen, wofür tatsächlich abgestimmt worden ist. Fast alle haben abgestimmt – aber, wie es oft bei Revolutionen passiert, nicht dafür, was sie eigentlich wollten und dafür, was sie schließlich bekamen.

Die einen haben traditionell für hyperpopulistische Slogans nach dem Muster “Nomenklatura weg vom Futtertrog” gestimmt, ohne ein positives Projekt damit zu verbinden, außer einer Scharikow–Ideologie (Anspielung auf eine Figur aus dem Roman “Hundeherz” von Michail Bulgakow, Anm. d. Übers), die eigentlich ganz einfach folgendes bedeutete: “Alles verteilen”. Es war noch einmal ein Versuch, das Paradies auf Erden zu realisieren, nun aber nicht mehr im Rahmen des mißlungenen Projekts UdSSR, sondern bescheidener im Rahmen des “Territoriums Ukraine”. Die anderen haben für dasselbe gestimmt, nur in der archaischeren oder konservativeren Form eines “Paradieses in einem Land” unter dem Titel Ukraine, wo sofort, laut den Prognosen der Deutschen Bank, blühende Landschaften entstehen sollten. In diesem Falle stimmte man für eine weitere Utopie, in der Überzeugung, dass man nicht mit Schweiß und Blut, sondern mit einer einfachen Abstimmung das Paradies erreichen könne. In der Ukraine jedoch entstand keine moderne “vorgestellte Gemeinschaft” (Benedict Anderson), wie “vorgestellt” sie auch sein mag. Die unterschiedlichen Gruppen und Regionen haben sich nicht anhand einer einheitlichen Konzeption, die für alle akzeptabel wäre, konsolidiert.

3. “Gosudarstwo Ukraina”

Die Nomenklatura übernahm die nationalen Parolen der “patriotischen” oder “demokratischen” Kräfte und sicherte sich so die Macht in der Ukraine, was ihr eine gewisse Atempause verschaffte. Das gab ihr Zeit, um Kräfte und Kapital umzugruppieren und die Kontrolle über vorher staatliches Eigentum zu erlangen, was sehr treffend als “Prichwatisazija” (von russ. Priwatizazija = Privatisierung und russ. prichwatitj = sich aneignen, d. Übers.) bezeichnet wurde. Sie beherrscht die gesamte Wirtschaft. Ein Teil der “alten Kader” ist in der Staatsverwaltung verblieben, aber nicht wenige sind ins “bisnes”, das neue Unternehmertum, gewechselt. Es macht jedoch keinen Sinn, hier großartig zu unterscheiden: praktisch bildet diese Gruppe nach wie vor ein Ganzes. Als Bindeglied tritt hier die Staatsverwaltung auf, die alles kontrolliert, was im angeblich privatisierten Wirtschaftssektor passiert.

In einer Reihe vorwiegend westukrainischer Verwaltungsbezirke ist es dagegen für eine kurze Zeit gelungen, als Übergangsformen schwachentwickelte demokratische Regierungen zu konstituieren, deren Verwaltungspraxis allerdings eher einer Abwesenheit jedweder Macht nahekam. Sie wurden von den ukrainischen konservativen Patrioten getragen. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit mischte sich Kiew nicht maßgeblich in regionale Angelegenheiten ein. In jener Zeit tobte der Hauptkampf um die Hauptstadt und damit um den gesamten Staat. Im Gefolge der dann vollzogenen Umstrukturierung der Machtverhältnisse, der Akkumulation großer Kapitalmittel und der Marginalisierung regionaler Eliten verloren schließlich auch die ukrainischen konservativen Patrioten in der Westukraine ihre Macht. Momentan kontrolliert Kiew praktisch die gesamte politische Machtausübung. Das kann man natürlich auch als gewisse Errungenschaft bezeichnen, denn es wäre wesentlich schlimmer, wenn die Regierung die Situation überhaupt nicht unter Kontrolle hätte, wie es in Albanien der Fall war, und damit Staat und Gesellschaft als solche endgültig zerstört würden. Allerdings besteht die wirkliche Frage darin, welches Maß an Vollmachten das Zentrum haben sollte und welches die Regionen – und ob nicht die volle Usurpierung der Machtausübung durch einen einzigen Zweig, nämlich die Präsidialverwaltung, zum Autoritarismus führen wird. Schließlich ist zu fragen, ob dies nicht im Endeffekt auch dem Staat als Ganzem schaden wird und ob die extreme Zentralisierung nicht gerade zur Stärkung von regionalistischen und separatistischen Stimmungen in den Regionen führt.

Das Problem liegt nicht nur in Kiew. Die Hauptstadt handelt methodisch und pragmatisch, wenn auch ausschließlich zum eigenen Nutzen. Die “National-Patrioten” konnten die Macht nicht halten. Seit der Enstehung des Staates herrschte ein verdeckter Krieg zwischen patriotischen und demokratischen Ex-Dissidenten, zwei Flügeln einer einst einheitlichen politischen Bewegung. Die vermeintlich dringlichste Aufgabe – die Erhaltung der Staatlichkeit in welcher Form auch immer – rechtfertigte die Verdrängung des demokratischen Flügels, der sich durch Betonung von Menschenrechten und demokratischen Werten auszeichnete, von der politischen Szene. Die “National-Patrioten” waren bereit, nicht nur die Demokratie zu opfern, sondern auch mit der Nomenklatura zu kollaborieren. Das führte zu ihrer vollständigen Degenerierung und schließlich auch zu ihrer Entfernung aus der Macht, bei deren Ausübung sie aber allenfalls eine dekorative Funktion erfüllt hatten.

Zu einer üblichen Erscheinung des postsowjetischen Raumes ist die Kriminalisierung fast aller Lebensbereiche, insbesondere der materiellen Sphäre, geworden. Sie ist ein gemeinsames Produkt der Nomenklatura, die ehemals staatliches Eigentums unkontrolliert umverteilte, und der “gewöhnlichen” Kriminellen, die von der Nomenklatura instrumentalisiert wurden, aber auch ihre eigenen Ansprüche auf einen Anteil am verteilten Gut anmeldeten. Auch die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, die nichts vom Kuchen abbekamen, hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Mit der Anteilsschein-Privatisierung kaufte sich die Nomenklatura beim Volk frei und entzog ihm gleichzeitig auch die formellen Belege, um seinen Anteil bei der Verteilung des “Volkseigentums” einzufordern. So wurde die verarmte Bevölkerung zum Rekrutierungsfeld der kriminellen Welt, und immer größere Teile der Gesellschaft gleiten in die geschlossenen Kreisläufe dieser Sphäre ab.

Die nachlassende Kontrolle über staatliches Eigentum, insbesondere in den traditionell gewinnbringenden Bereichen, führte im gesamten postsowjetischen Raum zur massenhaften Aneignung von Staatseigentum. Im Ergebnis enstand in der Ukraine eine Situation, in der sich ca. 20 “Familien” (Oligarchen-Clans) vier Fünftel des vorherigen “Volkseigentums” angeeignet haben, während dem Rest der Bevölkerung beim Kampf ums physische Überleben ein Fünftel übriggelassen wurde. Und es gibt keine Garantien, dass nicht auch dieses Eigentum zugunsten der zwei Dutzend Clans verteilt wird. Nun wäre es ein Fehler zu behaupten, dass die Anteilsscheinprivatisierung sich [für die Initiatoren] nicht gelohnt hätte und nicht das beabsichtigte Resultat erbrachte. Ganz im Gegenteil: Sie hat jegliches Interesse der angeblich zu “Eigentümern” gemachten Ukrainer an solchen Prozessen zuverlässig abgetötet. Der Großteil der Bevölkerung hat seine Anteilszertifikate zu einem Spottpreis verschenkt. Man hat sich vom Volk losgekauft und ihm dafür nichts gegeben, und nun kommt die Zeit, auch das zu verteilen, was noch nicht verteilt worden ist, vor allem solch attraktive Wirtschaftszweige wie die Energiewirtschaft.

Im Trubel dieses großangelegten Nomenklatura-Diebstahls wurden ganze Industriezweige der Ukraine zerstört oder zum Spottpreis verschachert. Was war die Aufteilung und die Verrechnung des Besitzes der Schwarzmeer-Handelsflotte gegen geringfügige Schulden, praktisch ihre Vernichtung, wert? Ganze Hochtechnologie– und Militärindustriebranchen existieren nicht mehr. Faktisch hat dies zu einer Deindustrialisierung des Landes geführt. Unmittelbar damit verbunden ist die Deintellektualisierung der Ukraine. Da ein Großteil der Industrie stillgelegt wurde und nach zehn Jahren Ausplünderung und moralischer wie physischer Vernichtung keine Erneuerung gewärtigen kann, haben Ingenieure und Techniker ihre Qualifikation verloren oder sich umqualiziert: sie arbeiten nun als Kleinhändler auf den allgegenwärtigen “Basaren”. Dasselbe kann man von der Wissenschaft sagen, die weder Finanzierung noch Forschungsaufträge hat. Junge und begabte Wissenschaftler haben schon längst ihren Platz im Ausland gefunden. Einige freundlich gesinnte Staaten und “strategische Partner” dünnen durch diverse Immigrationsprogramme (wahrscheinlich im Geiste der Ukrainehilfe) das übriggebliebene intellektuelle Potential noch zusätzlich aus. Zweifellos gibt es auch einige Erfolge, doch sie liegen alle im humanitären Bereich. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung und der neuen Technologien jedoch gehört die Ukraine weder zu den Ländern, die solche Technologien entwickeln und beherrschen, noch zu jenen, die sie nutzen – sie gehört zu den Ländern, die abseits vom technischen Fortschritt stehen.

Die soziale Instabilität führt auch zu negativen demographischen Entwicklungen. Das schwache bzw. noch nicht einmal mehr auf dem Niveau der Sowjetunion existente Sozialsystem hat eine krassen Senkung der durchschnittlichen Lebenserwartung und der Geburtenrate sowie Massenmigrationsbewegungen zur Folge. Ökonomische Faktoren sind hier vorrangig die Ursache, aber auch die Unmöglichkeit, eigene Lebensentwürfe in der Ukraine zu realisieren. Einige Migrationsströme sind auch ethnisch gefärbt (wie z. B. die Auswanderung der ukrainischen Juden oder die Rückkehr der Krimtataren), wurden aber nicht durch Xenophobie ausgelöst. Als besorgniserregende Bilanz der vergangenen 10 Jahre mag die Tatsache gelten, daß ca. 400.000 Frauen im gebärfähigen Alter die Ukraine verlassen haben – sie suchen ihr Glück oder Unglück im Ausland. Im Ergebnis steht die Ukraine vor einem realen Bevölkerungsschwund: verschiedenen Berechnungen zufolge hat sie bis zu zwei Millionen Einwohner verloren.

Das Hauptziel der Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates sollte die Förderung der Entwicklung des ukrainischen Ethnos sowie die Unterstützung der nationalen Minderheiten bzw. die Sicherstellung ihrer Rechte sein. In Wirklichkeit jedoch geht ungeachtet der Versicherungen interessierter und nicht allzu kompetenter Funktionäre der Denationalisierungsprozess der Ukrainer und anderer Völker unter Einsatz moderner technischer und medialer Mittel rapide weiter. Man nennt diesen Prozeß oft “Russifizierung”. Das trifft zu, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es genügt, einen Gang durch die Straßen zu machen – vielleicht nicht einmal im [fast ausschließlich russischsprachigen, d. Übers.] Sewastopol oder Donezk, sondern in unserer Hauptstadt Kiew. Im 10. Jahr der Unabhängigkeit haben wir eine praktisch ausschließlich russischsprachige Unternehmerschicht (nur ein verschwindender Teil jenes einen Prozents der Bevölkerung, das drei Viertel des Eigentums besitzt, ist ukrainischsprachig), ein russischsprachiges Militär (die Mehrheit des Offizierskorps bedient sich ausschließlich des Russischen), russischsprachige Massenmedien (die meisten TV-Programme laufen auf Russisch oder werden direkt aus Russland gesendet, die ukrainische Regierung hat keine Kontrolle über den strategisch wichtigen ukrainischen Informationsraum) und schließlich eine russischsprachige Staatsgewalt.

Ein solcher Zustand kann unmöglich nicht als Sicherheitsrisiko aufgefasst werden. Dabei würde ich einen Prozess, der auf Aneignung einer gepflegten russischen Hochsprache und der russischen Hochkultur hinausläuft, nie als “Russifizierung” bezeichnen. Etwas ganz anderes aber ist die faktische Dominanz russischer elektronischer und traditioneller Massenmedien in der Ukraine. Russland tut alles, um den bestehenden Status quo nicht nur zu erhalten, sondern ihn nach Möglichkeit auch noch tiefer zu verwurzeln. Als Kern des Konzeptes “Projekt Russland” wird eben oft die weitestmögliche Verbreitung des Gebrauchs der russischen Sprache und der russischen Massenmedien verstanden, was mit der praktischen Politik der Russischen Föderation übereinstimmt. Sergej Tschernyschow sprach im Rahmen eines Vortrags über Strategien der russischen Identitätsfindung vor dem russischen Sicherheitsrat von einem zukünftigen Russland als “transnationaler, weltumfassender Korporation Russland”, nicht nur als einem Territorium Russländische Föderation – ein Konzept, das “von der banalen These ausgeht, daß man die russische Sprache wiederbeleben sollte”; nur so könne man zu einer Konzeption für die nationale Sicherheit Russlands gelangen.

Parallel läuft der Prozess der Sowjetisierung und der unendlichen Reproduktion des homo sovieticus praktisch unbemerkt und aus Trägheit weiter. Vor unseren Augen vollzieht sich die Zerstörung der ukrainischen und anderer Sprachen, einschließlich der russischen. Genug, daß es uns nicht gelingt, neue Bereiche des menschlichen Lebens zu versprachlichen (so im Bereich der neuen Technologien) – wir verlieren auch die Tuchfühlung mit der alten ukrainischen Sprachwelt. Auf diese Weise sind innerhalb der ukrainischen und russischen Welt und Sprache, in denen wir leben, ganze “Zonen von Stummheit, Taubheit und Blindheit entstanden: Es gibt eine ganze Reihe von wichtigen Phänomenen in der modernen Welt, die wir nicht sehen können, oder aber wir finden keine Worte, um über sie zu sprechen. So wird auch die Muttersprache – der letzte Zufluchtsort der Selbstbestimmung – allmählich ausgewaschen”. Alle ethnischen Gruppen sind von dieser schleichenden Sowjetisierung betroffen, und darüber lagert sich eine Amerikanisierung der niedrigsten Sorte, die von den Massenmedien propagiert wird..

Unmittelbar nach der Erklärung der Unabhängigkeit gab es in der Ukraine keine feststehende Schichtung verschiedener Elitengruppen. Die Struktur der alten sozialistischen Wirtschaft ließ eine Bildung von Eliten und Elitennetzwerken im Rahmen territorialer Einheiten nicht zu. Es handelte sich eher um ein bestimmtes Produktionsprinzip von Elite und um die Bildung überterritorialer Verbindungen. Daher begann in der ersten Etappe nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaft und nach der Unterbrechung der übernationalen Verbindungen ein harter Kampf auf regionaler Ebene. Kiew war damals noch sehr weit entfernt und schwach. So entstanden etliche territoriale Clans: der Dnipropetrowsker, der Donbas-Clan, der Charkiwer, der Odessaer. Eine ganze Anzahl von Regionen jedoch schaffte es nicht, eigene territoriale Seilschaften herauszubilden. Nun ist dieser Prozess im Großen und Ganzen vollendet. Es gibt zwar einige größere Interessengruppen, aber Kiew, wo wiederum der Dnipropetrowsker Clan und die alte Kiewer Nomenklatura den Ton angeben, hat im Großen und Ganzen alles unter Kontrolle. Heute kann man von einer Konsolidierung der Clans und Oligarchen unter der Oberherrschaft des Präsidenten sprechen. Das schließt natürlich ständige Konflikte zwischen ihnen um die jeweils engste Nähe zum Präsidenten und seiner Administration nicht aus.

Ein wesentliches Moment in der Elitenbildung ist der enge Zusammenschluss von Regierung, Bürokratie und angeblich freiem Unternehmertum. In Wirklichkeit ist jeder Unternehmer stark abhängig vom Staat. Die mächtigsten Oligarchen können mit Hilfe des staatlichen Repressionsapparat ihres Eigentums beraubt werden. Wir sprechen hier nicht nur von P. Lasarenko als einem klassischen Beispiel solcher Abhängigkeit. Administrative Repressionen erlebt fast jedes effektive und rentable Unternehmen, das keinen Patron innerhalb des Staatsapparates hat. Somit werden Eigentum und Produktionspotenzial umverteilt und immer stärker monopolisiert. Es ensteht ein absolut perspektivloses Modell des Staatkapitalismus, der sich auf administrative Ressourcen und auf das staatliche Gewaltmonopol stützt.

Die Rolle der Oligarchie in einer so differenzierten Gesellschaft wie der ukrainischen kann man wie folgt beschreiben: Momentan ist sie zu einem effektiven Mechanismus geworden, der die Entwicklung von Marktwirtschaft und Bürgergesellschaft bremst und eine Gefahr für die staatliche Existenz der Ukraine darstellt. Deshalb sollte man sie als extrem reaktionäre Gruppe bewerten, die für das langsame, aber stetige Abgleiten der ukrainischen Gesellschaft in den monopolistischen Staatskapitalismus verantwortlich ist. Aus diesem Grund kann man die Handvoll Oligarchen, die der Macht nahestehen, als Stagnarchen bezeichnen, und ihre Regierungsform als Stagnarchie.

4. Das nationale Projekt in der langfristigen Perspektive

Mehrmals und symptomatisch hat Präsident Kutschma sowohl während seiner ersten als auch während seiner zweiten Amtszeit ein und denselben Satz wiederholt: “Was also bauen wir eigentlich auf?” Offensichtlich richtet er diese Frage nicht nur an sich selbst, sondern auch an die Gesellschaft. Mit seiner Frage liegt er vollkommen richtig, denn wer weiß in der heutigen Ukraine schon eine Antwort? In der Tat, was bauen wir auf? Die bloße Erklärung der Unabhängigkeit reicht hier überhaupt nicht. Die tagespolitischen Spielchen der Stagnarchenclans, die die aktuelle ukrainische Politik ausmachen, tragen nichts bei zur Öffnung langfristiger Perspektiven, die wir realisieren sollten – ebenso wie die kurzlebigen Pläne der National-Demokraten, die sich auf banalste Schlagworte reduzierten, keinerlei reale Perspektive hatten.

Um ein Projekt oder einen Plan zu entwickeln, braucht man vor allem die Zielsetzung. Gibt es ein einheitliches Ziel, das von den meisten ukrainischen Bürgern akzeptiert wird? Die mangelnde Konsolidierung dieser Gruppe macht es zweifellos sehr schwer, sich ihre Ziele bewusstzumachen und damit auch die Mittel, mit denen man diese Ziele erreichen kann. Ein mögliches Ziel für die erste Etappe wäre, einen Minimalkonsens in bezug auf allgemeinste Fragen zu erreichen. Aber dieser Konsens muss von allen Teilnehmern des “Projektes Ukraine” erarbeitet und akzeptiert werden. Wenn man keinen allgemeinnationalen Konsens erreicht, werden in jeder Region eigene “Subprojekte Ukraine” entstehen, die einander widersprechen werden. Im Moment stehen wir vor einer solchen Situation. Die Machthaber haben gelernt, dies geschickt auszunutzen, sprechen in jeder Region mit der jeweiligen “Zeichensprache” und verprechen jeder, genau ihr “Subprojekt” in die Tat umzusetzen. Das verschafft ihnen die Möglichkeit, die Konsolidierung der Bevölkerung verschiedener Regionen zu einem politischen Organismus, zu einer politischen Nation mit einem Ziel und Willen, dieses Ziel zu realisieren, zu verhindern. Und in dieser Situation allgemeiner Fragmentierung können sie umso besser ihre eigenen Probleme lösen.

4.1. Die russische Vision des “Projektes Ukraine”

Es wäre merkwürdig, wenn Russland kein eigenes “Projekt Ukraine” hätte. In der ersten Zeit der “Wirren” nach der Auflösung der Sowjetunion gab es in Russland praktisch überhaupt keine Vorstellung davon, was man mit der Ukraine anfangen sollte. Die Zeit für revanchistische Projekte war noch nicht gekommen, Russland befand sich noch in einem Schockzustand. Mehr noch – Boris Jelzin zeigte der Ukraine gegenüber sogar ein gewisses Wohlwollen, denn es war ja gerade die ukrainische Verselbständigung, die ihm an die Macht verholfen hatte.

Jedoch schon in der “spätjelzinschen” Periode des Heraustretens aus dem Demokratisierungsnebel (und nicht einer wirklichen Demokratisierung) kehrte Russland zu revanchistischen Projekten einer Wiederherstellung des Imperiums und neuer Expansionansprüche an die Ukraine zurück. In Russland begann man, ein eigenes “Projekt Ukraine” zu entwickeln, das natürlich den nationalen Interessen der Russländischen Föderation entsprechen sollte. Russland machte nun eine agressivere Außenwirtschafts– und Informationspolitik, die für die Ukraine einen fast vollständigen Verlust ihrer informationell-kulturellen Eigenständigkeit und zum Teil auch wirtschaftlichen Unabhängigkeit zur Folge hatte. Verantwortlich für letztere ist die andauernde Abhängikeit der Ukraine von russischen Energieträgern, die durch die pro-russische Erdöl– und Erdgaslobby in der Ukraine und die Russländische Föderation gestützt wird. Das russische “Projekt Ukraine” muss nicht unbedingt eine primitive Einverleibung der Ukraine durch Russland zum Ziel haben, wie es die russischen imperialen Revanchisten am liebsten sähen. Für Russland gehört die Ukraine zur eigenen Einfluss– Interessensphäre. Es versucht, die Ukraine in eine größtmögliche Abhängigkeit von der Russländischen Föderation zu bringen – ob dies nun Wirtschaft, Politik, Sicherheitsfragen oder sogar die ukrainische Identität betrifft. Zu diesem Zweck baut Russland seine Einflussgruppen auf den verschiedensten Niveaus und in den verschiedensten Bereichen auf – von den Massenmedien bis hin zur Wirtschaft. Wenn es nötig erscheint, blockiert es Maßnahmen, die diese Verbindung stören wurden – verwiesen sei auf das Beispiel des Erdölterminals in Odessa. Nicht weniger vielsagend ist das Quasi-Monopol Russlands auf Lieferung von Energieträgern in die Ukraine.

4.2. Die amerikanische Vision des “Projektes Ukraine”

Gleichzeitig wird allmählich auch das amerikanische “Projekt Ukraine” in Umrissen sichtbar. Die USA sind eindeutig an der Ukraine interessiert und geben ihr die Rolle einer Pufferzone zwischen der NATO und Russland mit seinen Satelliten. Sie verstehen hervorragend, daß es nicht zuträglich wäre, Russland durch eine Annexion der Ukraine zu stärken. Mehr noch – sie glauben, daß Russland sich nur dann zu einem demokratischen (und daher für die USA berechenbaren und nicht gefährlichen) Staat entwickeln kann, wenn es seine imperialen Ambitionen aufgibt.

Wahrscheinlich ist es sinnlos, von einer gemeinsamen westlichen Position zu sprechen. Es gibt aufgrund der Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und der EU, innerhalb der EU und innerhalb der NATO keine gemeinsame Position. Einen möglichen Weg für den Wiederaufbau der Ukraine sehen die USA in enger Kooperation, möglicherweise auch in einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft in ferner Zukunft sowie in einer (vielleicht durch die USA geförderten) Annäherung an die EU. Uber eine EU-Mitgliedschaft spricht man natürlich nicht, aber nach amerikanischer Auffassung sollte man sich in diese Richtung bewegen. Diese Position der USA ist für die Ukraine sehr günstig, und sie sollte dies zur Verwirklichung eines “euro-päischen” oder “euroatlantischen” Projekt nutzen.

4.3. Die EU-Vision des “Projektes Ukraine”

Man könnte an dieser Stelle allerdings auch von der Nichtexistenz eines EU “Projektes Ukraine” sprechen. Die EU hat derart viele innere Probleme und Sorgen, die mit dem Erweiterungsprozess verbunden sind, dass sie die “ukrainische Frage” nahezu übersieht. Freilich verschwindet ein Problem nicht dadurch, dass man die Augen vor ihm verschließt. Erst vor kurzem hat die Suche nach einem Platz für die Ukraine im sogenannten “gemeinsamen europäischen Haus” begonnen. Es hat sich unzweideutig gezeigt, daß uns kein Platz in der komfortablen EU freigehalten wird, sondern “nebenan”, oder genauer gesagt “zwischen” der EU und der Russländischen Föderation. Allen pro-europäischen ukrainischen Anstrengungen zum Trotz hält die EU bis heute an dieser Position unverändert fest. Und sie hat recht – ein staatsmonopolistisches “Projekt Ukraine”, das im Autoritarismus stagniert, lässt sich nicht ins “europäische Haus” integrieren. Offen bleibt dabei eine Frage: Darf man – wenn man einmal abstrahiert vom real existierenden “Gosudarstwo Ukraina”, jenem Parallelrussland oder Kryptorussland, das die Ukraine heute darstellt – der Ukraine generell jedwede europäische Perspektive nehmen? Aus diesem Grunde negiert die offizielle Position der EU auch nicht die europäische Zukunft der Ukraine, bindet diese aber an die vorher zu vollendenden zwei Etappen der EU-Erweiterung und an Veränderungen in der Ukraine selbst.

4.4. Die Oligarchie-Nomenklatura-Vision des “Projektes Gosudarstwo Ukraina”

Wie schon oben erwähnt, gibt es kein einheitliches “Projekt Ukraine”, das auf einem allgemeinnationalen Konsensus basiert. Dagegen existieren einige unterschiedliche Vorschläge zum “Projekt Ukraine”, die nicht nur weit voneinander entfernt sind, sondern sich sogar gegenseitig ausschließen. Das bedeutet aber wiederum nicht, daß keins dieser Projekte realisiert werden könnte.

Den realen Zustand in der Ukraine kann man als Vollendung des oligarchisch-nomenklatorischen “Projekt Ukraine” in der Form des “Gosudarstwo Ukraina” bezeichnen. Die Stagnarchie hat dieses Projekt realisiert und ist fast vollständig zufrieden damit. Sie hat die Macht behalten, hat darumherum das Staatsmonopol als ein eineitliches politisches Ganzes konsolidiert, hat den Übergang von der Plan– zur staatskapitalistischen Wirtschaft überstanden und ist gerade dabei, die Eigentumsumverteilung abzuschließen. Im Prinzip ist sie weder an der Abschaffung des Staatsmonopols noch am Aufbau einer Zivilgesellschaft interessiert, die für sie gefährlich werden könnte. Gleichzeitig hat die Stagnarchie alles getan, um die EU-Perspektive der Ukraine zunichtezumachen, die dem Projekt “Gosudarstwo Ukraina” ein Ende setzen würde. Die Stagnarchie ist an einer Zivilisierung der Wirtschaftspolitik in der Ukraine nicht interessiert, und entsprechend sollte man offizielle Erklärungen von einer “europäischen Wahl” der Ukraine auch nicht allzu ernst nehmen.

Das einzig beunruhigende Moment für die Stagnarchie ist, dass der Westen einen solchen Stand der Dinge nicht akzeptiert, auch wenn ihr gesunder politischer Zynismus den strategischen Partnern erlaubt, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Mängel des “Gosudarstwo Ukraina” zu übersehen. So unterstützten die USA zeitweise das Projekt “Gosudarstwo Ukraine” aus politischen, antirussischen und teilweise auch EU-feindlichen Motiven. Für die EU ist dieses Projekt inakzeptabel und unverständlich. Unter den nächsten Nachbarn verzichtet nur Polen, das eigene konkrete geopolitische Interessen in der Ukraine hat, auf eine diplomatische Distanzierung vom “Gosudarstwo Ukraina”, anders als Tschechien und die Slowakei.

Eine ähnliche Teil-Unterstützung genießt das Projekt “Gosudarstwo Ukraina” von russischer Seite, da es den Weg für die Reintegration Russlands und seiner Satelliten sowie der Ukraine freimacht. Freilich gibt es auch andere Tendenzen, die man nicht übersehen sollte: Ein Teil der ukrainischen Stagnarchen ist an einer Macht– und Eigentumsumverteilung zum Vorteil der mächtigeren russischen Oligarchen keinesfalls interessiert und wird daher die Reintegration mit Russland und die Annäherung mit der EU gleichermaßen sabotieren. Einen endgültigen Beschluss hinsichtlich der Entwicklungsrichtung – nach Osten oder nach Westen – kann es im Rahmen des Projektes “Gosudarstwo Ukraina” nicht geben. Es ist ja gerade das Wesen dieses Projektes, sich in keinerlei Richtung zu bewegen, weil dann die Spielregeln für die Machteliten geändert sowie das Eigentum und folglich auch die Macht umverteilt würden. Das westliche oder das russische Großkapital würde das schwächere Kapital der “neuen Russen” in der Ukraine vom Erdboden tilgen, ehe diese Zeit hätten, mit der Wimper zu zucken.

4.5. Vorschläge zum “Projekt Ukraine”

Trotz allem bleibt die Ukraine ein Problem. Ein Problem für sich selbst, da für die meisten ukrainischen Bürger der Stand der Dinge inakzeptabel ist. Einvernehmliches Schweigen bedeutet jedoch noch kein Einverständnis. Wenn die Gesellschaft sich auch weiterhin nicht verändert, sondern nur am Rande des Überlebens vegetiert, ist sie zum Untergang verurteilt. Es ist also trotz allem nötig, sich wenigstens konzeptülle Gedanken darüber zu machen, was zu tun ist, denn weiterleben kann man auf diese Weise nicht.

4.5.1. Das europäische Projekt

Eins der attraktivsten Projekte für einen Staat mittlerer Grösse wie die Ukraine könnte das europäische Projekt sein. Unter dem Vorbehalt, dass heute ein Beitritt der Ukraine zur EU unmöglich ist, könnte dieses Projekt darin bestehen, daß die Ukraine alle Lebensbereiche so eng wie möglich an die EU-Standards anpasst. Kürzlich hat die Ukraine ein auf sieben Jahre angelegtes Programm der Integration mit der EU angenommen – es hat eine praktische Anpassung an die EU-Richtlinien im Bereich der Gesetzgebung, der Wirtschaft usw. zum Ziel. Diese Annäherung an die EU soll mit maximal möglicher Unterstützung der USA und längerfristig auch der Bundesrepublik und Polens erfolgen. Der zeitliche Rahmen des Projektes wird durch die Effektivität der EU nach Vollendung der beiden Erweiterungsschübe bestimmt, daneben auch durch die möglichen politischen Konstellationen, die diesen Prozess entweder beschleunigen oder bremsen können.

4.5.2. Das Schwarzmeer-Mittelmeer-Projekt

Eine weitere Entwicklungsrichtung des “Projektes Ukraine” (vorausgesetzt, daß die Entwicklung des Projektes in Richtung EU blockiert wird und es bei seiner Entwicklung Richtung Russländische Föderation Komplikationen gibt) könnte die Entwicklung der Beziehungen Richtung Schwarzmeer– und Mittelmeerregion sein. Die Bildung der GUUAM (ein politisches Bündnis Georgiens, Usbekistans, der Ukraine, Aserbajdschans und Moldowas) kann als Vorspiel für dieses Projekt gelten. Es hat gute wirtschaftliche Perspektiven – vor allem den Transport und die Verarbeitung von Erdöl– und Erdgasprodukten aus der kaspisch-kaukasischen Region, eventuell sogar dem Nahen Osten. Allerdings besteht keinerlei Anlass, in diesem Projekt eine Ressource für die Demokratisierung zu vermuten. Die Ukraine ist schon jetzt praktisch Führungsmacht in diesem politisch-wirtschaftlichen Bündnis und könnte auf diese Weise günstige Positionen in der Organisation für Zusammenarbeit im Schwarzmeerraum besetzen.

4.5.3. Das russlandzentrische Projekt

Man sollte das “russlandzentrische Projekt” nicht vernachlässigen, womit aber nicht das Projekt gemeint ist, das Russland derzeit verfolgt, sondern ein genuin ukrainisches. Die Ukraine könnte versuchen, ihre Beziehungen mit der Russländischen Föderation entsprechend diesem Projekt eigenständig aufzubauen. Unter bestimmten, derzeit nahezu unrealistisch scheinenden Umständen, wenn beide Seiten zu einer wirklichen Verständigung kommen, kann dieses Projekt sehr effektiv sein. Dazu müssen sich aber sowohl Russland, als auch die Ukraine ändern. Zunächst müsste Russland auf sein imperiales Syndrom verzichten und keine taktische, sondern eine langfristige Lösung mit der Ukraine suchen, die auf der Existenz eines befreundeten Staates Ukraine, nicht eines ukrainischen Marionettenregimes beruht. Die Ukraine hingegen, sich von ihrer – nicht unbegründeten – Angst vor dem russischen Imperialismus befreien und aus der stagnarchischen Sackgasse herauskommen, in die sie sich selbst hineinmanövriert hat.

4.5.4. Das Pufferstaats-Projekt

Momentan wird eine Mischung von stagnarchischen und amerikanischen “Pufferstaatsprojekten” realisiert, die nicht nur in Washington, sondern auch in Kiev, allerdings ohne großen Nachdruck, geplant werden. Die strategische Partnerschaft mit den USA und Russland erlaubt den ukrainischen Stagnarchen ihren “Pufferstaat” zu realisieren, der sich in keinerlei Richtung bewegt und der sich als gesellschaftlicher Organismus nicht fortentwickelt. Für die USA ist übrigens die politische Ordnung ihres strategischen Partners von untergeordneter Bedeutung; für sie zählen die politischen und militärischen Verpflichtungen und die Treue der Ukraine als politischer Partner. Dies nützt Kiew geschickt aus. Es schmarotzt sozusagen auf seiner geopolitischen Ressource und konserviert auf diese Weise den aktuellen Stand der Dinge. Gleichzeitig kommt Kiew aber auch Russland nicht zu nahe und sichert sich so auch in dieser Richtung ein Stagnationsfeld.

4.5.5. Das Ostsee-Schwarzmeer-Projekt

Nahezu unrealistisch bzw. durch die Vereinigung von Russland und Weißrussland sowie die eindeutige pro-EU-Position der baltischen Staaten verunmöglicht erscheint derzeit das Ostsee-Schwarzmeer-Projekt. Gleichermaßen wurde Weißrussland als natürlicher strategischer Partner der Ukraine neutralisiert. Merkwürdigerweise ist dieses Projekt vollkommen aus dem Blickfeld geraten. Stattdessen wird über Polen, das sich in allen Parametern wesentlich stärker von der Ukraine unterscheidet, öfter gesprochen. Trotz der derzeitigen Situation in Weißrussland kann die weißrussische Ressource für die Ukraine durchaus noch von Bedeutung sein.

4.5.6. Das zeitgebundene “Projekt Ukraine”

Eine weitere Möglichkeit, die sich eröffnet, ist das Warten auf heranwachsende neue Generationen und auf den Abgang der alten Nomenklatura, deren spezifische Denkweise und Art, Beschlüsse zu fassen, dann von der politischen Bühne verschwinden wird. Die Jugend sollte über eine besser entwickelte staatsmännische und unternehmerische Erfahrung verfügen. Früher oder später ist es unvermeidlich, dass sie ihre Ansprüche auf die Macht erklären wird. Aber – wird eine solche Jugend derzeit herangebildet? Die meisten quälen sich mit den Alltagsproblemen einer stagnierenden Gesellschaft ab. Gleichzeitig haben Nomenklatura und Stagnarchen längst ein System zur Sicherstellung ihrer Nachfolge eingerichtet. Die sowjetische Nomenklatura hat die Oligarchie und die Stagnarchen hervorgebracht, und letztere “erziehen” wiederum Nachfolger, die am Verlust eigener Positionen und am Aufbau einer Bürgergesellschaft nicht interessiert sind. Dies kann die Entwicklung der Ukraine vollständig blockieren.

4.5.7. Das sprachliche Projekt Ukraine / “Projekt Ukraine-Sprache”

Dieses Projekt hat unter den Bedingungen des “Gosudarstwo Ukraina” nicht die geringste Perspektive; trotzdem sollte es erwähnt werden. Die ukrainische Sprache könnte als Konsolidierungselement einer potentiellen ukrainischen politischen Nation eine große Perspektive haben. Aber auch in der unabhängigen Ukraine, in der postkolonialen, faktisch sogar neokolonialen Periode unserer Geschichte ist sie gnadenlosen Repressionen ausgesetzt. Deshalb steht die Gesellschaft vor der Aufgabe, die Identifizierung mit der ukrainischen Sprache und die Ausbildung einer ukrainischen Weltsicht zu fördern. Eine effektive und eigenständige Identität auf Grundlage einer faktischen Zweisprachigkeit der ukrainischen Bevölkerung aufzubauen, ist angesichts des Drucks, der vom russischen neoimperialen Diskurs und von der neorussischen / russischsprachigen Identität ausgeht, unmöglich.

Man sollte also in Richtung dieser und vielleicht noch einiger anderer Entwicklungsmöglichkeiten des “Projektes Ukraine” arbeiten.

Für die Unabhängigkeit des neuen Staates Ukraine und für die Realisierung des “Projektes Ukraine” wurde fast kein Blutstropfen vergossen. Es ist also im direkten Wortsinne unschätzbar [Wortspiel mit ukr. bezcinnyj = ohne-Preis, d. Uebers]. Das Projekt hat keinen Preis, es wurde nichts dafür bezahlt – und deshalb wird es auch nicht angemessen geschätzt. Die Stagnarchie lebt von einem Tag auf den anderen. Den Hauptteil ihres Kapitals hat sie durch all die Jahre der Existenz des “Gosudarstwo Ukraina” vorsorglich im Ausland deponiert. Sie sind wie die Ratten, die bereit sind, das sinkende Schiff jederzeit zu verlassen. Den verarmten Massen, deren Anteil an der Gesamtgesellschaft ständig steigt, hat das Projekt “Gosudarstwo Ukraina” fast nichts gegeben, und deshalb bindet auch keine Emotion sie an dieses Projekt. Die sogenannte Mittelschicht hingegen kann sich in einer oligarchischen Nomenklaturgesellschaft erst gar nicht bilden.

aus dem Ukrainischen Sofia Onufriv

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N12 / 1998

20

2001